Der Grundstein des Erfolgs?
Vor rund 16 Jahren war der VfB Stuttgart im siebten Fußballhimmel angekommen. Mit der Deutschen Meisterschaft in der Saison 2006/2007 sicherte sich der Verein den bis heute letzten großen Titel, seither folgten turbulente Jahre samt Abstiegskampf und Zweitklassigkeit. Die damalige Identität der Schwaben: „Die jungen Wilden“, eine Achse aus unbekümmerten Talenten, die der VfB selbst ausbildete und in der Profimannschaft etablierte. Namen wie Mario Gomez, Sami Khedira und Timo Hildebrand hatten maßgeblichen Anteil am damaligen Erfolg ihres Jugendvereins. Blickt man auf die heutige Bundesliga, bietet sich nicht nur sportlich ein anderes Bild.
Da rund 46 Prozent der Spieler aus der Bundesliga-Saison 2022/23 aus Deutschland kommen, ist es wenig verwunderlich, dass deutsche Klubs die größten Ausbilder sind. Besonders die Nachwuchsleistungszentren (NLZ) der 18 Bundesliga-Vereine stechen hier heraus, die meisten aktuellen deutschen Spieler haben eine dieser Akademien schon einmal von innen gesehen. Das ist eine Folge der in den 2000er-Jahren eingeführten Kaderregeln für Vereine in den zwei höchsten deutschen Fußballligen.
Demnach müssen zwölf deutsche Spieler bei den Vereinen unter Vertrag stehen, dazu kommen seit der Saison 2008/09 acht sogenannte „Local-Players“. Diese müssen in Deutschland ausgebildet worden sein. Doch damit nicht genug, die Hälfte jener Spieler muss zwischen ihrem 15. und 21. Lebensjahr beim Profiverein aktiv gewesen sein. Damit will die Deutsche Fußballliga (DFL) den Nachwuchs in Deutschland stärken und Profiteams dazu zwingen, jungen Spielern eine Perspektive in der ersten Mannschaft zu bieten.
So ist eine Geschichte wie die von Marius Bülter nur noch ein Ausnahmefall. Der derzeit beste Scorer des FC Schalke 04 durchlief die Jugend des damaligen Regionalligisten Preußen Münster, schaffte den Schritt in den Herrenfußball in der fünften Liga beim FC Eintracht Rheine. Erst 2018 gelang ihm im Alter von 25 Jahren der Sprung in den Profifußball, nachdem er zuvor in den oberen Amateurligen für Aufsehen gesorgt hatte.
Viele Spieler im Ausland ausgebildet
Während die deutschen Vereine allesamt eine Reihe an Spielern ausbilden, gesellen sich derweil noch etliche ausländische Teams in das Jugendnetzwerk. Spieler aus dem Ausland schaffen es viel seltener in die Bundesliga, müssen sie dort ja erstmal für Aufsehen sorgen und entdeckt werden. Dazu kommt wohl auch, dass in ihrem Heimatland der deutsche Fußball nicht immer Ziel Nummer Eins ist. So ist es ein wiederkehrendes Muster, dass ausländische Vereine einen oder nur wenige Spieler gleichzeitig stellen.
Doch Ausnahmen bestätigen die Regel: Wenige Vereine aus dem Ausland – meist große, international bekannte Klubs – spielen bei der reinen Anzahl der ausgebildeten Bundesliga-Spieler ganz oben mit. So schafften es acht Spieler von Ajax Amsterdam in die benachbarte deutsche Profiliga. Ajax ist für seine gute Jugendarbeit weltweit bekannt, Spieler aus der Akademie der Niederländer daher heiß begehrt – auch wenn sie, wie Union Berlins Topscorer Sheraldo Becker, aufgrund der hohen Konkurrenz nicht dort den Durchbruch schaffen konnten.
Franzosen im Trend
Doch die meisten ausländischen Spieler kommen nicht aus deutschsprachigen Ländern wie Österreich oder der Schweiz: Frankreich hat mit 37 Spielern (13,8 Prozent) den zweitgrößten Anteil an den Bundesliga-Kadern. Paris Saint Germain (neun Spieler) und die AS Monaco (sechs) spielen bei den insgesamt ausgebildeten Spielern in der Bundesliga ganz vorne mit. Einige Vereine schätzen die individuelle Ausbildung junger Spieler im Nachbarland und bedienen sich daher oft am dortigen Talente-Pool. So auch der VfB Stuttgart, der einige seiner Spieler aus Frankreich geholt hat – junge Akteure, die den hiesigen Talenten frei nach dem Leistungsprinzip den Rang abliefen.
Stuttgarter Wehen
Denn seit der Meisterschaft 2007, die mit vielen Eigengewächsen im Kader gewonnen wurde, ist der Sturm an eigenen Talenten im Profikader immer weiter abgeflaut. Immerhin: Mit 14 ausgebildeten aktuellen Bundesliga-Spielern, die mindestens einen Einsatz im Oberhaus vorzeigen können, ist der VfB Stuttgart der ausbildungsstärkste Verein der Liga. Karrieren von internationalen Stars wie Timo Werner, Antonio Rüdiger und Joshua Kimmich lassen sich allesamt auf den Startpunkt in Stuttgart zurückführen. Doch jene Spieler haben längst in der großen weiten Welt Erfolge gefeiert, abseits des VfB. Im eigenen Kader sieht es dünner aus.
Lediglich vier Spieler mit Bundesliga-Einsatz aus der VfB-Jugend stehen noch im Stuttgarter Kader, in den 2000er Jahren waren zweistellige Anzahlen am Neckar keine Seltenheit. Die Eigengewächse – Thomas Kastanaras, Lilian Egloff, Antonis Aidonis und Laurin Ulrich – kommen in der aktuellen Saison auf insgesamt 310 Spielminuten. Das sind unter drei Prozent der möglichen Spielzeit. Ein Zustand, der im als Ausbildungsstandort bekannten Verein für Unmut sorgt. „Für mich ist es der Stuttgarter Weg, wenn es gelingt, jedes Jahr aus der eigenen Jugend Spieler in den Lizenzspielerkader zu integrieren“, sagte Vorstandsmitglied und früherer VfB-Jugendtrainer Rainer Adrion der Stuttgarter Zeitung. Man habe in das NLZ viel Geld investiert, da sollten die anklopfenden Jahrgänge die nötige Qualität haben. „Ich bin zuversichtlich, dass wir in den nächsten zwei bis drei Jahren wieder eigene Talente in der VfB-Startelf sehen“, ist VfB Nachwuchschef Thomas Krücken gegenüber der StZ optimistisch.
Gute Jugendarbeit bedeutet nicht zwangsläufig Erfolg
Die reine Anzahl der ausgebildeten Bundesliga-Spieler erzählt aber noch nicht die ganze Geschichte. Gute Nachwuchsarbeit zeigt sich, wie so vieles im Fußball, auch durch die individuelle Qualität. Da diese positions- und rollenübergreifend schwer zu definieren ist, werden hier die einzelnen Marktwerte der Spieler an ihren Höhepunkten betrachtet. Die wertvollsten Spieler, also jene, deren Marktwertverläufe einen Höchststand von mindestens 60 Millionen Euro aufweisen, kommen aus der Jugendabteilung des FC Bayern und des VfB Stuttgart (jeweils zwei Spieler) sowie vom VfL Bochum, dem FC Schalke 04 und dem 1. FC Köln (jeweils ein Spieler). Auffällig ist hier, dass — bis auf die Bayern — alle Mannschaften in den unteren Bereichen der Tabelle stehen und in den vergangenen Jahren auch diverse Saisons in der 2. Bundesliga verbracht haben. Drei dieser Vereine finden sich auch in dieser Saison im Abstiegskampf wieder, der vierte (Köln) ist ebenfalls in der unteren Hälfte der Tabelle zu finden. Der Unterschied zum FC Bayern erklärt sich dadurch, dass die Top-Nachwuchsspieler dieser abstiegsbedrohten Klubs ihre Vereine verlassen müssen, um die ganz große Karriere hinzulegen und die Marktwerte meist erst im Anschluss in die Höhe schießen. Zudem sind diese Klubs auch deutlich stärker auf Transfererlöse angewiesen als die Bayern, die finanziell in ihrer eigenen Liga spielen.
Zehn der 17 wertvollsten Spieler der aktuellen Bundesliga-Saison stammen aus dem Ausland. Heißt also: Die Klubs bilden zwar den Großteil ihrer Spieler selbst aus, wer sich aber im obersten Regal bedienen und (Nachwuchs-)Kicker von ganz besonderer Qualität verpflichten möchte, wird zumeist in den anderen europäischen Ligen fündig, beispielsweise bei Klubs wie Paris Saint-Germain oder Ajax Amsterdam.
Marktwert-Meister, aber kaum Eigengewächse
Eine Preiskategorie tiefer sieht das Bild etwas anders aus. Nur drei Vereine konnten drei Spieler oder mehr mit einem Höchstmarktwert von mindestens 20 Millionen Euro hervorbringen: Borussia Dortmund, Hertha BSC und wieder der FC Bayern. Demnach ist der deutsche Rekordmeister aus München eine der Top-Ausbildungsstätten des Landes, auch wenn ihm das in der öffentlichen Wahrnehmung nur selten attestiert wird. Denn: Im Kader der Münchner finden sich nur wenige Eigengewächse, die meisten von ihnen spielen zudem nur eine nebensächliche Rolle. Die Chancen auf Spielminuten ist bei anderen Vereinen höher, weswegen ein Großteil der Bayern-Akademieabgänger sein Glück woanders versucht — meist bei der Ligakonkurrenz. Zum gesetzten Stammpersonal aus dem eigenen Nachwuchs zählt lediglich der 121-fache Nationalspieler Thomas Müller.
Doch wie kommt es, dass die Bayern zwar regelmäßig überdurchschnittliche Jugendspieler hervorbringen, den meisten jedoch nie der Durchbruch als Leistungsträger in der eigenen Profi-Elf gelingt? Vermutlich daher, dass der amtierende Deutsche Meister den höchsten Selbstanspruch der gesamten Liga hat. Kein anderer deutscher Klub definiert seinen Erfolg Saison für Saison derart stark über sein Abschneiden auf der europäischen Bühne, zudem ist niemand in der Spitze und Breite derart gut aufgestellt. Während die meisten Bundesliga-Vereine den Vergleich zur nationalen Konkurrenz ziehen, geht es für den FC Bayern als zehnfacher Serienmeister besonders um die Champions League. Wer mit den Real Madrids, Liverpools und Manchester Citys dieser Welt mithalten will, benötigt dafür die Crème de la Crème des Weltfußballs — diese ist rar gesät und findet sich demnach selten im eigenen Nachwuchs.
Leipzig und seine „Farmteams“?
Es gibt aber auch starke, bewusste Vernetzungen unter den Vereinen. Ein treffendes Beispiel hierfür sind die Klubs, die zum Konstrukt des österreichischen Milliardenkonzerns Red Bull gehören. Dazu zählen neben dem deutschen Ableger RB Leipzig auch die New York Red Bulls, die zwei brasilianischen Vereine Red Bull Brasil und Red Bull Bragantino sowie der FC Red Bull Salzburg. Aufgrund des geringeren Qualitätsunterschieds und der kulturellen Nähe arbeiten insbesondere die beiden Vereine aus Leipzig und Salzburg zusammen — meist so, dass Spieler in der österreichischen Bundesliga Fuß fassen und dann den nächsten Schritt ins deutsche Fußball-Oberhaus wagen. RB Salzburg gilt als eine der Top-Ausbildungsstätten des gesamten Kontinents und versorgt die Bundesliga seit Jahren mit Qualität in Form von Spielern wie Karim Adeyemi (Borussia Dortmund) und Dayot Upamecano (FC Bayern).
Auffällig ist aber die von den meisten Fans kritisch beäugte enge Zusammenarbeit mit dem „großen Bruder“ aus Leipzig. Hier spielen mit Amadou Haidara, Dominik Szoboszlai, Konrad Laimer und Xaver Schlager gleich vier Produkte der Salzburger Nachwuchsarbeit. Gepaart mit den auffällig niedrigen Ablösesummen entsteht bei vielen also der Eindruck, RB Leipzig könne nicht nur auf die eigene Jugendabteilung zugreifen, sondern auch auf die aus Salzburg.
Doch das Bild, das sich in der Saison 2022/23 zeichnet, kann in den kommenden Jahren durch Transfers und starke Jahrgänge aus einzelnen Jugenden wieder komplett anders sein. Jüngst gewann die U19 des FSV Mainz 05 die Deutsche Juniorenmeisterschaft. Einige der dortigen Spieler werden sich wohl bald Bundesliga-Spieler nennen dürfen und somit Mainz in der Rangliste der Ausbildungsvereine weiter nach vorne bringen. Auch beim gebeutelten VfB Stuttgart besteht Grund zur Hoffnung: Der erfolgreiche Jahrgang 2005 wird als enorm stark eingeschätzt und stellte 2022 bei der U17-Europameisterschaft fünf Stammspieler in der deutschen Nationalmannschaft. So kann es gut sein, dass auch beim VfB in der Zukunft eine neue Generation „Junge Wilde“ heranwächst.
Im Rahmen dieses Artikels haben wir eine umfassende Netzwerksanalyse samt Datenerhebung vorgenommen. Der Datensatz ist auf Github verfügbar.