„Ich müsste mir als Arzt einen kompletten Tag freinehmen, um mich auf den aktuellen Stand zu bringen und mich mit den Apps zu beschäftigen.“
Gesund werden am Smartphone
„Hi, ich bin M-sense und helfe dir, deine Migräne besser zu verstehen und Attacken vorzubeugen.“ So werden Nutzer*innen der Migräne-App M-sense von Brainy, dem digitalen Assistenten, begrüßt. Das liebevoll gestaltete kleine Gehirn führt Schritt für Schritt durch das Tool, das den Patient*innen bei der Erfassung und Linderung ihrer Migränebeschwerden helfen soll. M-sense ist allerdings mehr als eine von unzähligen Gesundheitsapps, die sich im App Store häufen. M-sense ist eine Digitale Gesundheitsanwendung.
Ein vielfältiges Angebot
Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) sind Apps, die Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen ihren Patient*innen bei entsprechender Diagnose verschreiben können. Die Kosten dafür werden von der Krankenkasse erstattet. Die oft verwendete Bezeichnung „App auf Rezept“ ist allerdings irreführend. Neben dem Smartphone werden viele DiGA nämlich auch für das Tablet oder im Web angeboten. Eine Übersicht über alle erstattungsfähigen Anwendungen liefert das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Im sogenannten DiGA-Verzeichnis sind momentan 24 Apps zur Behandlung unterschiedlichster Erkrankungen aufgelistet.
Die Hausarztpraxis von Dr. Mario Zerbaum in Brandenburg an der Havel gehörte zu den ersten, die DiGA verschrieben haben. Bislang hat er durchweg positive Erfahrungen mit den Apps gemacht. Insbesondere mit Vivira, einer Anwendung für orthopädische Beschwerden, ist er sehr zufrieden. Doch auch bei psychischen Erkrankungen sind DiGA empfehlenswert: „Ich sehe einen großen Vorteil, gerade im Bereich Depression, wenn psychotherapeutische Begleitung nötig wäre. Die Patient*innen warten ein halbes Jahr, ein Jahr auf einen Therapieplatz.“, erklärt Zerbaum. Diese Wartezeiten können die digitalen Begleiter überbrücken, denn dank des unkomplizierten Verfahrens erhalten Erkrankte ihre DiGA deutlich schneller als ein Gespräch beim*bei der Therapeut*in.
Aller Anfang ist schwer
Seit im Oktober 2020 der Startschuss für DiGA fiel, werden die Apps gut angenommen. Das Deutsche Ärzteblatt berichtete von mehr als 24.000 Freischaltcodes, die bis Ende September 2021 ihren Weg von den Krankenkassen zu den Patient*innen fanden. Trotzdem reagieren viele Ärzt*innen verhalten auf die Anwendungen oder wissen erst gar nichts von deren Existenz.
Mario Zerbaum hat Verständnis für seine Kolleg*innen. Der Aufwand, den die Mediziner*innen neben dem laufenden Praxisbetrieb für DiGA aufbringen müssen, ist enorm hoch – und das bei einer sehr niedrigen Vergütung. „Ich müsste mir als Arzt einen kompletten Tag freinehmen, um mich auf den aktuellen Stand zu bringen und mich mit den Apps zu beschäftigen.“, so Zerbaum.
Abseits des ärztlichen Fachpersonals sind die medizinischen Apps aber auch in der Gesellschaft noch längst nicht bei allen angekommen. Inga Bergen ist Expertin für Digital Health und Host des Podcasts Visionäre der Gesundheit. Sie sieht diese Entwicklung unproblematisch: „Das Konzept ist einfach sehr neu und es dauert eben, bis sich neue Themen durchsetzen. Und natürlich herrscht auch erst eine gewissen Skepsis bei vielen. Es gibt immer die ersten 10 Prozent, die das super schnell adaptieren und dann gibt es einfach die Masse an Menschen, die etwas zögerlicher ist. Deswegen ist das überhaupt nicht ungewöhnlich.“
Analog oder digital?
Ein Blick in die sprichwörtliche Glaskugel scheint vielversprechend. Sowohl Inga Bergen als auch Mario Zerbaum sehen beide großes Potenzial für die DiGA.
„Zukünftig wird es kein Medikament und keine Intervention mehr ohne digitalen Companion geben.“
Bergen rechnet sogar mit einer schrittweisen Digitalisierung des gesamten Gesundheitssektors. Sie glaubt, dass es zukünftig kein Medikament und keine Intervention mehr ohne digitalen Companion geben wird. Vor allem Ärzt*innen würden dadurch stark entlastet. Für Herrn Zerbaum ist der persönliche Kontakt trotzdem unerlässlich: „Wir haben noch viel Potenzial, das in diesem Bereich geschöpft und gehoben werden kann. Aber diese Mensch-Mensch-Interaktion, die kann man nicht digitalisieren.“ Es sind also beide relevant als Team auf dem Weg zur Gesundheitsversorgung der Zukunft: die Ärztin bzw. der Arzt des Vertrauens – und die digitalen Helferlein rund um Brainy & Co.