„Ohne das Notfallhandy ist es für mich wie Urlaub“
Die Schutzengel unserer Tiere
In der Einfahrt ihres Hauses belädt Marion ihren Einsatzbus. Sie verstaut zwei große Fallen im Innenraum, in dem schon vier Transportboxen für Katzen stehen. Der Kofferraum ist voll mit Kisten, Handtüchern und Futterbeuteln. „Die Autos von Tierhelfern sind immer chaotisch“, lacht Marion. Dann startet sie den Motor und fährt zur ersten Station des Tages. Es ist ein geplanter Einsatz, der neben unvorhersehbaren Notfällen den Arbeitsalltag der „Tier-Engel unterwegs“ bestimmt. Marion versucht heute, vier Streunerkatzen einzufangen. Das sind Katzen, die niemandem gehören und die sich unkontrolliert vermehren. Sie wurden von Hofbesitzer*innen eine halbe Stunde Fahrtzeit entfernt gemeldet. Marion will die Streuner ins Tierheim Ludwigsburg zur Kastration bringen und später wieder freilassen.
Gegründet, um zu helfen
Die 42 Mitglieder der Bietigheimer Tiernothilfe haben sich Ende 2019 zusammengeschlossen. Ihre Aufgaben: Tieren in akuten Notfällen helfen, betroffene Besitzer*innen beraten und vorbeugend handeln. Streunerkatzen machen die Hälfte aller Einsätze aus, schätzt Marion. Der Deutsche Tierschutzbund sieht freilebende Katzen, die sich unkastriert zwei bis dreimal im Jahr fortpflanzen, als großes Problem an. Die „Tier-Engel unterwegs“ kümmern sich auch um verunfallte Katzen, Vögel, Wildtiere und viele Fälle mehr.
Am Einsatzort, einem Haus am Feldrand, angekommen, wartet schon die Bewohnerin. Im Hinterhof präpariert Marion die zwei Katzenfallen mit Futter und zieht sich zurück, um die Tiere nicht zu stören. „Wartezeit ist Entspannung, hier schöpfe ich Kraft und kann mich sammeln“, sagt sie. Die Gründerin kam zum Tierschutz, als eine gute Freundin ein Katzenhospiz eröffnen wollte. Marion sagte sofort zu – ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken. Wenn sie heute erzählt, dass sie bis vor sieben Jahren nichts mit Tierhilfe zu tun hatte, glaube ihr das keiner. Aber nicht alle Einsätze sind so entspannt wie dieser.
Wut, Trauer und Dankbarkeit
Mit schlimmen Unfällen und getöteten Tieren geht Marion gefasst um. Der Tod sei ihr nie egal, aber mit der Zeit habe sie eine Schutzmauer aufgebaut, die ihr erlaube, dem Einsatz mit einer gewissen Distanz zu begegnen. Marion ist zweite Vorständin des Katzenhospiz „Villa Anima“ in Backnang, das ihre Freundin gegründet hat. Ein Ort, an dem kranke und alte Katzen einen liebevollen Lebensabend verbringen können. „Dort ist der Tod etwas alles umgebendes“, sagt sie. „Aber auch ich komme irgendwann an meine Grenzen.“ Etwa bei einem Fall von Katzenentführung. Ein Mann fing mehrere Katzen ein, um sie auf seinem Gartengrundstück mutmaßlich zu töten. Als Marion die Tiere fand, gebot sich ihr ein schreckliches Bild. Damals, sagt sie, war ihr nach „Wutausbrüchen und einem Schreikrampf“ zumute. Das sind Momente, in denen Marion sich ausgelaugt und kraftlos fühlt.
Gibt ihr die Tierhilfe trotz des Elends einen Sinn? Marion nickt heftig: „In 98 Prozent der Fälle sind uns die Besitzer so dankbar, weil die Ungewissheit viel schlimmer ist als die Gewissheit. Und nahezu alle wollen ihr Tier zurück.“ Sie haben den Wunsch, ihre Katze zu beerdigen, einäschern zu lassen, sich zu verabschieden. Dafür näht Marion extra ein Säckchen und bemalt es individuell – eine Art kleinen Sarg. „Es ist würdelos, eine Katze im Müllsack zu übergeben. Ich hatte das Bedürfnis, die Katze schöner zu überreichen.“ Das hilft Marion, mit dem Einsatz abzuschließen. An manche Tiere erinnert sie sich bis heute.
Auch interessant
Zusammenhalt und Teamspirit
An stressigen Tagen, in denen ein Einsatz den anderen jagt, kommt Marion kaum zum Essen. Das Team kümmert sich umeinander, bringt Vesper und Getränke mit. Welche Eigenschaften sollte ein neues Teammitglied mitbringen? „Empathie, Tierliebe – und ein bisschen verrückt muss man sein“, lacht Marion. „Es klingt komisch, ist aber so. Man muss schon ein bisschen durchgeknallt sein, um nachts um vier wegen irgendeinem Tier rauszufahren. Wir sind schon ein bisschen ein verrückter Haufen – aber gerade deswegen funktioniert es so gut.“ Sie sei unendlich dankbar, wenn sie das Notfallhandy an ihre Kollegin abgeben und abschalten kann. Denn diejenige, die zuständig ist, bleibt auch nachts im Vibrationsmodus immer erreichbar.
Das Team ist das Rückgrat des Vereins. Gemeinsam arbeiten sie Einsätze emotional auf und unterstützen sich am Telefon, wenn ein Mitglied nachts an abgelegenen Orten im Einsatz ist. Wenn Marion über das Erlebte reden muss, ist sofort eine Kollegin telefonisch da, hört zu. Marion blickt auf ihr Handy – bis zu 40 Mal klingelt es am Tag. „Ohne das Notfallhandy ist es für mich wie Urlaub", sagt sie nach dem Auflegen. Die Gründerin koordiniert Einsätze, verschickt Sprachnachrichten, telefoniert mit Besitzer*innen vermisster Tiere.
Verantwortung für Tier und Mensch
Nach zwei Stunden ist keine Katze in Sicht. Marion bricht den Einsatz ab und fährt zum nächsten: Eine ältere Dame, deren Mann kürzlich verstorben ist, kann ihren Kater finanziell nicht mehr versorgen. Die Tierarztkosten sind zu hoch. Der Kater ist krank und will nicht fressen. Die Besitzerin wandte sich ans Tierheim, das den Transportauftrag an die „Tier-Engel unterwegs“ weitergegeben hat. Als Marion das Tier abholt, um es im Tierheim behandeln zu lassen, weint die Frau bitterlich. Minutenlang steht Marion im Flur und lässt der Besitzerin Zeit, sich von ihrer Samtpfote zu verabschieden. „Jetzt wird dir geholfen“, schnieft sie. Marion nickt und redet der Dame immer wieder gut zu: „Sie haben genau das Richtige getan.“ Nachdem der Kater im Auto verstaut ist, muss sie erst einmal kurz durchatmen. Marion und ihr Team leisten nicht nur Tierhilfe, sondern auch viel Seelsorge bei deren Besitzer*innen. Diese Schicksale berühren sie. „So ist es, Verantwortung zu übernehmen. Statt das Tier leiden zu lassen, hat sie sich Hilfe geholt“, sagt Marion anerkennend über die Besitzerin.
Ein starkes Netzwerk aus Partner*innen
Die meisten Einsätze entstehen durch verletzte oder kranke Tiere. Hier kommt die Partnertierärztin der „Tier-Engel unterwegs“, Helmka Hoffmann-Füßer aus Bietigheim, ins Spiel. Notfälle nimmt sie auch frühmorgens und spätabends an – und ist so eine große Stütze für den Verein. Frau Hoffmann-Füßer ist selbst im Tierschutz tätig. Wildtiere behandelt sie immer kostenlos. Zu ihr bringt Marion verunfallte Katzen, nachdem sie die Tiere mit dem Chiplesegerät gescannt hat. Über die Tierschutzorganisation Tasso werden mithilfe der Chipnummer die Besitzer*innen ausfindig gemacht. Ist das Tier nicht registriert, wird per Social Media die Suche nach seinen Menschen gestartet. Wichtiger Partner des Vereins ist auch das Tierheim Ludwigsburg. Dort arbeitet eine Tierärztin, zu der Marion den Kater der alten Dame nun bringt.
Jeden Tag ein neuer Einsatz
Dass die „Tier-Engel unterwegs“ dringend gebraucht werden, zeigt sich an der Anzahl ihrer Einsätze. Im ersten Jahr waren es 300, im zweiten zählte das Team das Doppelte. 2022 wurde schon im Frühling die 300er-Marke überschritten. Es wird ein anstrengendes Jahr. Auf Instagram dokumentiert Teammitglied Nela Mauermann fast jeden Einsatz. Tote Tiere verabschiedet sie mit den liebevollen Worten „Komm’ gut über die Regenbogenbrücke“. Das Besondere an den „Tier-Engeln unterwegs“: Sie übernehmen jeden Notfall. Viele Organisationen haben sich auf Streunerkatzen spezialisiert, andere auf Tierrettung. Marion sagt, es gebe wenige Gruppen, die alle Fälle übernehmen.
Und vieles davon geht auf eigene Kosten: Mit Spendengeldern bestellen die „Tier-Engel unterwegs“ nur Ausrüstung. Gespendete Transportboxen, Tierhandschuhe und Futterbeutel erreichen den Verein über ihre Amazon-Wunschliste. Den Sprit zahlt jede*r selbst, alle fahren mit ihrem privaten Auto zu den Einsätzen. Ihr Ziel: ein gesponserter Einsatzbus. Die Spenden geben Marion Kraft und Mut, um weiterzumachen. Sie ist der Meinung, dass für besseren Tierschutz eine Katzenschutzverordnung eingeführt werden sollte. Das heißt: Alle Tiere müssen kastriert, gekennzeichnet und registriert werden. Dafür setzen sich auch der Deutsche Tierschutzbund und Tasso ein. „Dann sind wir irgendwann vielleicht arbeitslos, aber das sind wir gerne in diesem Fall“, sagt Marion. Als erste baden-württembergische Kommune hat Berglen 2019 das Gesetz erlassen.
Nach fünf Stunden im Einsatz beendet Marion den Tag ausnahmsweise früh. Wie geht es ihr? „Eigentlich ist das ein Fulltime-Job. Viele Menschen sehen nicht, was alles hinter den Einsätzen steckt.“ Die Gründerin hat eine letzte schöne Aufgabe für heute: Eine Katzenmama und ihre drei Jungen dürfen nach der Kastration das Tierheim verlassen. Marion entlässt sie an ihrem Zuhause, einem Wohnhaus mit angrenzender Scheune, wieder in die Freiheit.