Therapie fehl(t) am Platz
Wenn du deine Gesundheit oder die von anderen gefährdest, rufe umgehend den Rettungsdienst (Telefon 112). Falls du von extremem psychischen Leidensdruck betroffen bist, wende dich bitte an psychologische Notdienste oder die Telefonseelsorge (Telefon 0800 – 111 0 111).
Der Weg zu einem Therapeuten ist schwer und kostet viel Überwindung. Ist die Hürde, zum Telefon zu greifen, geschafft, steht eine noch größere an: einen Therapieplatz zu finden. Alleine in Deutschland sind jedes Jahr rund 28 Prozent der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen. Das entspricht 17,8 Millionen Menschen, von denen nur 3,3 Millionen Kontakt zu Therapeut*innen aufnehmen.
Wer ist betroffen?
In psychotherapeutischer Behandlung befinden sich in Deutschland sowohl Kinder als auch Jugendliche und Erwachsene. Die dominierende Altersgruppe sind dabei die 55- bis 59-Jährigen. Im Jahr 2021 wurden 831 Tausend Menschen aus dieser Altersgruppe therapiert. Das macht einen Anteil von rund 11% aus. Doch auch ein Großteil der jüngeren Bevölkerung befindet sich in Therapie. Laut BARMER-Daten waren im selben Jahr 619 Tausend junge Patient*innen im Alter von 20 bis 24 Jahren in Behandlung. Die Zahlen wachsen stetig weiter. Der Zeitraum zwischen 2010 und 2021 zeigt deutlich den Anstieg von Therapie-Patient*innen an. Während sich 2010 knapp 4,6 Millionen Patient*innen in Behandlung befanden, waren es 2021 7,7 Millionen.
Psychische Gesundheit in Deutschland
Psychische Störungen treten in Deutschland genauso häufig auf wie andere Volkskrankheiten, beispielsweise Bluthochdruck. Mindestens jede*r sechste Deutsche leidet an einer Angststörung, jede*r Zehnte an affektiven Störungen. 2019 sind psychische Erkrankungen erstmals die zweithäufigste Ursache für berufliche Fehltage. Das Wissenschaftliche Institut der AOK stellte fest, dass immer mehr Deutsche aufgrund psychischer Erkrankungen arbeitsunfähig sind. Dennoch sind psychische Erkrankungen nicht als Berufskrankheit anerkannt.
Vor allem durch die Corona-Pandemie wurden mehr depressive Gefühle und Ängste ausgelöst. Die Altersgruppe zwischen 18 und 29 Jahren war davon besonders betroffen. In mehreren bundesweiten, repräsentativen Befragungen äußerten 2020 knapp 70 Prozent, dass sie emotional belastet sind, 55 Prozent gaben eine ausgeprägte Zukunftsunsicherheit an. Es wurde deutlich, dass Personen, die bereits vor der Pandemie erkrankt waren, besonders betroffen von Angst, Depressivität und körperlichen Beschwerden waren.
Wie genau sieht der Weg zu einem Therapieplatz aus?
Die Dauer der Wartezeit hängt von vielen verschiedenen Faktoren wie dem Wohnort oder dem Schweregrad der Erkrankung ab. Auch der Verlauf bis zu einem Therapieplatz gestaltet sich für jede/n Betroffene/n anders.
Ein typischer Verlauf könnte jedoch so aussehen:
- Wichtig ist zunächst zu beachten, ob man privat oder gesetzlich versichert ist - denn es gibt auch einige Therapeut*innen, die nur Privatpatient*innen behandeln.
- Der nächste Schritt ist die Adressensuche über das Internet oder in Branchenbüchern. Es ist ratsam, bei mehreren Therapeut*innen anzufragen, um die Chancen auf einen Platz zu erhöhen. Dabei kann man sich auf Wartelisten setzen lassen.
- Danach erfolgt die Kontaktaufnahme und ein Sprechstundentermin. Hierbei kann man als erwachsene Person maximal 150 Minuten in Anspruch nehmen und bekommt eine erste Empfehlung für weitere Behandlungen.
- Unabhängig von dieser Entscheidung haben die Patient*innen dann Anspruch auf zwei bis vier Probesitzungen.
- Wenn die Chemie zwischen Patient*innen und Therapeut*innen stimmt und die Probesitzung abgehalten wurden, wird die Diagnose gestellt.
- Zwischen Probesitzungen und dem Beginn der Therapie sollte von ärztlichem Fachpersonal geklärt werden, dass eine körperliche Unversehrtheit vorliegt. Dieser erstellt dann einen Konsiliarbericht.
- Die Krankenkasse muss die Therapie bewilligen.
- Die Therapie kann beginnen. Es ist eine Kurz- oder Langzeittherapie oder eine maximal 12-stündige Akutbehandlung möglich.
- Der/die Therapeut*in muss bei einer Langzeittherapie einen Bericht an den/die Gutachter*in der Krankenkasse schicken. Bei Kurzzeittherapie ist dies nicht nötig.
Die Gründe für die Wartezeit
Das große Problem ist nun die lange Wartezeit. Im Schnitt beträgt die Wartezeit vom Erstgespräch bis zum Therapiebeginn 20 Wochen. Laut der kassenärztlichen Bundesvereinigung konnten 40 Prozent der Menschen, die im ersten Quartal im Jahr 2019 ihr Erstgespräch hatten, erst im dritten Quartal mit der Therapie beginnen. Das hängt mit der Bedarfsplanung zusammen. Hier wird festgelegt, wie hoch der Bedarf an ärztlichem Fachpersonal und Psychotherapeut*innen für einen Kreis, eine Region oder eine Stadt ist. Diese Richtlinien werden vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) festgelegt. Die Zahl der Menschen mit psychischen Erkrankungen hat sich vor allem seit der Corona-Pandemie erhöht und somit sind mehr Anfragen als freie Plätze vorhanden. Nicht alle kassenzugelassenen Therapeut*innen arbeiten außerdem in Vollzeit, die Bedarfsplanung geht davon aber aus. Bedeutet: Die Therapeut*innen schaffen in der Woche weniger Patient*innen als angenommen.
Unterschiede zwischen Stadt und Land
In Großstädten leidet den Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK)-Angaben zufolge mehr als jede*r dritte Einwohner*in im Verlauf des Lebens an einer psychischen Krankheit: Auf dem Land sind es mit knapp 26 % weniger. Auch die Wartezeit für einen Therapieplatz variiert im Stadt- und Landvergleich. Aus einer Stichprobe der Rundfunkanstalt rbb 24 im Frühjahr 2022 geht hervor, dass die Dauer zwischen dem Erstgespräch und dem Therapiebeginn im Durchschnitt 12 Wochen in der Stadt und 24 Wochen auf dem Land beträgt. Um eine vergleichbare Versorgung in städtischen und ländlichen Regionen zu schaffen, benötigt es, laut der BPtK, bis zu 4000 neue Niederlassungen auf dem Land.
Wie lange wartet man bei anderen Ärzten?
Von allen Fachärzten in Deutschland wartet man auf einen Psychotherapieplatz am längsten. Eine Versicherungsbefragung der KBV im Jahr 2019 zeigt, dass die Wartezeit bei vielen Ärzten deutlich kürzer ist. Besonders schnell werden nach wie vor Patient*innen in Hausarztpraxen behandelt. 56 Prozent der Befragten warten bei Hausärzten höchstens drei Tage auf einen Termin. Etwas länger dauert es bei Fachärzten. Auf einen Facharzttermin warten 64 Prozent der Befragten länger als drei Tage. Spitzenreiter sind dabei Gynäkolog*innen und Kardiolog*innen. Hier warten im Schnitt 73 Prozent der Menschen länger als drei Tage auf einen Termin.
Reform zur Besserung?
Mit einer Reform der Psychotherapie-Richtlinie im Jahr 2017 sollte der Zugang zu Hilfsangeboten für Betroffene verbessert werden. Es wurden Maßnahmen wie die telefonische Mindesterreichbarkeit der psychotherapeutischen Praxen geregelt. Außerdem wurde festgelegt, dass Psychotherapeut*innen Sprechstunden sowie Akutbehandlungen anbieten müssen. Laut der BPtK können viele Psychotherapeut*innen nach den Sprechstunden keinen Therapieplatz anbieten. Durch diese Reform ist es zwar möglich, schnell einen Termin für ein Erstgespräch zu bekommen, dies garantiert aber nicht einen festen Platz bei einem/einer Therapeut*in, wenn keine Plätze in der Praxis mehr vorhanden sind.
Pläne der Politik
Die Versorgung muss verbessert werden – so sehen es viele Expert*innen und auch SPD-Politiker*innen. Diese forderten Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach auf, für mehr Therapieplätze zu sorgen. Lauterbach betont in diesem Zusammenhang, dass die Regierung zügig ein Gesetz zur Bedarfsplanung der Psychotherapie vorlegen werde. Zusätzlich wurde im Koalitionsvertrag 2021 das Ziel festgehalten, die Wartezeit zu reduzieren. Die Maßnahmen werden aktuell noch geprüft. Ein tatsächlicher Plan zur Verbesserung steht noch aus.