Gute Noten, guter Mensch?
Ein perfektes Leben. Alles soll nach Plan funktionieren, ohne Fehler. Vor allem in der schulischen und beruflichen Hinsicht muss alles super laufen. Diese Einstellung hatte ich bereits in der Grundschule. Wenn Lisa in der ersten Reihe eine 1 hat, muss ich die auch haben. Sonst bin ich weniger wert. Als mein Bruder auf die Realschule kam, wollte ich es ihm unbedingt nachahmen. Umso trauriger war ich, als ich zunächst auf die Hauptschule kam. Also habe ich mich angestrengt und meine Hausaufgaben plötzlich nicht mehr vergessen.
Es scheint, als stecke in mir eine Perfektionistin. Und das in verschiedenen Bereichen: Putzen, bis das allerletzte Staubkorn fort ist. Zehntausend Schritte an einem Tag schaffen – wehe es sind nur 9 900, dann wird noch einmal eine Runde um den Block gegangen. Und bei Bewerbungen wiege ich mich mit einem glänzenden Zeugnis etwas mehr in Sicherheit. Es steht schwarz auf weiß, dass ich mich angestrengt habe. Eine 1,0 sieht eben einfach schöner aus als eine 1,7 oder eine Note mit einer Zwei vor dem Komma. Darum versuche ich immer alles zu geben und erwische mich oft dabei, dass ich die Kritik zu meiner Note vielleicht doch nicht ganz so gut annehmen kann, wie ich behaupte.
Doch was bringt mir dieser Perfektionismus eigentlich? In dem Moment, indem ich ihn erlebe – zum Beispiel in Form von gutem Feedback oder Lob aller Art – gibt er mir ein starkes Gefühl. Doch wieso definiere ich meinen Selbstwert über gute studentische Leistungen? Was ist mit meinen persönlichen Eigenschaften? Ich schätze es liegt daran, dass man mit dem Notensystem ganz genau sehen kann, wo man gerade steht. Meine Persönlichkeit kann man nicht nach einem bestimmten System bewerten. So wie in einer Folge der Netflix-Serie Black Mirror, bei der die Popularitätsbewertung von ein bis fünf Sternen über den Köpfen der Menschen steht und jede*r sehen kann, wenn man vermeintlich versagt.
Vergleich mit anderen
Perfektionist*innen verfolgen ein bestimmtes Ziel, wie etwa der*die Beste zu sein. Genau dieses wollen sie erreichen und geben sich nicht mit weniger zufrieden. Hierbei orientiert man sich leider oft an anderen und vergleicht sich. Ich denke, jede*r kennt den Moment nach der Notenvergabe einer Klausur: „Und. Was hast du?“. Als wäre man besessen, der*die Beste zu sein. Alles dreht sich nur um eine Zahl.
Wenn man die Schuld allerdings nur auf das Bewertungssystem schiebt, macht man es sich zu leicht. Man sollte lernen zu denken: „Eine 2 ist okay.“ Und vergleichen sollte man sich schon mal gar nicht. Das Leben anderer ist bestimmt auch nicht perfekt. Vielleicht ist es hilfreich, nicht nur schwarz oder weiß zu sehen. Gute Noten, guter Mensch? Das wäre doch auch zu einfach.
In der zweiten Folge dieser Kolumne geht es um Prokrastination.