Secondhand, First Choice
Du betrittst einen IKEA-Store und stolperst über die neue „Zweite Chance“-Abteilung, die sich ganz den Secondhand-Möbeln widmet. Am Abend scrollst du mal wieder durch deine Shopping-Apps und entdeckst, dass auch H&M eine Sektion für gebrauchte Kleidungsstücke in die App integriert hat. Während früher vor allem kleine Secondhand-Läden den Markt dominierten, drängen nun auch große Unternehmen in diesen Bereich. Sie sehen den Verkauf von Produkten aus zweiter Hand nicht nur als umweltfreundliche Alternative, sondern auch als zusätzliche Umsatzquelle.
In den letzten Jahren hat die Secondhand-Branche einen zunehmenden Boom erlebt. Die wachsende Anzahl an Plattformen und Läden, die gebrauchte Produkte anbieten und die Umsätze, die der Markt generiert, sprechen dafür. Laut einer Analyse der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC) wird das Volumen des Secondhand-Modemarktes in Deutschland bis 2025 auf fünf bis sechs Milliarden Euro ansteigen.
Immer mehr Verbraucher*innen legen beim Einkaufen Wert auf die Nachhaltigkeit, wie der Bericht des Capgemini Research Institute zeigt. Zusätzlich spielt das Kostenbewusstsein eine bedeutende Rolle, da gebrauchte Waren in der Regel günstiger sind als neue. Leonie Kunze, Geschäftsführerin von dem Secondhand-Laden Still Thrifting erläutert, dass besonders junge Käufer*innen die Einzigartigkeit von Secondhand-Produkten schätzen, da sie sich von Massenware abheben und individuelle Geschichten erzählen.
Reiz des Gebrauchten
Der Trend zu gebrauchten Produkten erfasst auch große Unternehmen. Laut dem Resale Report von ThredUp aus dem Jahr 2024 bieten mittlerweile 163 Marken eigene Secondhand-Shops an, was einem Anstieg von 31 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Diese Entwicklung zeigt, dass Handelskonzerne ihre Sortimente erweitern und wirtschaftliche Vorteile nutzen, um sich in diesem Markt zu positionieren: Die Verwertung der gebrauchten Artikel ist oft mit einem Anstieg des Deckungsbeitrags verbunden, da die Kosten für die Produktion dieser Secondhand-Artikel niedriger ausfallen als bei Neuwaren. Unternehmen steigern damit nicht nur ihren Umsatz, sondern erreichen ihre Nachhaltigkeitsziele.
Der Deckungsbeitrag ist die Differenz zwischen Umsatz und variablen Kosten. Er steht zum Abdecken der Fixkosten zur Verfügung. Variable Kosten sind dabei beispielsweise Materialkosten oder auch die Maschinenanzahl. Mit Hilfe des Deckungsbeitrag können Konzerne ermitteln, ob ihre Produkte einen Gewinn erzeugen. Wenn die Fixkosten höher sind als der Deckungsbeitrag, hat das Unternehmen mit seinem Produkt einen Verlust gemacht. Wenn aber die Fixkosten geringer sind als der Deckungsbeitrag, ist das Angebot wirtschaftlich profitabel für den Konzern.
Quelle: Munich Business School
Laut Univio, einem Unternehmen für digitale Transformation, leisten große Konzerne mit dem Angebot an gebrauchten Artikeln einen Beitrag zur Reduktion von Textilmüll. Dadurch verlängern sie die Lebenszyklen ihrer Produkte und schonen Ressourcen. Mit dieser Strategie kommen Firmen einen Schritt auf die Bedürfnisse umweltbewusster Konsument*innen zu und profitieren von der wachsenden Branche.
Besonders Trade-In-Programme ermöglichen es Unternehmen, eine Kundenbindung aufzubauen: Verbraucher*innen können ihre Secondhand-Waren gegen Gutscheine oder Rabatte für einen neuen Kauf eintauschen. Unternehmen verknüpfen so ihre Geschäftsmodelle mit den Prinzipien der Kreislaufwirtschaft.
Das Markenimage spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle. Kund*innen legen zunehmend Wert auf nachhaltiges Handeln. „Man darf nicht vergessen, dass es immer mehr regulatorische Vorgaben gibt – insbesondere von der EU –, die vorschreiben, wie Unternehmen im Bereich Nachhaltigkeit agieren müssen“, erläutert Melina Lelickens, Expertin für Business Development im Bereich Retail und Consumer bei PwC.
Mit Corporate Social Responsibility ist die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen für ihr Handeln und dessen Auswirkungen auf die Öffentlichkeit gemeint. Darunter versteht man ein nachhaltiges Wirtschaften, das positive soziale, ökologische und ökonomische Effekte schafft. Im ökonomischen Bereich steht ein verantwortungsvoller Umgang mit den Finanzen im Fokus. Ökologisch liegt der Schwerpunkt auf dem Umweltschutz, insbesondere auf einem schonenden Umgang mit Ressourcen. Der soziale Aspekt umfasst Chancengleichheit, soziale Gerechtigkeit und eine faire Einkommensverteilung.
Quelle: Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Die PwC-Studie zeigt, dass Deutsche bereit sind, im Schnitt 2,34 Euro mehr für eine nachhaltige Lieferung zu zahlen. Unternehmen passen daher ihre Geschäftsmodelle an. Wie die Plattform für digitale Transformation Digital Chiefs berichtet, können Firmen mit Secondhand-Produkten ihre Corporate Social Responsibility demonstrieren und neue Kunden gewinnen.
Auch interessant
So machen es die Big Player
H&M setzt mit „Pre-loved“ auf ein neues Konzept: Zusammen mit Sellpy bietet der Modegigant eine kuratierte Auswahl von Secondhand-Stücken an, die nicht nur von H&M-Marken stammen, sondern auch von anderen Labels. Die Rechnung geht für sie auf: Statt Kleidung zu entsorgen, landen Lieblingsstücke wieder im Verkauf.
Auch Zalando baut sein Angebot in diesem Bereich aus. Der Online-Riese nutzt seine Plattform, um gebrauchte Mode zu verkaufen. Kund*innen können aber nicht nur online, sondern auch in lokalen Stores gebrauchte Kleidung finden, welche mit gesonderten Etikett gekennzeichnet ist. Für Secondhand Waren gelten die gleichen Rückgaberechte wie für alle anderen Produkte im Outlet-Store.
IKEA geht noch einen Schritt weiter: „Zweite Chance“ gibt alten Möbeln neues Leben. Der schwedische Einrichtungsriese nimmt Gebrauchtes zurück, peppt es auf und verkauft es wieder. So landen Billy und Co. nicht auf dem Sperrmüll, sondern in neuen Wohnzimmern.
Stolpersteine des Gebrauchtwarenmarktes
Ein Pullover mit Rotweinfleck, eine Hose mit loser Naht und ein Paar abgenutzte Schuhe. Das sind nur einige Beispiele, mit denen sich das Secondhand-Management beschäftigt. Melina Lelickens beschreibt die Rücknahme, Aufbereitung und den Wiederverkauf gebrauchter Produkte als komplex, weil es eine große logistische Herausforderung darstelle, Produkte zu sammeln, zu lagern und einzeln zu verschicken.
Die Logistik ist nur ein Teil der Herausforderung, die Firmen mit dem Eintritt in den Secondhand-Markt bewältigen müssen. Es besteht die Gefahr des Imageverlusts: Einige Firmen nutzen Secondhand-Angebote als Deckmantel für weniger nachhaltige Praktiken in anderen Bereichen ihres Geschäfts. Auch bekannt als sogenanntes Greenwashing. Konzerne, die Secondhand nur als Marketing-Instrument missbrauchen, verlieren Glaubwürdigkeit und Vertrauen bei der Kundschaft.
Secondhand ist mehr als Umsatz
Auch wenn Großunternehmen inzwischen den Secondhand-Markt für sich entdeckt haben, verliert die Rolle der klassischen Secondhand-Läden nicht an Bedeutung. Denn diese haben mehr zu bieten als preisgünstige Gebrauchtwaren. So pflegen beispielsweise Flohmarkthändler wie Emil Schnell den persönlichen Kontakt und schaffen damit ein Einkaufserlebnis, das individueller ist als der Kauf von Produkten durch Verkaufsplattformen im Internet. Der Fachbereichleiter Rolf Kaltenberger des Sozialunternehmens NEUE ARBEIT erklärt, dass die Sozialkaufhäuser in Stuttgart in Kooperation mit dem Jobcenter arbeiten und Arbeitsplätze zur Verfügung stellen. Die personenbezogene Kaufberatung und Kommunikation ließen sich von großen Unternehmen nicht in diesem Maße realisieren.
Ein Blick nach vorne
Der Secondhand-Markt zeigt eine vielversprechende Wachstumsperspektive. Vor allem die jüngeren Generationen würden den Nachhaltigkeitstrend weiter vorantreiben, so Melina Lelickens. Parallel dazu wächst das Angebot, das immer nutzerfreundlicher wird und damit weitere Konsument*innen anspricht. Sei es in der „Zweite Chance“-Abteilung bei IKEA oder in der „Pre-loved“-Kategorie der H&M-App – Secondhand-Produkte sind inzwischen fest in den Strategien großer Unternehmen verankert. Doch wie sich dieser Markt langfristig entwickelt, hängt nicht nur von wirtschaftlichen Überlegungen ab. Die Frage bleibt, ob Konzerne die Herausforderungen wie komplexe Logistik und mögliche Glaubwürdigkeitsverluste durch Greenwashing erfolgreich bewältigen können. Eines ist klar: Der Secondhand-Gedanke hat das Potenzial, weit über einen bloßen Trend hinauszugehen.