„Letztens war ich in Bangkok, da meinte einer zu mir: Hä, "Neu in Stuttgart“, oder?“
Keiner kennt keinen
Der Türsteher zählt rund zweihundert Gesichter. Dennis erkennt die Hälfte von ihnen. Alle drängen sich in die Bar. „Ich versuche an der Tür alle Leute zu begrüßen, die ich kenne. Andere gehen schon zielstrebig rein“, erklärt Dennis, während er sich Sabine schnappt und sie extra laut fragt, ob sie neu dabei ist. „Ach, du bist auch das erste Mal dabei?“, freut sich ein Mädel, das zufällig danebensteht.
Wie alles anfing
Dennis hat die Facebook-Gruppe „Neu in Stuttgart“ aus einem Forum heraus gegründet. Grund dafür: Einsamkeit! Wie alles anfing? 2008 bewarb der Hannoveraner sich in Stuttgart. Er wollte raus, weiter weg. Dann das böse Erwachen: Der 33-jährige Bankkaufmann hatte nur zwei ältere Arbeitskollegen, die ihren eigenen Freundeskreis pflegten. „Ich saß jeden Abend ewig im Büro, weil ich nichts zu tun hatte, außer einkaufen“, erzählt er heute lachend. Silvester war er alleine unter vielen und starrte durch das Feuerwerk ins Leere. Umdenken war angesagt. Er entdeckte ein Forum mit Neustuttgartern auf Studi-VZ und bestellte für sich und acht Mitglieder jede Woche einen Tisch in verschiedenen Lokalitäten.
Heute reserviert er nicht nur einen Tisch, sondern eine ganze Bar: „Dadurch, dass ich seit dem ersten Tag alles mache, bleibt die Community am Leben“, erzählt er stolz, die Beine übereinandergeschlagen. 2010 siedelte Dennis auf Facebook um und organisiert seitdem jeden Mittwoch ein Treffen, immer eine andere Location – nur groß genug muss sie sein. Feiern auf den Canstatter Wasen, Weinproben oder eine Exklusiv-Bar auf dem Bahnhofsturm. Neben den Reservierungen beantwortet er Nachrichten, sortiert Fake-Profile aus oder stellt eigene Videos und Fotos auf Facebook und Instagram online. Nicht ohne Grund, denn die Stadt pulsiert: Laut der Stadt Stuttgart leben hier rund 600.000 Menschen, davon sind 48.000 2017 neu zugezogen.
Alte und neue Gesichter
„Es steht eine Party an und du musst mit niemandem was ausmachen“, erzählt der 36-jährige Marek. Er wohnt schon seit Jahren in der Stadt, er ist nicht das erste Mal beim Stammtisch. Sein Kumpel, zwei Köpfe kleiner, nickt zustimmend: „Marek und ich haben uns hier kennengelernt, es ist einfach unverbindlich." Neben den alten Hasen Lukas und Marek steht Jane. Die längere Beziehung in Konstanz ging in die Brüche und ein „Neuanfang“ stand auf dem Plan, erzählt sie taff und positioniert ihre Brille. Konstanz wäre ihr zu ruhig gewesen, also rein ins Stadtleben.
Ein Stammtischbaby bereits geboren
„Bei Neu in Stuttgart sollen Freundschaften entstehen, aber trotzdem geht man unverbindlich durch die Tür“, betont Dennis. Singleparty? Falsch gedacht! Dafür gäbe es andere Möglichkeiten. Aber sag das mal dem Storch! Der ein oder andere scheint sich nicht an die Regeln gehalten zu haben. Schließlich zählt Dennis in seiner Amtszeit 20 Hochzeiten. Eine davon war Maries: „Ich kannte ihn aus dem Studium in Karlsruhe, wir hatten uns aus den Augen verloren und bei einem Public Viewing von „Neu in Stuggi“ zufällig getroffen“, erzählt sie glücklich. Kurz darauf kam sie mit ihm zusammen, sie sind inzwischen verheiratet und es gibt auch schon ein Stammtischbaby.
Anlass, um Freundschaften zu schließen
Weiter hinten, auf zwei Barhockern, sitzen auch noch Mitstreiter. Sie beobachten amüsiert, wie sich 200 Menschen in der kleinen Bar stapeln. Kubanische Musik, alle wirken gut gelaunt. Mit etwas Stolz erzählt sie von einer Freundschaft, die durch den Stammtisch entstand. Damals auf dem Grillfest saß sie Julian zufällig gegenüber. „Wir haben beide einen dreckigen Humor und darum ist es witzig mit ihm“, gibt die 24-jährige Steffi ehrlich zu, ohne mit der Wimper zu zucken. Julian lacht heimlich und tut so, als hätte er das Statement nicht gehört. Die Marketing-Beraterin aus Ingolstadt brach für ihren Job vor zwei Jahren nach Stuttgart auf.
Die Veranstaltungen sind aber nicht alles, was die Online-Community bietet. Wer Lust hat, kann in der Gruppe Beiträge verfassen. Ob auf der Suche nach einem Zimmer, Restaurant-Tipps, einem Tandem-Partner oder einen großen Kürbis – die Posts sind bunt gemischt. Anni sucht jemanden, der mit anpackt: „Hat jemand Zeit am Mittwoch gegen 18 Uhr beim Sofa tragen helfen? Es müsste vom Transporter in die Wohnung (Stuttgart West). Als Entschädigung Bier und diverse andere Getränke.“
Wie mit der Kurzlebigkeit umgehen
Nun scheint auch der Letzte das gelbe Ortsschild vor der kubanischen Hütte entdeckt zu haben. Wer noch an einen Mojito herankommen möchte, kann höchstens durch die Masse crowdsurfen. Das große Mädel, das am lautesten lacht, schafft es auch so. Die Französin Magdalena, 24, ist das erste Mal da und vor kurzem für ein einjähriges Praktikum ins Schwabenland gezogen. Sie ist nicht auf der Suche nach Freunden fürs Leben, sondern eher für nette Abende. Die wünscht sich jetzt auch Waldemar, er ist des Jobs und der Liebe wegen vor einem Jahr hergezogen. „Das mit der Liebe hat nicht so geklappt, nä. Aber ich bin dageblieben. Die Arbeit hat mich gehalten, die Stadt“, ergänzt er und wirkt dabei zufrieden. Dicht am Eingang steht Karo, in ein anregendes Gespräch vertieft. Sie ist das erste Mal da und bereut es nicht. Ihr Motto: „Wenn man nur daheim sitzt, keine wirklichen Hobbys hat, nicht weggeht, dann wird sich nichts ändern."
Traumberuf: Menschen zusammenbringen
Immer häufiger gibt es auch Anfragen von Unternehmen, die die Gruppe als Werbeplattform nutzen wollen. Doch das hat Dennis immer abgelehnt: „Wenn Unternehmen auf der Seite werben wollen, müssen sie auch eine Veranstaltung für die Gruppe auf die Beine stellen.“ Jetzt fangen Dennis Augen an zu leuchten. Sein Beruf als Bankkaufmann würde ihm viel Spaß machen, aber sein Traumjob wäre ein anderer: „Es wäre toll, wenn die Stadt sagen würde: Hey, mach „Neu in Stuttgart“ für uns, für die Stadt.“ Er beißt sich auf die Lippe und erzählt schon fast hoffnungslos, dass die Frage nach finanzieller Unterstützung bei der Stadt Stuttgart bislang aufgrund bürokratischer Hürden vergebens war. Warum nur? Schließlich würde er den 27.000 Mitgliedern der Facebook-Gruppe kulturell etwas bieten – Stichwort Fachkräftebindung. Doch eines steht fest: Das Projekt, unter dem Motto freche Partys und neue Freunde zu finden, hat sich gelohnt. Das hat ihm allein der letzte Thailand-Urlaub bewiesen.