Raus aus der Uni – rein in das Taxi
Freitag, 18 Uhr. In Arbeit ertrinkende Menschen blicken sehnsüchtig in Richtung des rettenden Ufers. Wochenende. Ich aber freue mich darüber, dieses Ufer noch nicht erblicken zu können. Der Mond löst die Sonne ab und auch in der Taxizentrale steht der Schichtwechsel an – der Startschuss zu einem so alltäglichen Job, der dennoch so vielfältig ist.
Mein Vater ist mein Chef und trotz der wenigen Treppen, die zwischen Geschäft und unserem Zuhause liegen, schaffe ich es als einer der letzten anzukommen. Schnell sammle ich alles zusammen: Schlüssel, Tankkarte und unverzichtbar in einer kräftezehrenden Nacht, der Kaffee. Im Vorbeigehen treffe ich Ömer, der mir die Hand reicht. „Servus Niclas, alles gut? Wie geht’s dir?“ Er ist eine Institution – fast so lang im Geschäft, wie ich alt bin. Vor meiner eigenen Taxikarriere war seine Handynummer auch für mich oft die Letzte, die ich nachts wählte.
Gemächliches Warmfahren
Häuslich eingerichtet in meiner Mercedes E-Klasse grüße ich nochmal in die Runde. Hier und da murmeln diverse Töne wie ein „N’Abend“ zurück oder es rauscht ein „Hey Niclas“ über den Funk. Divers ist ein gutes Stichwort – als bunt gemischte Truppe ziehen wir heute Abend los. Von weiblich zu männlich, Student zu Rentner sowie auf der Landkarte zwischen Deutschland und Indien ist alles vertreten. Symbolisch für die Vielfalt an Menschen, auf die man in diesem Gewerbe trifft.
Ich mache mich also auf den Weg – zu meinem Leidwesen ging an meinem Vorgänger Heinz, der auch jahrzehntelang ein eigenes Geschäft hatte, das Rauchverbot von 2007 bis heute vorbei. Und er wird vermutlich auch nie davon erfahren. Vor uns, mir und meinen fünf Kollegen, liegt eine Nacht ohne Großereignisse – wenn man das in unserer verschlafenen Schwarzwaldmetropole überhaupt so nennen kann. In der Fastnachtswoche oder in Silvesternächten sind wir gut und gerne auch mit zwei- bis dreimal so vielen Autos im Einsatz. Insgesamt gibt es in Villingen etwa 35 Taxis von verschiedenen Unternehmen. Uber, vor allem in Großstädten eine starke Konkurrenz für die Branche, hat den Weg in unser Hinterland noch nicht gefunden.
In Deutschland darf nicht jeder ohne weiteres Taxi fahren – benötigt wird ein sogenannter Personenbeföderungsschein (P-Schein). Für diesen muss man mindestens 21 Jahre alt sein, eine gültige, in Deutschland anerkannte Fahrerlaubnis und mindestens zwei Jahre Fahrpraxis besitzen. Wichtig ist auch der Punktestand des*der Antragsteller*in beim Kraftfahrtbundesamt in Flensburg. Bei mehr Punkten sinken die Chancen auf den P-Schein. Außerdem muss der*die angehende*r Taxifahrer*in eine Tauglichkeitsuntersuchung beim Arzt absolvieren und ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. Früher gab es zusätzlich eine Ortskundeprüfung, die aktuell aber ausgesetzt ist. Ist der Schein einmal bestanden, muss er derzeit alle fünf Jahre verlängert werden.
Die ersten 20 Minuten stehe ich am Taxistand und bahne mir den Weg nach ganz vorne – die Kunden steigen in der Regel direkt ins erste hellelfenbein-gefärbte Auto, das sie finden. Auf der „Pole Position“ angekommen, schlendert wenige Augenblicke später eine Person auf mein Taxi zu. Schwarze Steppjacke, Gucci-Umhängetasche und die dazu passende Cap. Diese ist so weit ins Gesicht gezogen, dass ich erst spät erkenne, dass es mein ehemaliger Klassenkamerad Dejan darunter steckt. Als er bei mir auf der Rückbank sitzt, fällt auch bei ihm der Groschen: „Hey, was geht Niclas, alles klar? Seit wann fährst du Taxi?“, und fragt, ob zehn Euro bis zum Tipico reichen würden. Eine Strecke, die man eigentlich ohne Schwierigkeiten zu Fuß gehen kann. Dejan erzählt mir, dass er kaum noch Leute aus der Schule trifft. Er hat nur „gehört“, dass ein Mädchen aus unserer damaligen Konfirmationsgruppe mittlerweile zwischen den Blöcken am Stadtrand Drogen verkauft. Da stellt man sich unweigerlich die Frage, woher er das Designeroutfit und sein Bargeld für Sportwetten hat, denn seit seinem Hauptschulabschluss vor sechs Jahren bekam er außer einen Monat als Leiharbeiter in der Produktion nicht mehr wirklich viel zusammen. Von Philipp weiß er, dass er ein sehr gutes Abitur gemacht hat: „Respekt an jeden der das durchzieht. Schau mich an, ich hab noch gar nichts hinbekommen“. Ich sage ihm, dass jeder seinen Weg geht und früher oder später das Richtige findet. Dass das auch für ihn gilt, bezweifelt Dejan. Wir kommen an und ich halte auf dem dunklen Parkplatz zwischen den dicken AMGs der Kollegen im rotbeleuchteten Wettbüro. 7,60 Euro kostet die Fahrt. Er drückt mir ein Zehner in die Hand. „Also Niclas, mach‘s gut, hat mich gefreut“, steckt sein Geldbeutel zurück in die Gucci-Tasche und klettert aus dem Taxi.
Zurück am Bahnhof. Ich stehe und switche von Instagram zu WhatsApp, um eine halbe Minute später wieder auf Instagram zu landen. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, wie die Rücklichter des Autos vor mir ausgehen und jemand zu mir läuft. Asif. Ich lasse das Fenster herunter, er gibt mir ein Fistbump und ich bitte ihn in mein Auto. Wir plaudern. Er fragt, wie es mit dem Studium läuft und wann mein Bruder mit dem Taxifahren beginnt – Wissenschaftler sagten ja immer Zwillinge seien in allem genau gleich. Asif ist im Alter von meinem Vater. Er kommt aus Pakistan. Früher fuhr er bei uns. Immer wieder erzählt er, wie mein Bruder und ich damals, mit unseren gelben Bobbycar-LKWs, die Einfahrt bei uns zu Hause hinunterrasten. Heute hat Asif bereits seit über einem Jahrzehnt seinen eigenen Laden. Damit ist er einer von 19 Tausend Unternehmer*innen in Deutschland. Er will auch mich beständig davon überzeugen, eines Tages das Geschäft von meinem Vater zu übernehmen. „Man weiß nie, wie die Welt in ein paar Jahren aussieht, Asif.“ Dann klingelt sein Handy. Er muss weiter und gibt mir noch ein Fistbump zum Abschied.
Beschleunigen und hochdrehen
Ich tue es Asif gleich. Der Auftrag: Oberförster-Ganter-Straße 9. Ein Hotel im Kurgebiet, sozusagen dem Stadtteil der Schönen und der Reichen. Dort angekommen, werde ich überrascht. Eine mit Bierkasten bewaffnete Meute Mid-Dreißiger erwartet mich bereits sehnsüchtig. Nach kurzer interner Taktikbesprechung, wo die Herrschaften den weiteren Abend gerne verbringen wollen und wer vorne sitzen darf, haben sie alle, einschließlich dem Bitburger, Platz genommen. „Einmal ans Irish Pub, bitte“, tönt es von hinten. Alles klar. Ich drücke auf die Uhr – ein schriller Piepton geht durchs Auto und wir setzen uns in Bewegung. Die Jungs haben es geschafft, meinen Mercedes innerhalb kürzester Zeit in einen Brauerei-Laster zu verwandeln. Zumindest dem Geruch nach. Der Mann an der hinteren Beifahrerseite ist der Rädelsführer der Gruppe. Sie sind zum Junggesellenabschied hergekommen. Amüsiert erklären sie in ihrem Schweizer Akzent, dass der Fünfte im Bunde nach der Schnitzeljagd am Mittag für den Rest des Abends leider passen muss und dass der Kollege, der in der Mitte eingequetscht wird, eigentlich in New York lebt. Unser Gespräch hat noch kaum richtig begonnen, da kommen wir schon am Ziel an. Ich drücke wieder auf die Uhr und der Fahrpreis bleibt bei 15,20 Euro stehen. Bei uns kostet der nächtliche Kilometer etwa 2,70 Euro und liegt damit knapp 20 Cent unter dem deutschen Schnitt. Der New Yorker zückt sein Geldbeutel und drückt mir einen 20-Euro-Schein in die Hand. „The rest ist fur dich“. Sie fragen nach meinem Namen und ob ich sie heute Nacht wieder abholen würde, bevor sie mitsamt Bierkiste die Holztür des überfüllten Irish Pub passieren.
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Drei weitere Fahrten und anderthalb Stunden gehen ins Land und den Brauerei-Geruch bin ich auch losgeworden. Dabei sorgten die 23 Grad im Innenraum auch beim Lüften gemeinsam mit der Sitzheizung für tropische Gefühle in der eigentlich klirrenden Kälte. So langsam nähern wir uns aber mit großen Schritten der wirklich heißen Phase. Ich tausche die kuschelige Wohlfühloase mit Gequatsche hier und dort gegen Hektik und Stress. Meine Kollegen und ich – alle jagen wir ab jetzt durch die Schatten der Dunkelheit. Die nächtliche Rushhour der Provinz-Taxis, sie beginnt.
Vom sternklaren Himmel ist mittlerweile nichts mehr übrig. Dicke Regentropfen prasseln auf meine Windschutzscheibe und auf den Straßen herrscht gähnende Leere. In den Phasen, wo ich von einem Kunden zum nächsten heize, fährt mir gefühlt im Zwei-Minuten-Takt ein anderer Kollege über den Weg und wir treten unsere KFZ gerne auch zwanzig oder dreißig km/h über die Toleranzgrenze. Es geht von Club zu Club. Bar zu Bar. Von einem Kaff ins nächste. Denn: Für viele Feiernde hat es sich so langsam ausgetanzt. Nicht aber für uns Taxis. Timo, den ich durch einen DJ-Kurs kenne und dessen Vater bei uns im Haus wohnt, die Sekretärin der Putzfirma, bei der ich einst in den Ferien gejobbt habe oder eine vierköpfige, mit Dönerpizza bewaffnete Mädchengruppe sind nur ein paar Beispiele, die ich heute meine Gäste nennen darf. Eins aber haben die Kund*innen um diese Uhrzeit gemeinsam – ob nüchtern oder angesäuselt, ob zurechnungsfähig oder als Schnapsleiche vom eigenen Ehemann ins Auto gehievt. Sie alle wollen „einfach nur nach Hause!“
In diesem Rhythmus geht es weiter. Zwei, drei oder auch vier Stunden. Aber mir ist es recht so. Entgegen der Erwartung vieler, sind die „chilligen“ Nächte, an denen man Däumchen-drehend am Taxistand steht und nur mithilfe von Red Bull überhaupt überleben kann, der viel größere Horror.
Ein paar Gänge zurückschalten
Gegen 4.30 Uhr in der Früh habe ich auch die letzten Partypeople auf dem bitteren Weg Richtung eigene vier Wände begleitet. Die Kneipen stellen die Stühle auf die Tische. Manch eine arme Seele ist im Morgengrauen bereits auf dem Weg zur Frühschicht. Mittlerweile sind alle: „Und, heute Nacht viel los?“, oder: „Oh, so ein junger Taxifahrer!“ und nicht zu vergessen: „Du machst aber noch was anderes, oder?“-Phrasen abgearbeitet.
Durchatmen.
Ich merke, wie die Nacht jetzt auch bei mir Tribut zollt. Am Bahnhof wartet nun der schlimmste Teil auf mich. Denn: Auch hier ist die Müdigkeit angekommen. Um diese Uhrzeit ist es für die meisten schon das höchste der Gefühle, den Rauch ihres Glimmstängels in die Morgenluft zu pusten. Und während ich damit kämpfe, meine Augen offenzuhalten, bilde ich mir ein, in der Ferne etwas zu erkennen.
Und tatsächlich – „the last man standing“ kommt in großen Schlangenlinien an mein Taxi getorkelt. Ich lasse das Fenster ein Stück weit herab und er fragt, ob ich ihn heimfahre. Zumindest habe ich das nach dreimaliger Nachfrage verstanden. Stolz streckt er mir seine AOK-Karte ins Gesicht: „Ich habe auch meinen Ausweis dabei!“ – ganz im Gegensatz zu Bargeld. Nach etwa dreiminütiger Diskussion, dass ich den ja bereits hätte, rückt er seinen wahren Ausweis raus. Er wird ungeduldig. „Mach die scheiß Tür auf!“, fordert er immer wieder, reißt am Türgriff und flucht auf Russisch. Schon vorher hatte ich das Auto verriegelt – das mache ich nachts am Bahnhof immer. Als ich ihn dann noch nach der Bankkarte frage, damit er vielleicht mit dieser bezahlt, reißt sein Geduldsfaden. Er droht, er werde sich morgen beim Chef beschweren und dann könne ich schauen, wo ich in Zukunft arbeiten gehe. Außerdem will er die Polizei rufen, wenn ich ihm nicht sofort sein Geld zurückgeben würde. Ich fahre das Fenster wieder nach oben und warte, bis er geht. Wenn das nur so einfach wäre. Denn auch rechtlich unterliegt man als Taxifahrer eigentlich einer Beförderungspflicht. Hier bin aber ich im Recht, da sich der Fahrer bei angetrunkenen oder aggressiven Kunden, weigern darf, diese zu befördern. Ich muss sagen, dass ich so kurz vor Schichtende allerdings darauf verzichten könnte.
Langsames Ausrollen
Aber wenigstens bin ich jetzt wieder wach. Pünktlich zum letzten Auftrag. Genauer zum Saunaclub Monaco, wo vor der Tür bereits die beiden Fahrgäste warten. Zwei junge Frauen, beide Mitte zwanzig, die eine brünette, die andere schwarzhaarig. Beide tragen dicke, glänzende Daunenmäntel, einmal in Rot, einmal in Schwarz und dazu Leggins. Die Damen haben sich kaum hingesetzt, da durchzieht schon eine mächtige, blumig-süße Parfümwolken das ganze Auto. Ich begrüße die beiden, die beiden begrüßen mich. Sie möchten zum Bahnhof. Ein letztes Mal werfe ich heute Nacht den Taxameter an. Vorne auf dem Fahrersitz lausche ich der Konversation, ohne etwas zu verstehen. Ich vermute irgendwas Osteuropäisches. Immer wieder aber lautes Gekicher. Ein paar Mal blicke ich durch den Rückspiegel nach hinten. Am Bahnhof angekommen, drehe ich mich zu ihnen, um abzukassieren. Die braunhaarige Dame rechts hinter mir meint nur: „Hast du so schöne Augen“, zieht einen Zwanziger aus ihrem gut gefüllten Portemonnaie und lässt mir den Rest. Sie steigen aus und laufen in Richtung Feierabend.
Die Richtung, die ich nun auch einschlage. Begleitet vom ersten Vogelzwitschern fahre ich zurück in die Zentrale und stelle meinen Mercedes in die Garage. Geschafft verabschiede ich mich nach 25 Fahrten, aber mit 40 Euro Trinkgeld von meinen Kollegen. Es war mir mal wieder eine Ehre und ich freue mich jetzt schon wieder auf die nächste Schicht. Aber vor allem freue ich mich jetzt erstmal auf mein Bett. In diesem Sinne, bis nächstes Wochenende.