Versteht einander ein bisschen besser und lasst dann das, was den anderen ärgert oder was ihn stört.
(Un)sicher durch Stuttgart?
Das Rad soll das neue große Ding der nachhaltigen Mobilität sein, aber den Radfahrenden wird es in Deutschland nicht leicht gemacht. Die Straßen sind immer noch mit Fokus auf den Autoverkehr ausgebaut. Der Rest, der am tagtäglichen Verkehr teilnehmen will, muss sich die Wege teilen. 97.700. Das ist, laut Statistiken der Bundesregierung, die Anzahl an Fahrradunfällen 2022 in Deutschland. Die Zahlen sind nach Ende der Pandemie Jahre wieder ansteigend.
Radfahren ist in Stuttgart beliebt. Rund 600.000 Radfahrer*innen sind monatlich auf den Radwegen der Stadt unterwegs, zeigen Daten der Radzähler. Die Radzähler sind maschinelle Zählstationen an den Stuttgarter Radwegen. In Umfragen rund um das Fahrrad schneidet Baden-Württembergs Landeshauptstadt Stuttgart nicht besonders gut ab. Im letzten ADFC (Allgemeiner Deutscher Fahrrad Club) Fahrradklima Städteranking, landete die Stadt auf Platz 11 von 16. Vier Jahre zuvor galt Stuttgart als gefährlichste Stadt für Fahrradfahrer*innen. In einer ADAC Umfrage kam heraus, dass sich nur jeder zweite zu Fuß Gehende in Stuttgart sicher fühlt. 58% gaben an, an dieser Unsicherheit seien hauptsächlich die Radfahrer*innen Schuld. 2022 ereigneten sich 39 Unfälle mit Fußgänger*innen in Stuttgart.
Der Konflikt zwischen Radfahrenden und Fußgänger*innen
Christine Lehmann ist Stadträtin und bloggt seit vielen Jahren über das Radfahren in Stuttgart. Sie sieht die Durchmischung von Rad- und Fußverkehr als eines der Hauptprobleme. „Wir müssen uns da oft durch die Fußgänger*innen schlängeln. Das ist für uns Radfahrende lästig und die Fußgänger*innen fühlen sich bedroht“, erklärt Lehmann. Es gebe im Moment noch zu viele Radwege, die auf Fußgängerwege geleitet werden. Auch Friederike Votteler, Mitglied im Verein Fuss e.V., sieht das als wesentlichen Punkt. Denn für Fuß- und Radverkehr seien diese Wege meist viel zu schmal. Vereinsmitglied Peter Erben findet, dass dieser Druck auf den Gehwegen oftmals daher komme, dass diese für alles benutzt werden. Wie beispielsweise abgestellte Scooter, Sperrmüll oder auch Falschparker. Votteler findet es zu einseitig zu sagen: die Radfahrenden seien schuld. Schuld sei ihrer Meinung nach, dass Fußgänger*innen in der Stadtplanung nicht beachtet werden.
Doch auch für Radfahrende lauern viele Hindernisse auf den Straßen. Sogenannte Dooring-Unfälle, bei denen ein Radfahrender von einer aufgehenden Autotür erfasst wird, ergeben laut Lehmann oftmals schwere Unfälle. Auch Ampeln seien ein großes Hindernis für Radfahrer*innen, „weil die wollen auch nicht alle 500 Meter an der Ampel stehen und warten“, erklärt Lehmann. Auch Votteler sieht ein Problem an solchen Ampelkreuzungen, denn Radfahrende würden oftmals die rote Ampel über den Gehweg umgehen. „Dann sind die zu Fuß gehenden da auf einmal Knall auf Fall mit irgendeinem Radler konfrontiert, der ums Eck schießt, weil er ja natürlich auch schnell sein will.“
Erklärung der Unfalltypen im Straßenverkehr
(Quelle: Unfallatlas Deutschland/Statistische Ämter des Bundes und der Länder)
Unfall beim Überschreiten
Der Unfall wurde ausgelöst durch einen Konflikt zwischen einem Fahrzeug und einem Fußgänger auf der Fahrbahn, sofern dieser nicht in Längsrichtung ging und sofern das Fahrzeug nicht abgebogen ist.
Unfall im Längsverkehr
Der Unfall wurde ausgelöst durch einen Konflikt zwischen Verkehrsteilnehmern, die sich in gleicher oder entgegengesetzter Richtung bewegten, sofern dieser Konflikt nicht einem anderen Unfalltyp entspricht.
Sonstiger Unfall
Unfall, der sich nicht anderen Typen zuordnen lässt .Beispiele: Wenden, Rückwärtsfahren, Parker untereinander, Hindernis oder Tier auf der Fahnbahn, plötzlicher Fahrzeugschaden (Bremsversagen, Reifenschäden etc.)
Der Schlossgarten und die Hauptradroute 1
Laut der Datenanalyse sind Parkanlagen wie der Schlossgarten besonders konfliktreiche Zonen. Dieser liegt auf der Hauptradroute 1, die von Fellbach quer durch Stuttgart nach Vaihingen führt. Da liegt in Vottelers Augen bereits das erste Problem, denn ein Park sei vor allem zum Spazierengehen da. Eine Hauptradroute hingegen impliziere, dass man schnell von A nach B komme. Dies führt laut Votteler zu Konfliktsituationen. Sie glaubt, dass die Dunkelziffer an Unfällen noch viel höher sei, schon oft habe sie erlebt, dass es zu kniffligen Situationen kam, die nur gut ausgingen, weil der Radfahrende letztendlich über die Wiese ausgewichen sei. „Oder es kommt zu Zusammenstößen, wo man dann letztendlich keine Polizei holt, sich gegenseitig anschreit und dann weitergeht.“
Um das zu verhindern, bittet Peter Erben die Radfahrenden darum, Rücksicht zu nehmen und darauf zu achten, wie voll es ist. „Wenn man dann morgens um 7 auf dem Weg zur Arbeit ist, da kann man es laufen lassen, aber am Wochenende, da ist dann so viel los, da geht das dann nicht mehr“, so Erben. Auch Lehmann findet, man sollte mehr gegenseitig auf sich achten. Ihr Appell an beide Seiten ist: „Versteht einander ein bisschen besser und lasst dann das, was den anderen ärgert oder was ihn stört“. Christina Kircher-Wintterlin, Mitglied Verein Fuss e. V., hingegen glaubt eher weniger, dass solche Appelle Wirkung zeigen. „Das kann man vergessen, es nehmen dann vielleicht einzelne Leute Rücksicht, aber das ist nicht die generelle Einstellung der Menschen, die da unterwegs sind.“ Für sie ist die einzige Möglichkeit, handfeste Lösungen und Veränderungen zu schaffen.
Stadt will fahrradfreundlicher werden
Angaben der Stadt zufolge stehen in Stuttgart 363 Kilometer der sogenannten Radverkehrsanlagen zur Verfügung. Außerdem gelte in 70 Prozent des Straßennetzes in Stuttgart Tempo 30, diese Strecken hätten somit laut der Stadt eine „verträgliche Geschwindigkeit für Radler*innen im Mischverkehr mit Kfz“.
In der Praxis funktioniere das nicht wirklich, weiß Friederike Votteler. Deswegen hält es Radfahrerin Christine Lehmann für besonders wichtig, dass die Bereiche für zu Fuß gehende zukünftig von Radfahrenden freigehalten werden. Lösungen sieht sie vor allem darin, dass auf der Fahrbahn Platz geschaffen werden muss. Abhilfe könnten laut ihr Fahrradbrücken sein, auf denen die Radfahrer*innen auf halber Höhe über den Fußverkehr geleitet werden, damit Radfahrer*innen dort sicher und bequem fahren können. Davon sei die Stadt aber noch weit entfernt, merkt Lehmann an.
Die Stadtverwaltung gibt an, dass Stuttgart neben einer Autostadt auch zur Fahrradstadt werden soll. Lehmann hat dahingehend aber noch Zweifel. Ihrer Meinung nach dauert es noch mindestens 20 Jahre, bis die Infrastruktur für Radfahrende in Stuttgart einer Idealvorstellung gleicht. „Man kann gar nicht so schnell und so viel bauen, wie man jetzt eigentlich bauen müsste“, sagt sie. Ein weiterer Aspekt, der den Ausbau entschleunigen könnte, sei die mögliche Veränderung der politischen Mehrheit. Durch einen rechten oder rechtsradikalen Schwerpunkt im Gemeinderat würde die Politik fürs Fahrrad zurückgefahren werden oder nicht weitergehen, befürchtet die Stadträtin.
Man kann gar nicht so schnell und so viel bauen, wie man jetzt eigentlich bauen müsste.
Peter Erben zieht die aktuellen Gremien in Verantwortung. In diesen gebe es bisher noch keine Mehrheiten, um das Straßenverkehrsrecht zu ändern, die Vorschläge lägen aber bereits auf dem Tisch. Es brauche eine politische Mehrheit und den Willen etwas für Fußgänger*innen zu tun. „Es ist wichtig, solche Projekte anzugehen, damit man sieht, wie entspannt es in der Stadt sein kann, ohne so einen Kampf auf der Straße”, stimmt Friederike Votteler ihm zu. Ein Projekt, das aktuell schon angegangen wird, ist die Planung eines sogenannten Fußverkehrskonzepts. Dieses fördere den Ausbau von Fußwegen, zudem sollen diese auch inklusiver werden.
Die Rad-Situation soll sich ebenfalls bessern. Das aktuelle Ziel ist, dass bis 2030 in jedem Stadtviertel eine Fahrradstraße entstehen soll, damit langfristig der Radverkehr 25 Prozent des gesamten Stadtverkehrs einnimmt. Erste Projekte entstehen schon jetzt. Bis Ende 2024 soll die Hauptradroute 2 aus der Innenstadt nach Hedelfingen fertiggestellt werden. Solange die Situation aber nicht so ist, müssen Radfahrer*innen und Fußgänger*innen rücksichtsvoll miteinander umgehen, damit in Zukunft die Zahl der Unfälle abnehmen kann.