Interview

In Gottes Auftrag in Nahost

12. Nov. 2022
Als Propst repräsentiert Uwe Gräbe sechs Jahre lang die evangelische Kirche Deutschlands in Jerusalem. Heute ermöglicht er christlichen und muslimischen Kindern Bildung im Nahen Osten. Ein Gespräch über Religionen, Konflikte und Chancen.

Herr Gräbe, Sie engagieren sich mit Ihrer Arbeit im Nahen Osten. In der Region erfahren viele Menschen Leid. Haben Sie persönlich eine Antwort auf die Theodizee-Frage gefunden, also warum Gott dieses Leid zulässt?

Nein. Ich glaube, wer sagt, dass er eine Antwort auf die Frage hat, hat noch nicht genug gelernt und nicht genügend Leid an sich selbst herangelassen. Ich habe keine Antwort darauf, aber ich erlebe von anderen Menschen, dass Gott ihnen im tiefsten Leiden ganz nahe ist. Wir haben vielleicht aus jahrzehntelangem Wohlstand heraus das Gefühl, es sei der normale Zustand, wenn es uns gut geht. Die biblische Weltsicht aber geht davon aus, dass ganz viel Unglück und Leid und Elend in der Welt ist. Gott bewahrt uns in diesem Elend und trägt uns durch diese Zeit. Gott also nicht als Strippenzieher, der die Welt in Ordnung bringt, wenn es in der Regel wir Menschen sind, die sie in Unordnung gebracht haben, sondern derjenige der uns stärkt und uns die Kraft gibt, selbst mitzuarbeiten am Tikun Olam (hebräisch: Reparieren der Welt). Wir haben also einen Auftrag, das Weltbild zu gestalten und dem Elend etwas entgegenzusetzen.

Der studierte Theologe und Judaist Uwe Gräbe ist Nahostreferent der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS) und Geschäftsführer des evangelischen Vereins für die Schneller Schulen (EVS). Von 2006 bis 2012 war er Propst (Vertreter der Evangelischen Kirche Deutschlands) in Jerusalem.

Diesen Auftrag nehmen sie mit Ihrer aktuellen Arbeit als Geschäftsführer des „Evangelischen Vereins für die Schneller-Schulen“ wahr. Welche Vision verfolgt Ihr Verein mit den beiden „Schneller Schulen“ im Libanon und in Jordanien?

Die „Schneller Schulen“ richten sich an Kinder aus total kaputten Verhältnissen, aus zerbrochenen Familien, aus bitterster Armut, teilweise Waisenkinder. Also genau die Klientel, die für extreme bis extremistische Gedanken anfällig sind. Christliche und muslimische Kinder besuchen die Schulen und Internate gemeinsam. Wenn sie in der Internatsfamilie leben, lernen sie ganz selbstverständlich, was dem anderen wichtig ist. Das muslimische Kind lernt, was sein christlicher Zimmerkamerad an Weihnachten oder Ostern feiert. Umgekehrt lernen die christlichen Kinder, dass es nicht so gut ist, vor den muslimischen Weggefährten während des Ramadan aus der Chipstüte zu knabbern, sondern es vielleicht mal wegzulassen und dann, umso schöner, abends das Fastenbrechen miteinander zu feiern.

Auf der Webseite des Vereins schreiben Sie, dass sich viele ehemalige Schüler*innen in der Gesellschaft für die Verständigung zwischen den Religionen einsetzen. In welcher Form passiert das?

Es gibt da zum Beispiel einen Bericht aus dem Libanon, der lange Jahre des Bürgerkriegs durchlaufen hat, wo sich zwei ehemalige Schüler begegnet sind. Der eine stand als Milizionär (Angehöriger einer militärischen Streitkraft) am Checkpoint. Der andere wollte durch den Checkpoint und hat gemerkt, wie sich der Milizionär plötzlich in Grund und Boden schämte. Schließlich ließ der Milizionär den anderen gehen. Er hat die Rolle, die er für sich eingenommen hat, hinterfragt und sich gesagt: Ich kann nicht guten Gewissens, die Menschen kontrollieren und sich ausziehen lassen, die damals die Schulbank mit mir geteilt haben. Die Menschen kommen nicht aus dem bestehenden System im Libanon heraus, aber sie handeln doch anders. Für alle, die unsere Schule durchlaufen haben, ist es selbstverständlich, dass sie später den interreligiösen Kontext weiterleben. Dass sie den Kontakt zu den Kolleg*innen aus anderen Religionen halten und nicht mitmachen, wenn über die jeweils anderen schlecht geredet wird.

Welche Rolle hat der Glaube und die Religion in Ihrer Kindheit und Jugend gespielt?

Ich glaube, eine tragende Rolle. Es war eine selbstverständliche Begleitung in meinem Leben, dass der Glaube immer da ist. Ich bin im Kinder- und Jugendgottesdienst gewesen und habe viel von meinen Eltern aufgesogen. Später hatte ich das Glück, in einer sehr frommen Jugendarbeit zu sein und auf der anderen Seite einen kritischen Religionslehrer zu haben. Aus dieser Spannung heraus kam bei mir die Frage auf: Was ist denn nun an allem dran? Um mir ein eigenes Urteil zu bilden, wollte ich die Schriften selber lesen können. Also habe ich Hebräisch und Griechisch gelernt und Theologie studiert.

Während Ihres Theologie-Studiums haben Sie ein Auslandsjahr in Jerusalem verbracht. Später sind Sie aus beruflichen Gründen für sechs Jahre in die Stadt zurückgekehrt. Wie kam es dazu?

Ich arbeite gerne an Fragen, die mich beschäftigen, weiter. Durch das Studium in Jerusalem habe ich die Thematik Israelis und Palästinenser mitgenommen. Nachdem ich dort im israelischen Kontext studiert habe, wollte ich genauer wissen, wie die Denke im palästinensischen Bereich ist und habe meine Doktorarbeit über palästinensische Theologie geschrieben. Durch meinen Einblick in beide Seiten kam ich später in die engere Wahl, die Stelle als Propst in Jerusalem zu übernehmen, wo ich von 2006 bis 2012 war. Es hat sich also eins ums andere ergeben. Der liebe Gott hat mich dahin geleitet.

Jerusalem gilt als ein Brennpunkt des Nahost-Konfliktes. Wie haben Sie die Stimmung zwischen den Konfliktparteien vor Ort zwischen 2006 und 2012 wahrgenommen?

Erst mal sind wir zu eng geführt, wenn wir der „Nahost-Konflikt“ sagen. Es gibt im Nahen Osten sehr viele Konflikte und der israelisch-palästinensische Konflikt ist einer davon. Als meine Familie und ich 2006 kamen, war die zweite Intifada, also der zweite Palästinenser-Aufstand gerade zu Ende. Bis 2012 ging es eigentlich immer bergauf. Jedes Jahr kamen mehr Touristen, mehr Pilger und unsere Arbeit hat geboomt. Wobei der israelisch-palästinensische Konflikt natürlich immer als Hintergrundmelodie da war: Wenn man durch die Westbank fuhr und ständig an den Checkpoints hängen blieb oder miterlebte, wie selbst in guten Zeiten Häuserzerstörungen und Landenteignungen passieren. Und Israelis sich auf der anderen Seite vor Raketen aus dem Gaza-Streifen fürchten müssen. Ich war sehr dankbar, dass ich in meiner Funktion als Propst ganz viele Kontakte zu beiden Seiten haben konnte.

Was waren Ihre Aufgaben als Propst in Jerusalem?

Der Propst ist zum einen Gemeindepfarrer für die deutschsprachige Gemeinde, die in Israel, in palästinensischen Gebieten und Jordanien ansässig ist. Außerdem repräsentiert er die evangelische Kirche in Deutschland und leitet die Einrichtungen. Damit ist er auch Ansprechpartner für die evangelische Kirche in Deutschland gegenüber den anderen Kirchen im Land, aber auch gegenüber den politischen Stellen in Israel, Palästina und Jordanien.

Was haben Sie aus Ihrer Zeit als Propst in Jerusalem gelernt?

Jemand hat mal gesagt, der Kopf ist rund, damit die Gedanken die Richtung ändern können. Ich habe gelernt, dass Positionen, von denen ich dachte „so ist es“ am Ende doch nicht richtig waren, in dem ich den Menschen zugehört und mir aus unterschiedlichen Narrativen eine neue Meinung gebildet habe. Das ist wichtig, um sich überhaupt im Nahen Osten zu bewegen, ganz egal in welchem Land. Auch scheinbar absurde Positionen haben einen Hintergrund und sind irgendwie erklärbar.

"Auch scheinbar absurde Positionen haben einen Hintergrund und sind irgendwie erklärbar."

Gefällt Ihnen Ihre Arbeit?

Ich glaube, ich habe den schönsten Beruf der Welt. Ich war sehr lange Gemeindepfarrer und es ist ein Geschenk, Menschen an den Wendepunkten ihres Lebens zu begleiten. Zur Taufe, wenn ein Kind geboren ist, zur Trauung, wenn sich zwei Menschen das Ja-Wort geben oder wenn jemand gestorben ist. Und auch im Alltag zu vermitteln, dass es noch einen anderen Sinn im Leben als mein Haus oder meinen Urlaub gibt. Ich bin unglaublich dankbar, dass ich die Chance bekommen habe, mich nochmal zu spezialisieren. In der Kirche nennt sich das Sonderpfarramt. In meinem speziellen Bereich habe ich die Möglichkeit Nahost-Arbeit zu gestalten, gerade zu einer Zeit, in der dort ganz viel zusammenbricht. Im Libanon müssen Schulen geschlossen werden, weil sie Konkurs gehen. Dafür zu sorgen, dass Kinder dort weiterhin eine gute Bildung bekommen, ist ein Riesenprivileg.

Haben Sie ein Lieblingszitat aus der Bibel, das Sie den Leser*innen gerne mitgeben würden?

Ich habe einen Lieblingspsalm, den Psalm 139. Darin heißt es: „Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.“ Das heißt, dass ich eigentlich nie so weit weg von Gott sein kann, dass er mich nicht auch noch tragen und begleiten könnte. Selbst in Momenten der Entfremdung ist Gott der, der mir am allernächsten ist.