„Man ist so vor den Kopf genagelt, man rechnet mit allem, aber nicht mit so einer Diagnose. Da bricht eine Welt zusammen."
Der Kopf will, der Körper nicht
Um kurz nach 10 Uhr morgens an einem warmen, sonnigen Tag treffe ich meine Tante Petra. Sie ist 53 Jahre alt und wohnt in einer schönen Wohnung eines Drei-Parteien-Hauses in Grötzingen in der Nähe von Karlsruhe. Mit einem riesigen Lächeln auf den Lippen macht sie mir die Wohnungstür auf, wir begrüßen uns herzlich, wie immer, wenn wir uns sehen. Wir haben ein vertrautes Verhältnis, eigentlich wie zwei Freundinnen. Auch von Elliot, ihrem schwarzen Kater mit den smaragdgrünen Augen, werde ich neugierig an der Tür begrüßt. Petra ist bereits fertig gemacht, denn wir gehen gemeinsam zu ihrem Physiotherapeuten-Termin. Ihre blonden, mittellangen Haare sind zu einem strengen Zopf nach oben gebunden, als Oberteil trägt sie ein Basic-T-Shirt in schwarz. Dazu eine graue, dreiviertel-lange Hose aus lockerem Stoff mit einem schwarz-rosanen Leoparden-Muster. Sie sagt, dass es losgehen kann, ich lege noch schnell ein paar Sachen ab. Sie ist gut gelaunt, eigentlich meistens, wenn ich sie sehe. Petra und mein Onkel Uwe wohnen im 1. Stock. Während ich die Treppe zur Wohnung in ein paar Sekunden hinaufgestapft bin, wird das Heruntergehen die erste, große Herausforderung an diesem Tag für Petras Körper sein.
Denn Petra leidet an der tödlichen Krankheit Amyotrophe Lateralsklerose – kurz ALS. Eine Erkrankung des zentralen und peripheren Nervensystems, bei der die Nervenzellen absterben und Impulse vom Hirn und Knochenmark nicht mehr an die Muskeln weiterleiten können. Folglich bauen die Muskeln ab und es treten Muskelschwäche und Muskelschwund auf. Dazu kommt es bereits bei 30- bis 50-prozentigem Anteil an geschädigten Nervenzellen. In Deutschland sind etwa 6000 bis 8000 Menschen erkrankt, jährlich kommen etwa 2000 neue Patient*innen dazu. Die meisten sind zwischen 50 und 70 Jahre alt. Bei Petra sind die Arme und Beine betroffen, das ist die spinale Form der Erkrankung. Sie leidet bereits seit 12 Jahren an der Krankheit. Bei ihr schreitet sie langsam voran, allgemein kann dies jedoch nicht vorausgesagt werden und ist bei jedem Betroffenen unterschiedlich. Beginnen die Symptome mit Sprach-, Kau- und Schluckbeschwerden, spricht man von der bulbären Verlaufsform. Bei der respiratorischen Form ist die Atemmuskulatur als erstes betroffen.
Höchstarbeit für den Körper
Wir verlassen die Wohnung, Petra muss nun die Treppen heruntersteigen. Sie sagt zuvor, dass sie an diesem Tag extra nicht nach Hilfe fragen wird, um mir so authentisch wie möglich einen Tag in ihrem Alltag zu zeigen, an dem sie die meiste Zeit alleine ist. Der Gang die Treppen herunter ist überraschend für mich. Mir war nicht bewusst, wie beschwerlich es mittlerweile doch für sie ist. Petra hält sich seitlich mit beiden Händen am Geländer fest, während sie in langsamen und konzentrierten Bewegungen erst das eine und dann das andere Bein quer die Treppenstufen runter setzt. Sie schnauft tief, ihr ganzer Körper wackelt unsicher. Nicht nur die 30 Grad draußen machen ihr zu schaffen, diese Treppen hinunterzugehen ist für sie Höchstarbeit. Sie muss jeden Muskel ihres Körpers mit ganzer Konzentration anspannen, es ist also wie ein Marathonlauf für eine gesunde Person. Endlich unten angekommen lehnt sie sich völlig erschöpft vor der Haustür gegen die Wand. Man sieht ihr die Anstrengung an, Falten bilden sich auf ihrer Stirn, ihre tiefblauen Augen wandern durchs Treppenhaus, während sich ihr Atem langsam wieder beruhigt.
Petra berichtet positiv von ihrem Leben vor der Krankheit. Sie beschreibt es als recht gewöhnlich – viel Arbeit, viele Freunde, viel unternommen. „Ich hatte ein wundervolles Leben“, sagt Petra entschlossen. „Das klingt, als würde ich schon mit einem Bein im Grab stehen, wie gruselig.“ Sie lacht herzhaft. Aber wenn sie ein Wort nennen müsste, wäre es „leicht“. In ihrer Freizeit war sie sehr aktiv und sportlich, hat sechs Jahre lang Rock 'n' Roll getanzt, danach Street Dance. Außerdem ist sie leidenschaftlich Eislaufen, Walken und jeden Sonntagmorgen mit ihrem Mann schwimmen gewesen.
Die ersten Symptome
Gerade in ihrem geliebten Tanztraining bemerkte Petra im Jahr 2008 das erste Mal, dass etwas mit ihrem Körper nicht stimmte. Zu einem 8er-Takt lernten sie neue Tänze, sie zählten also – 5, 6, 7, 8. Der Oberkörper tanzte die Choreografie wie er sollte, ihr rechtes Bein konnte jedoch plötzlich die Geschwindigkeit nicht mithalten. „Da habe ich mir im ersten Moment aber nichts dabei gedacht. Wenn man sich nicht krank fühlt, dann denkt man darüber ja auch nicht nach, dass das irgendwelche Auswirkungen hat.“ Bis es sich ein paar Wochen später bei der Arbeit zeigte. Sie drehte einer Kundin einen Lockenwickler auf und merkte, wie ihr Daumen sich nicht so mitbewegte, wie sie wollte. Daraufhin ging Petra das erste Mal zu ihrem Hausarzt. „Das werde ich auch nie vergessen: Ich habe ihm meine Symptome geschildert, er guckt mich an und sagt zur mir, dass ihm jetzt eins einfällt, das wäre aber was ganz Schreckliches und da versteifen wir uns jetzt mal nicht drauf, wir gucken mal anderweitig.“ Mit einem festgestellten Eisen- und Folsäuremangel, den sie dann auch behandelte, hatte sie die nächsten zwei Jahre kaum noch Symptome.
2010 ging dann alles von vorne los: Das Bein hing wieder hinterher, der Daumen machte nicht richtig mit. Petra ging in die Neurologie der Marienklinik in Stuttgart. Dort bekam sie die Diagnose: Amyotrophe Lateralsklerose. Die Worte des Arztes, die Petras ganzes Leben ändern, hätten nicht plumper formuliert sein können. Sie gibt sie angespannt, mit leicht zittriger Stimme wieder: „Sie haben ALS. Eine Nervenbahnen-Erkrankung, an der man sterben wird. Sie haben noch drei bis fünf Jahre zu leben. Wir entlassen Sie morgen, telefonieren Sie mit ihrem Neurologen und Hausarzt, die werden Ihnen alles Weitere erklären.“ Die Worte trafen sie mit einer unbeschreiblichen Härte. „Die Gefühle kann ich gar nicht beschreiben, weil man in dem Moment gar nichts fühlt. Man ist so vor den Kopf genagelt, man rechnet mit allem, aber nicht mit so einer Diagnose. Da bricht eine Welt zusammen. Ich habe meine innere Melodie verloren in dem Moment. Man ist immer beschwingt durchs Leben gegangen, das war dann weg. Jetzt stirbst du.“ Tränen laufen über Petras Wangen bei diesen Worten. Auch 12 Jahre später sitzt es tief.
Seit 2013 ist sie in der Erwerbsunfähigkeitsrente. Zuvor übte sie ihren absoluten Traumberuf aus, sie arbeitete als Friseurin. Der Alltag war stressig und brachte sie oft an ihre Grenzen. Sie glaubt, dass der Stress der Arbeit ein Faktor für den Ausbruch der Krankheit darstellen könnte, auch wenn man es nicht nachweisen kann. Und trotzdem würde sie sich immer wieder für diesen Beruf entscheiden.
Eine Kämpfernatur
Zurück im Treppenhaus. Wir packen Petras Rollator in mein Auto, dann geht es zu ihrer wöchentlichen Physiotherapie-Stunde im Ort. In der Praxis von Sabine Freitag-Weise ist sie, um die Funktionen und Muskeln, die sie noch benutzen kann, so gut und lange es geht zu erhalten. Sie macht an diesem Tag Übungen für Hände, Bauch, Beine und Gleichgewicht. Einige Übungen fallen ihr schwer, manches läuft sehr gut. Am Ende der Sitzung bekommt sie eine Rückenmassage, um die verspannten Muskeln zu lockern. In die Praxis kommen auch MS-, Parkinson- und Schlaganfallpatient*innen. Aber nicht jede*r macht so gut mit wie Petra. Sabine Freitag-Weise sagt: „Jeder geht anders mit der Krankheit um, dann hängt es vom Alter ab, Einstellungssache zur Krankheit und so weiter. Petra ist eine Kämpfernatur, das hat man nicht immer.“
Danach geht es weiter zur Ergotherapie in die Praxis von Agnes Werner in Karlsruhe-Durlach. Hier führt sie hauptsächlich Übungen für die Finger durch und arbeitet mit Gegenständen. „Letztendlich geht’s nicht so sehr um die Kraft dahinter, sondern darum, den Bewegungsablauf wieder bewusst zu machen. Es gibt auch Bewegungen, die wir geführt machen. Einfach, weil sie selbstständig nicht mehr möglich sind“, sagt Agnes. Die Stimmung zwischen den beiden ist locker und humorvoll, ständig wird ein Witzchen gerissen. „Das hält mich dran an der Therapie, das gibt einem Motivation“, meint Petra. Agnes betont im Gespräch mit Petra: „Und was man halt sagen muss, wie positiv Sie trotzdem an die Sachen gehen und das sagen auch alle Praktikanten, die hier mit reinschauen.“
Als wir wieder zu Hause ankommen, ist Petra deutlich geschwächter als am Morgen, die Treppen muss sie natürlich trotzdem hoch. Das klappt zwar etwas schneller als das Heruntergehen, trotzdem ist es ein Kraftakt und sie muss sich in der Wohnung angekommen erstmal ein wenig ausruhen. Später zeigt sie mir, wie sie das Essen für ihre Katze Lucy und ihren Kater Elliot zubereitet. Auch das ist eine Tortur für sie. Die Dose bekommt sie nur mit dem Mund auf, ihre Hände haben keine Kraft, an der Lasche zu ziehen. Danach bereitet sie sich selbst eine Scheibe Brot mit Frischkäse zu. Der ganze Vorgang dauert deutlich länger als bei einem gesunden Menschen und Petra bedarf einigen Hilfsmitteln: Ein Schneidebrett mit Rand, damit die Scheibe Brot nicht wegrutscht und ein Messer, welches eigentlich ein Fischmesser ist, damit sie den Frischkäse leichter streichen kann. Ihre Zähne kommen für das Öffnen der Frischkäse-Packung ebenfalls wieder zum Einsatz. Das anschließende Heben des Tellers auf den Rollator, den sie in der Wohnung zum Laufen benutzt, endet oft damit, dass alles auf dem Boden landet, meint sie. Das sind dann die Momente des Frusts, in denen Petra mit sich selbst kämpft – denn der Kopf will, der Körper nicht.
Der wichtigste Mensch in Petras Leben kommt um Viertel nach vier nach Hause: ihr Mann Uwe, mein Onkel. Er ist ihr Fels in der Brandung und ihr größter Halt in Momenten der Wut und Trauer. Ihre Beziehung würde ich als neckisch und freundschaftlich, aber auch sehr liebevoll beschreiben. Der Alltag ist dennoch oft schwierig für ihre Ehe. Uwe hat kaum eine Minute zum Durchatmen, nach seiner täglichen Arbeit als Maler in Vollzeit hilft er Petra bei jeder Tätigkeit. Das zehrt enorm an seinen Kräften, wirklich Freizeit hat er nicht, sein Geduldsfaden ist über die Jahre kürzer geworden. Aber vor allem erträgt er es nicht, wenn sie an ihre Grenzen kommt. „Wenn ich da bin und ich sehe, wie sie sich plagt, dann weiß ich, wie sie sich unterm Tag plagen muss, wenn sie alleine ist. Das kann ich nicht sehen, dann nehme ich ihr die Arbeit ab“, sagt er.
„Wir leben von Tag zu Tag, so gut es geht, mit den vielen Herausforderungen, die uns gestellt werden. Und wir gucken, dass wir sie gemeistert bekommen."
Petras Erkrankung ist leider nicht heilbar. Doch sie und Uwe versuchen immer, das Beste daraus zu machen. „Wir leben von Tag zu Tag, so gut es geht, mit den vielen Herausforderungen, die uns gestellt werden. Und wir gucken, dass wir sie gemeistert bekommen. Und wenn die nächste Schwierigkeit kommt, mit der man nicht gerechnet hat, dann schauen wir uns das an. So leben wir.“