Chronische Migräne

Ein Leben lang auf der Hut

Sarahs Gehirn reagiert extrem empfindlich auf Reize wie Licht oder Lärm.
17. März 2023
Sarah hat chronische Migräne – laut dem RKI eine der belastendsten Krankheiten überhaupt. Fast jeden zweiten Tag leidet sie unter Schmerzen. Die Erkrankung bestimmt ihre gesamte Lebensgestaltung.

Es ist warm in der gelb gestrichenen WG-Küche. Neben einer halbleeren Teetasse liegen Wattepad, Desinfektionsmittel und ein Ding, das aussieht wie ein blau-weißer Stift auf dem Tisch. 495 Euro ist dieser Stift wert. Eine vorportionierte CGRP-Antikörper-Spritze zur Vorbeugung von Migräne. Sarah setzt sich grinsend. „Die Spritzen in meinem Kühlschrank sind wahrscheinlich das teuerste, was ich besitze", witzelt sie. Dass Sarah als schwerbehindert gilt und sehr oft unter Schmerzen leidet, sieht man ihr nicht an. Sie trägt gemütliche Klamotten, einen Cardigan, Hausschuhe.

Mit frisch gewaschenenen Händen krempelt sie ihre weite Hose hoch und kreist das Wattepad über die desinfizierte Stelle in der Mitte ihres freigelegten Oberschenkels. Die 29-Jährige wirkt ruhig und routiniert. Hemmungen, sich selbst eine Spritze zu setzen, habe sie keine. Es gebe ihr sogar ein gutes Gefühl, mit der Spritze gegen die Schmerzen aktiv zu werden. Dann nimmt sie den Autoinjektor in die Hand und setzt an der Haut an. Sie hält kurz inne. Mit dem Daumen drückt sie die Kappe am Ende des Stifts herunter. Klick. Klick. Die Nadel schießt heraus und schon ist es vorbei. An der Einstichstelle zeichnet sich ein kleiner roter Kreis auf ihrem Oberschenkel ab. Sarah schiebt die Hose darüber und nimmt einen Schluck Tee.

Es fühlt sich an, als würde jemand mit Nadeln durch die Augen in mein Gehirn stechen.

Seit 2019 spritzt Sarah sich die CGRP-Antikörper jeden Monat selbst. Als Betroffene von chronischer Migräne muss sie stets darauf achten, dass ihr Kopf nicht zu vielen Reizen ausgesetzt ist, denn er reagiert extrem empfindlich auf Stress, Lärm und Bewegung. Fast jeden zweiten Tag hat sie Schmerzen und ist dadurch erheblich in ihrem Leben eingeschränkt. Schon in der Grundschule, als alles anfängt, fällt es Sarah schwer, die Schmerzen vor anderen zu beschreiben. Sie seien pochend oder drückend, versucht sie es. Oft würden ihr auch die Augen wehtun. „Teilweise fühlt es sich an, als würde jemand mit Nadeln durch die Augen in mein Gehirn stechen.” An einigen Tagen, wenn die Attacken besonders schlimm sind, liegt sie in ihrem abgedunkelten Zimmer im Bett, spannt den ganzen Körper an, atmet nur noch flach und bewegt sich keinen Millimeter, weil das den Schmerz verschlimmert. „Ich hatte schon solche Schmerzen, dass ich im Dunkeln nicht mehr wusste, ob mein Auge gerade offen oder zu ist."

Migräne – das sind nicht nur Spannungskopfschmerzen, wie sie fast jede*r schon einmal erlebt hat: Untersuchungen ergaben, dass die neurologische Krankheit eine der belastendsten überhaupt ist. So nahm sie in der Global-Burden-of-Disease-Studie des Robert-Koch-Institutes (RKI) 2017 den zweiten Rang der Erkrankungen ein, bei denen am meisten gesunde Lebenszeit verloren geht. Eine ähnliche Studie der Weltgesundheitsorganisation und Harvard Universität von 2016 betont aufgrund der Ergebnisse die Dringlichkeit, sich in der Forschung und bei gesundheitspolitischen Debatten mit Migräne auseinanderzusetzen. Immerhin fast 15 Prozent der Frauen und 6 Prozent der Männer sind dem RKI zufolge in Deutschland von der Volkskrankheit betroffen. Trotzdem gab es lange Zeit nur Medikamente, die sich im Nebeneffekt positiv auf die Vorbeugung von Migräne ausgewirkt haben, eigentlich aber für andere Zwecke bestimmt sind, wie zum Beispiel Antidepressiva.

Ausgefallene Maßnahmen in der Hoffnung auf Besserung

Die CGRP- Antikörper, die Sarah sich spritzt, gelten daher als Meilenstein in der Behandlung. Calcitonin Gene-Related Peptides (kurz: CGRP) sind Botenstoffe im Gehirn, die an der Entstehung von Migräneattacken beteiligt sind. Sie sollen durch die Spritze gehemmt werden und dadurch die Häufigkeit der Attacken reduzieren. Das teure Medikament wird allerdings nur von der Krankenkasse erstattet, wenn zahlreiche andere Therapien versucht wurden und unwirksam blieben. Sarah hat sie alle durchgemacht. Und noch viel mehr ausprobiert. „Ich will gar nicht wissen, wie viel Geld meine Eltern für mich ausgegeben haben.“ Ob Botox spritzen, Akupunktur oder Triggerpunkte in den Augen lasern – in der Hoffnung auf Besserung macht sie so einiges mit.

Während Sarah redet, schauen unter ihrem kinnlangen, blonden Haar immer wieder ihre Ohren hervor. Sie sind mit goldenen Ohrringen und Piercings geschmückt. Zwei davon sind sogenannte Daith- oder auch Migräne-Piercings. Sie sitzen jeweils in der Knorpelfalte oberhalb des Gehörgangs und sollen laut der traditionellen chinesischen Medizin einen Energiepunkt aus der Akupunktur stimulieren. Wissenschaftlich bewiesen ist deren Wirkung gegen Migräne nicht. Die deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft warnt sogar vor der alternativen Behandlung wegen möglicher Entzündungen. Auch bei Sarah hat das Piercing nichts gegen die Schmerzen gebracht. „Aber es sieht cool aus”, lacht sie.

An bis zu 25 Tagen im Monat Schmerzen

Andauernde Kopfschmerzen sind für Sarah schon lange Normalität. Die Krankheit hat sich seit ihrer Grundschulzeit schleichend angebahnt. Schon früh geht ihre Mutter mit ihr zu Ärzt*innen. Es beginnt ein Marathon an Kopfschmerzsprechstunden, Medikationen und Klinikaufenthalten. In der Realschule nehmen Häufigkeit und Intensität der Attacken zu. Wenn Sarah in den ersten Unterrichtsstunden sitzt, wartet sie oft nur darauf, dass der Schmerz eintritt. Die vielen Reize und das Wissen, der Migräne hier ausgeliefert zu sein, machen ihr zu schaffen. Im Teenageralter hat Sarah an bis zu 25 Tagen im Monat Migräne-Attacken. 

Damit liegt sie deutlich über den 15 Schmerztagen im Monat, ab denen laut der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft eine chronische Migräne vorliegt. Während andere die ersten Partys feiern, macht Sarah eine Psychotherapie und verbringt als eine der jüngsten Patient*innen über einen Monat lang in der Migräne- und Kopfschmerzklinik Königstein. In der zwölften Klasse ist sie kurz davor, das Abitur abzubrechen. Sie habe zu dieser Zeit keinen anderen Ausweg gesehen, erzählt sie mit sanfter Stimme. „Ich hatte das Gefühl, keiner versteht mich, weil keiner weiß, wie schlecht es mir geht.” Letztendlich zieht sie das Abitur durch, nimmt sich danach aber ein Jahr lang eine Pause, um zu überlegen, wie es weitergehen soll.

Sarahs Lebensretter

Dank der Antikörper-Behandlung konnte Sarah ihre Schmerztage bis heute auf 15 im Monat reduzieren. Wie viele Betroffene hat sie ihren Gesundheitszustand in einem Schmerzkalender dokumentiert: Ein massiver Ordner mit einer tabellarischen Übersicht ihrer Schmerzen für jeden Monat seit 2010. Kreuze und Zahlen übersähen die Papierbögen. Für jede Stunde jedes Tages lassen sich die Symptome zurückverfolgen – Übelkeit, Licht-, Lärm- und Bewegungsempfindlichkeit. Außerdem die Schmerzstärke von eins bis zehn und welche Medikamente eingenommen wurden.

Die Kreuze bei den Medikamenten sind für Sarah besonders wichtig: Höchstens zehn darf sie pro Papierbogen setzen. An mindestens 20 Tagen im Monat sollte sie nämlich frei von der Medikamenteneinnahme sein. Sonst droht ihr MÜK. So nennt Sarah Medikamentenübergebrauchskopfschmerzen. Neben den ursprünglichen Kopfschmerzen leiden der Schmerzklinik Kiel zufolge etwa 50 Prozent der Betroffenen chronischer Migräne an zusätzlichen Schmerzen, die durch die Medikamenteneinnahme ausgelöst werden. „Es ist super schwierig, sich an die Regel zu halten, wenn man eigentlich am liebsten doppelt so viele Tabletten einnehmen würde, wie man darf.” Die Medikamente, von denen die Rede ist, sind Triptane. Sie seien ihre Lebensretter, sagt Sarah. Die Option, eine Tablette zu nehmen, wenn sie einen wichtigen Termin hat oder arbeiten muss, beruhigt sie. „Es ist so eine Erleichterung, wenn das Triptan anfängt zu wirken.”

Triptane

Triptane sind speziell für die Akutbehandlung von Migräne entwickelt worden. Die mittlerweile sieben verschiedenen zugelassenen Substanzen wirken gezielt gegen die Mechanismen eines Migräneanfalls. Sie führen zu einer Verengung der bei einer Attacke erweiterten Blutgefäße im Gehirn und hemmen die Ausschüttung entzündlicher Moleküle u.a. auch des Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP). 

Die Schmerzklinik Kiel weist darauf hin, dass die Attacke im Hintergrund allerdings weiterläuft. Daher sollte man sich trotz verminderter Schmerzen schonen und nicht weiteren Reizen aussetzen, die das Nervensystem zusätzlich belasten können. Außerdem können Nebenwirkungen wie ein Schwächegefühl, Müdigkeit und Schwindel auftreten.

Die Migräne beeinflusst ihr ganzes Leben

Seit einigen Jahren arbeitet Sarah als Gestalterin für visuelles Marketing bei Galeria. In der Filiale in der Heidelberger Innenstadt ist sie für die Mitgestaltung der Schaufenster und Verkaufsflächen zuständig. Mittlerweile kommt sie an drei Tagen für jeweils fünf Stunden hierher. Dazwischen hat sie immer einen Tag frei, um sich von der Anstrengung zu erholen. „Wenn mich Leute gefragt haben, warum ich weniger arbeite, war mir das früher super unangenehm, weil ich so ein schlechtes Gewissen hatte”, erzählt sie. Am schlimmsten sei es, wenn andere sie um ihre verkürzten Arbeitszeiten beneiden, fügt sie hinzu. Schließlich sei es ja nicht so, dass sie finanziell dafür kompensiert werden würde.

Als selbstständige Fotografin verdient Sarah sich an ihren freien Tagen ein wenig Geld dazu. Zuhause ist sie nicht dem grellen Licht, den vielen Menschen und Stress ausgesetzt. Hier kann sie Pausen machen und ihre Arbeitszeit an die Schmerzen anpassen. Die meisten Aufträge erhält sie bisher über ihren nicht mehr ganz aktiven Instagram-Account, auf dem Sarah Fotos ihrer bunt lackierten Nägel und verschiedenste Nagellacke mit tausenden von Follower*innen teilt. Auch heute sind ihre Nägel in jeweils fünf verschiedenen Blautönen lackiert.

Wer bin ich überhaupt ohne Migräne? Das hat Sarah sich früher gefragt. Die Krankheit bestimmt nicht nur ihren Alltag, sondern ihren gesamten Lebensweg. „Ohne Migräne hätte ich damals nach dem Abitur gerne studiert und auch meine Hobbies und Freizeitaktivitäten passe ich so an, dass sie mit der Krankheit vereinbar sind." Sarah musste lernen, nicht sauer auf die Migräne zu sein und sich nicht mit ihren Mitmenschen zu vergleichen. Sie hofft, dass sich die Denkweise über die Krankheit auch bei anderen verändert. Noch immer seien viele Leute überrascht, wenn sie hören, dass Sarah einen Schwerbehindertenausweis besitzt. Zu oft werde Migräne nicht ernst genommen und mit Kopfschmerzen gleichgesetzt. Es sei aber auch schwierig, die Krankheit wahrzunehmen, da die Attacken unsichtbar bleiben und die Betroffenen oft allein in ihren dunklen Zimmern darunter leiden.

„Am meisten würde ich mir natürlich wünschen, dass meine Migräne besser wird und neue Behandlungsmöglichkeiten entwickelt werden”, sagt Sarah. Und tatsächlich, ein bisschen Hoffnung bleibt ihr: Bei vielen, so auch bei ihrer Oma, verbessert sich die Migräne nach den Wechseljahren oder verschwindet sogar ganz. Bis dahin möchte Sarah die chronische Erkrankung noch mehr akzeptieren und liebevoll zu sich selbst sein.