„Wenn wir früher zu Beerdigungen gegangen sind, dann war eine Urnenbeisetzung etwas Besonderes. Heute ist das umgekehrt.“
Die letzte Ruhe unter Bäumen
Draußen ist es kalt, Nebel steigt die bewaldeten Hänge auf. Ich fahre Richtung Reichertshausen in der Nähe von Heidelberg. Immer links neben der Straße bahnt sich der Neckar so ruhig seinen Weg, man glaubt kaum, dass er sich überhaupt bewegt. Ich muss an meinen Cousin denken, der vor knapp zwölf Jahren überraschend verstarb – nur wenige Tage vor seinem 22. Geburtstag. Damals wusste keiner wie er beerdigt werden wollte. Warum ich gerade heute an ihn denken muss, hat einen Grund. Heute treffe ich zwei Menschen, die bereits seit zwei Jahren wissen, wie und wo sie ihre letzte Ruhe finden möchten. Maria und Karl Bracht treffe ich zu einem Spaziergang durch den „Ruhehain unter den Eichen“ bei Reichertshausen. Dort möchten sie später einmal bestattet werden. Ihre Stelle haben sie bereits ausgesucht und für sich reserviert. Maria lächelt mich an, Karl begrüßt mich herzlich. Die beiden sind bereits in Rente, aber keineswegs lebensmüde. „Wir haben auch noch einiges vor“, sagt Maria und schaut munter zu ihrem Karl, der ihr mit seinem Blick beipflichtet.
Auch wenn sie noch vieles gemeinsam erleben möchten, wollten sie ihren Verbleib nach dem Tod geregelt haben. „Für uns war das ein gutes Gefühl. Wir waren dann beide froh, dass wir das geklärt haben, dass wir wissen, was dann mit uns ist.“ erzählen sie mir, während wir auf laubbedeckten Pfaden wandern.
Das Laub raschelt bei jedem Schritt, um uns sind Bäume mit kleinen Metall-Tafeln in Form eines Eichenblattes, kaum größer als eine EC-Karte. Die Schilder sind mit Namen, Geburts- und Sterbedatum versehen, bis zu zehn Gedenkblätter an einem Baum. Bei den großen Bestattungswaldanbietern können mehr als zehn Urnen je Baum beigesetzt werden. Bis zu 20 Verstorbene können beim Anbieter „Friedwald“ ihre letzte Ruhe an einem Wurzelwerk finden. Die Urnen müssen für eine Waldbeisetzung biologisch abbaubar sein. Das ist bei allen Bestattungswäldern Pflicht. Mit der Urnenbestattung geht auch die Einäscherung des Verstorbenen einher. Für Karl war das anfangs eine ungewohnte Vorstellung: „Ich dachte immer, dass ich mal eine ganz normale Erdbestattung haben werde, aber inzwischen ist der Gedanke für mich in Ordnung.“
Ihre Wahrnehmung zeichnet sich auch in der Gesellschaft ab. Nur noch jede*r Vierte wünscht sich ein klassisches Grab, laut einer Umfrage der „Verbraucherinitiative Bestattungskultur“ Aeternitas aus dem Jahr 2019. Zunehmend beliebter werden Bestattungsangebote, die weniger Grabpflege benötigen und Konzepte außerhalb des Friedhofs. „Man hat ja auch eine Verantwortung gegenüber denen, die noch bleiben dürfen. Damit die später nicht die Verpflichtung haben, ein Grab pflegen zu müssen.“, sagt Maria, während Sonnenstrahlen die Wolken durchbrechen. Ein Wind weht durch die Laubbäume, deren Herbstblätter zu Boden sinken.
Maria hat lange das Grab ihrer Eltern gepflegt, immer wieder Blumen an Feier- und Gedenktagen vorbeigebracht. „Ich war aber nie eine große Friedhofsgängerin.“, betont sie. Ihre Wahrnehmung ist, dass ein Grab etwas von einem „Vorgärtchen“ hat. „Wer hat die schönsten Pflänzchen und bei wem ist es nicht richtig gepflegt?“ Mit einem Lachen ergänzt sie: „Aber man selbst ist dann ja genauso. Also wir gehen auch über den Friedhof und denken uns, dass man bei dem ein oder anderen mal wieder was machen könnte.“
Wir lachen kurz, bemerken dann aber eine schwarz gekleidete Menschentraube um einen Baum. Ein Redner spricht, keine Trauermusik ist zu hören und von auffälligen Blumengestecken ist nichts zu sehen. Auf Grabschmuck muss beim Bestattungswald verzichtet werden, weil das Erscheinungsbild des Waldes nicht verändert werden soll. Der Wald soll Wald bleiben. Der Wind spielt in den Ästen der Bäume und vereinzelt tönt eine Amsel aus dem Unterholz. „Es ist friedlich, nicht?“, flüstert Maria mir zu, während wir unseren Weg ändern, um die Trauergemeinde nicht zu stören.
Die Brachts kamen auf das Konzept der Waldbeisetzung durch Karls Schwester. Sie hat sich früh für eine Bestattung fernab eines Friedhofs entschieden. Auch sie hat einen Platz mit ihrem Mann im Ruhehain reserviert. Als wir an ihrem Baum vorbeikommen sagt Karl: „Dann sind wir irgendwann wieder zusammen.“ Die Brachts konnten sich keinen Platz mehr am Baum der Schwester und des Schwagers reservieren, da bereits sieben Verstorbene am Wurzelwerk des Baumes ruhen. Sie sind aber auf einen Findlingsstein ausgewichen, der in der Nähe des Baumes ist.
Im reichertshausener Ruhehain hat man die Wahl zwischen verschiedenen Bäumen, Natursteinen und Baumstümpfen. Auch andere Waldbestattungsunternehmen bieten solche Alternativen zum Baum. Das Konzept von „RuheForst“ bietet nicht nur zusätzlich Stümpfe, sondern auch Sträucher an. Die Preise variieren dadurch deutlich, auch die Lage oder die Größe des Baumes sind hierbei entscheidend. Einen Platz beim Anbieter „Friedwald“ gibt es zwar bereits ab 490 Euro, einen Baum kann man aber erst ab 2.490 Euro erwerben. Oftmals wird in den Medien berichtet, dass Bestattungswälder auch aus ökonomischer Sicht Vorteile mit sich bringen. Diesen Eindruck hat Trauerbegleiterin und Bestatterin Eva Kersting nicht. Kersting hat noch nicht erlebt, dass die Beisetzung im Wald günstiger wäre. Auf Friedhöfen gibt es ebensfalls Urnengräber ab 500 Euro, auch hier können die Gesamtkosten stark schwanken. Dadurch ist es schwierig pauschale Aussagen zu den Kosten einer Bestattung zu treffen – der Spielraum ist groß. In Deutschland gilt außerdem die Bestattungspflicht, wodurch selbst beim Todesfall in Armut eine Beisetzung vom Staat ermöglicht wird.
„Im Sinne der sozialen Integration halte ich einen Bestattungswald nicht zu befürworten.“
Der Kostenaspekt stand für Maria und Karl nicht im Fokus bei ihrer Entscheidung. Für sie war es wichtig, wieder Teil der Natur zu werden. Auf unserem Weg zurück zum Parkplatz bleiben wir kurz stehen. Inzwischen hat sich die Wolkendecke fast vollständig aufgelöst. Wir genießen für einen Moment die Sonnenstrahlen, die Ruhe und die Waldluft. Kurz vergisst man, dass hier nicht nur Lebende, sondern auch Verstorbene ihren Frieden finden. „Bei uns Zuhause ist überall Wald, wir gehen gerne in den Wald und dann sind wir später mal wieder im Wald.“, sagt Maria.
Das Konzept der Bestattungswälder gibt es in Deutschland erst seit 20 Jahren. Anfangs waren es wenige Wälder, inzwischen stehen rund 400 Waldflächen für Urnenbeisetzungen zur Verfügung. Der Bestattungswald erfährt einen Boom in Deutschland. Dieser begründet sich nicht nur in dem Wunsch der Naturverbundenheit. Durch die Bestattungspflicht gibt es in Deutschland, anders als in anderen Ländern, nur wenige Alternativen zum Friedhof. In der Schweiz oder den Niederlanden gibt es eine Bandbreite an Alternativen, die von der Luftbestattung bis zum Diamanten-Pressen aus Asche reichen.
Bevor die Brachts ihre Familie eingeweiht haben, wollten sie alles geklärt haben. Bei einem Familientreffen haben sie ihren Liebsten Flyer vom Bestattungswald vorgelegt und mit ihnen gesprochen. Der Ruhehain ist für sie kein Tabuthema. Bei einer gemeinsamen Wandertour sind sie zum Wald gelaufen und haben sich den Findling angeschaut. Als ihr Sohn mal bei einer Radtour an dem Waldstück vorbei kam schrieb er ihnen eine Textnachricht, dass er an ihrem Plätzchen vorbeigefahren sei. So ist für Brachts Familie der Ort Teil ihres Lebens geworden. Maria und Karl sind nicht ständig in diesem Wald – ab und zu gehen sie mal vorbei mit ihren Verwandten und heute mit mir. Der Wald ist so nicht nur ein Wald der Toten, sondern auch der Lebenden. Ein Wald, in dem alle ihren Frieden finden können – mit sich, dem Tod, der Trauer und dem Leben.