„Ich vermisse den deutschen Herbstwald“
Nach langer Zeit sehe ich meine ehemalige Lehrerin wieder – dieses Mal bei Skype. Kirsten sitzt am Esstisch, an dem ich auch schon einmal saß. Bücher stapeln sich, ein Bild von einem Pferd hängt gerahmt an der Wand. Seit drei Jahren wohnt sie in Asunción und unterrichtet dort Deutsch als Fremdsprache. „Na, da biste ja wieder!“, begrüßt sie mich.
Hast du schon als Kind davon geträumt, irgendwann im Ausland zu leben und zu arbeiten?
Nee, als Kind wollte ich eine Zeit lang Musikerin werden. Und dann träumte ich davon, Pferdewirtin zu sein.
Gibt es etwas, das du an Deutschland vermisst?
Je länger man weg ist, desto mehr weiß man bestimmte Dinge zu schätzen. Ich vermisse manchmal den deutschen Herbstwald. Es gibt Phasen, da träume ich davon, einen langen Spaziergang durch den Herbstwald zu machen. Mit seinen roten, gelben und bunten Blättern.
Warum hast du dich 2015 für den Auslandsschuldienst entschieden?
Meine Liebe zu Südamerika ist schon älter. Mit Anfang 30 bin ich mehrmals durch Lateinamerika gereist. Einmal eine längere Zeit hier leben zu können, war ein sehr großer Wunsch von mir.
Stimmt. Ich erinnere mich noch, dass sie uns Schülern damals in der neunten Klasse Fotos aus dem Regenwald gezeigt hat. Für meine beste Freundin Anna war damals der Regenwald weniger interessant. Sie hatte sich in unsere Lehrerin verliebt und konnte sich während des Unterrichts vor Aufregung kaum halten. Es gab keinen Satz und keine Bewegung von Kirsten, über die wir im Unterricht nicht lachten. Pubertierende Mädchen eben.
Wie hast du dich auf den Auslandsaufenthalt vorbereitet?
Ich habe natürlich erst einmal angefangen Spanisch zu lernen, habe auch viel recherchiert und gelesen. Es gibt aber auch einen Vorbereitungskurs für Lehrer, die ins Ausland gehen. In diesen Kursen geht es um interkulturelle Kompetenz und solche Sachen. Und es gab einen Sicherheitskurs mit einer tollen Trainerin. Sie probte mit uns Teilnehmern gefährliche Situationen. Zum Beispiel wie du dich verhältst, wenn du mit deinem Auto an einer Ampel stehst und jemand kommt mit einer Pistole und fordert: „Steig aus und gib mir die Autoschlüssel!“
Und was macht man dann?
Man tut das, was die Leute von einem wollen. Man versucht nicht den Helden zu spielen, sondern steigt vorsichtig aus, damit der Dieb nicht denkt, dass man selbst ’ne Pistole zieht. Insidertricks.
Sie grinst.
Hast du eine ähnliche Situation schon mal in Asunción erlebt?
Lautes Lachen.
Nee, nee, nee! Einmal hat mich die Polizei angehalten, weil ich falsch abgebogen bin. Es ist kein Geheimnis, dass die Polizei hier korrupt ist. 150 Euro wollten die abkassieren. Das ist hier ein halber Mindestlohn, völlig absurd. Ich habe ihnen dann umgerechnet 25 Euro gegeben. Das war auch okay.
2016 habe ich Kirsten gemeinsam mit Anna in Asunción besucht. Sie lebt dort als Single in einer Wohnanlage, die Tag und Nacht vor angeblich drohenden Einbrüchen bewacht wird. Die Hausangestellten gehen ein und aus. Ich hatte mich damals gewundert, dass Kirsten so wohnt. Seit ich sie kenne, war sie in linken Gruppen unterwegs und hat immer gegen Ungleichheit und Ungerechtigkeit gekämpft. Ich war verwirrt: die starke, unabhängige Frau in einer bewachten Wohnanlage?
Die reiche Deutsche lebt in Paraguay hinter Mauern. Bekommst du nicht ein schlechtes Gewissen?
Ich habe anfangs sehr damit gehadert, das stimmt. Wobei man sagen muss: Im Vergleich zu den Reichen des Landes wohne ich ja geradezu bescheiden. Hier im Land kann man einen regelrecht obszönen Reichtum sehen. Ich wohne in einer Wohnanlage mit 13 kleinen Häuschen und wir teilen uns den Pool. Dass es hier einen Wachmann gibt, fand ich anfangs sehr merkwürdig. Interessanterweise gewöhnt man sich aber recht schnell daran. Und im Alltag ist der Wachmann super: Wenn ich anfangs Stromrechnungen bekommen und sie nicht verstanden habe, hat er sie mir erklärt.
Die Schüler der Goethe-Schule in Asunción lernen unter anderem Deutsch und absolvieren ein internationales Abitur. Wer geht auf das Colegio Goethe?
Das sind Leute mit Geld. Es ist eine private Schule, die nicht ganz billig ist. Für diejenigen, die ihre Kinder auf die Goethe Schule schicken, spielt es sicherlich eine Rolle, dass man hier die Leute trifft, mit denen man es gesellschaftlich später gern zu tun haben will. Den zukünftigen Anwalt, den zukünftigen Architekten, den zukünftigen Ehepartner. In Paraguay beginnt Networking schon sehr früh.
Ich erinnere mich an meine eigene Schulzeit zurück. Damals hatten Anna und ich für unsere mündliche Abschlussprüfung einen Rap zu der Ballade „John Maynard“ geschrieben. Als Kirsten fragte, ob sie eine Aufnahme davon bekommen könnte, war Anna völlig aus dem Häuschen. Wir brachten ihr die CD inklusive Liebesbrief persönlich in ihrer Wohnung in Altona vorbei. Kurze Zeit später klärte Kirsten meine verliebte Freundin darüber auf, dass sie heterosexuell sei, der Altersunterschied ja ohnehin zu groß und es ihr leid täte. Nach einem Jahr Funkstille trafen wir uns alle wieder auf ein Abendessen und lachten laut. Die Freundschaft hält bis heute an.
In Hamburg hast du zuvor an einer Gesamtschule eine Integrationsklasse unterrichtet. Dort lernen schwächere Schüler von stärkeren und umgekehrt. Wie ist es, nun an einer privaten Schule zu arbeiten, auf die nur reiche Kinder gehen?
Eine Zeitlang hatte ich die Idee mit dem Ausland verworfen, eben weil man dort an privaten Schulen unterrichtet. Letztlich überwog aber mein Wunsch, nach Südamerika zu gehen. Ich bemühe mich aber, die Schüler nicht als Kinder reicher Eltern wahrzunehmen, sondern als Personen. Das funktioniert auch sehr gut. Anfangs dachte ich mir: Tja, das sind bestimmt alles so versnobte Kinder! Um dann sehr schnell festzustellen: Überhaupt nicht!
Was erlebst du an kulturellen und pädagogischen Unterschieden und Herausforderungen?
Wenn meine Schüler hier eine Präsentation halten müssen, haben alle ihre Materialien dabei. Darüber freut man sich natürlich als Lehrerin. Aber dann spulen sie ihr auswendig gelerntes Wissen ab. Das ist in Deutschland ja ganz anders. Wer lernt da noch auswendig?
Sie lacht.
Außerdem ist hier das Äußern von Kritik seitens der Schüler ganz schwierig. Insofern sehe ich es als meine Aufgabe, demokratische Werte vorzuleben. Meine Schüler sollen lernen, dass man Kritik äußern darf. Auch an mir als Lehrerin.
Warum tun sich die Schüler so schwer damit, Kritik zu äußern?
Es sind nicht nur die Schüler. Auch die Erwachsenen haben da ihre Schwierigkeiten. Paraguay war ja bis 1989 eine Diktatur. Meine paraguayischen Kollegen sagen, das stecke den Leuten noch in den Knochen. Deswegen ist man vorsichtig mit dem, was man sagt.
Kommen wir lieber wieder zu den positiven Aspekten des Lebens: Was war der schönste Moment am Colegio Goethe?
Kürzlich war Tag des Lehrers. Als ich in die Klasse kam, hatten meine Schüler schon ein Buffet mit Süßigkeiten aufgebaut. Sie haben mich umarmt und mir ein Ständchen gesungen. Das war ein schöner Moment, aber auch im Alltag sind die Schüler hier sehr nett und herzlich.
Was kann man als Lehrerin aus Paraguay mitnehmen, um es in Deutschland umzusetzen?
Gestern auf unserem Lehrerausflug sagte eine Kollegin zu mir: „Wir Paraguayer machen uns das Leben nicht schwer!“ Und ich glaube, das stimmt tatsächlich. Ich finde es beeindruckend: Die Kollegen hier sind meistens entspannt und freundlich und haben immer Zeit für einen Plausch auf dem Schulflur. Obwohl sie teilweise mehrere Jobs haben müssen, um hier halbwegs gut leben zu können. In Deutschland war es so, dass meine Kollegen und ich meistens gestresst waren und nur selten Zeit für einen Plausch hatten. Die paraguayischen Lehrer sind in dieser Hinsicht meine Vorbilder. Ich sollte gelassener werden!
In welchen Situationen möchtest du noch gelassener werden?
Der Asuncióner Verkehr ist zum Beispiel ein Voll-Desaster. In Paraguay kauft man sich einfach seinen Führerschein. Das heißt im Klartext: Viele Paraguayer können überhaupt nicht Auto fahren! Da muss ich oft sehr an mich halten, um nicht lautstark rum zu schimpfen. Außerdem merke ich hier: Ich bin so deutsch! Also das, was man so mit Deutschsein verbindet: pünktlich, sehr zuverlässig, aber eben auch sehr „eng“. Wenn andere Leute zu spät kommen, gerate ich manchmal geradezu in innerlichen Aufruhr. Da muss ich mir öfters selbst sagen: „Kirsten, bleib doch einfach mal cool, du kannst es ja nicht ändern.“
Wie geht es dir, wenn du an deine Rückkehr nach Deutschland denkst?
Da habe ich gemischte Gefühle. Ich werde sicherlich traurig sein, hier wegzumüssen, freue mich aber auch auf meine Freunde und die Familie. Ich denke darüber nach, aufs Land zu ziehen. Die Idee ist es, ein bisschen ländlicher zu leben, mit Freunden in einer Hausgemeinschaft und mit meinem Pferd Bolero, das ich mir hier gekauft habe. Das Pferd ist eine riesengroße Freude. Wenn ich zu ihm komme, wiehert er mir schon entgegen. Ja, das waren schon immer Träume von mir: kollektives Wohnen und ein eigenes Pferd. Ich denke ja, dass es die Erfüllung von Kindheitsträumen ist, die einen Menschen wirklich glücklich macht.