Leben in der DDR 6 Minuten

Fluchtreif - Der Drang nach Freiheit

Heidi schaut auf Stuttgart
„Für die Freiheit muss man Opfer bringen, und das haben wir getan“, sagt Heidi. | Quelle: Mira Trapp
28. Jan. 2024

Emotional, inspirierend, berührend: Getrennt von der Freiheit durch eine Mauer aus Unterdrückung. Der DDR-Dokumentarfilm “Fluchtreif” erzählt von dem tief verwurzelten Drang nach Freiheit einer tapferen Frau. Diese unerschütterliche Entschlossenheit, gegen alle Widerstände für ihre Unabhängigkeit zu kämpfen, soll Bewusstsein in jüngeren Generationen wecken. 

Jede*r kennt Geschichten aus der DDR. Ob aus Filmen, Dokumentationen oder Erzählungen. In einer Zeit, die von Freiheit und Selbstbestimmung gezeichnet ist, ruht in der Vergangenheit früherer Generationen oft eine prägende Erfahrung, ein verborgener Schatz an Abenteuern und Entschlossenheit. „Fluchtreif“, ein Projektfilm, der erstmals auf der MediaNight der Hochschule der Medien (HdM) gezeigt wird, entführt uns in die bewegende, bis jetzt unerzählte Geschichte von Heidrun „Heidi“ Böhmichen.

Sie ist eine Frau, die in den Wirren der DDR-Zeit einen mutigen Schritt in Richtung Freiheit wagte. Ihre Flucht, eingefangen in einem fesselnden Dokumentarfilm, wirft nicht nur ein Licht auf die historisch reiche Vergangenheit. Darüber hinaus erzählt sie auch von den persönlichen Triumphen und Opfern, die mit dem Streben nach Unabhängigkeit verbunden sind. 

Eine Zeit, die noch gar nicht so lange her ist

Noch nicht einmal 40 Jahre ist es her, als die Mauer fiel. Die Vereinigung Deutschlands, die die Geschichte, Politik und Struktur des Landes im gleichen Jahrzehnt zum zweiten Mal komplett umschrieb. Trotz dessen fehle jungen Menschen, vor allem der „Generation Z“, oftmals der Bezug zu der DDR-Zeit, findet auch Heidi. Im Dokumentarfilm „Fluchtreif“ möchte sie das nun ändern. Sie sehen die Notwendigkeit, das historische Bewusstsein der jungen Menschen zu fördern und aufzuklären. 

Das Thema ist zeitlos, die Geschichte von Heidi einzigartig. Es ist kaum vorstellbar, was diese tapfere Frau und ihre Familie durchmachen mussten und umso dringlicher war es, ihre Geschichte für die Nachwelt festzuhalten.

Gefangen hinter der Mauer

Neben einer guten Bildung, sowohl im kulturellen als auch im schulischen, hatte Heidi ebenfalls als Leistungsschwimmerin in der DDR einige Privilegien. Eins davon war für ihre weitere Lebensgeschichte entscheidend: Sie durfte reisen. Für viele heutzutage das Normalste der Welt, fast schon ein Hobby. Für Heidi in der damaligen DDR ein absolutes Luxus-Privileg. „Wir konnten nur nach Prag oder Polen reisen, aber nicht in das kapitalistische Ausland, wie es in der DDR bezeichnet wurde", betont Heidi.

Auf einem Wettkampf in Stockholm wurde sie das erste Mal im Kindesalter mit einer anderen, freieren Welt konfrontiert. Schon ihre Eltern brachten ihr bei, alles zu hinterfragen. Nachdem sie aufgrund ihrer Erzählungen in der Schule von Wettkämpfen gesperrt wurde, merkte sie bereits, dass etwas nicht stimmt.

Ihre beiden Brüder flohen bereits Jahre vor ihr. Der Gedanke war also da, jedoch noch nicht überzeugend genug, um das eigene Leben auf das Spiel zu setzen.

Später, in ihrem Beruf als Krankengymnastin in einer Oberschule, kam sie mit ihrem ersten, ernsthaften Fluchtgedanken in Berührung, ihrem Ansporn zum Freiheitsdrang. Beim Wischen der Tafel rutschte ihr Pullover hoch und das westliche Etikett ihrer Jeanshose zeigte sich. Die Folge? Ein Verweis und der Ausschluss einer späteren Gehaltserhöhung. Diese Erinnerung, dieser Entschluss zu fliehen, machte sie schließlich „fluchtreif“.

„Jetzt hab' ich die Schnauze voll."

Heidrun "Heidi" Böhmichen

Nur 5.000 Menschen flohen erfolgreich nach dem Mauerbau

1961 war ein dunkles Jahr für die Geschichte der Ostdeutschen. Es war das Jahr, in dem die Mauer, die Ost- und Westdeutschland jahrzehntelang voneinander trennte, gebaut wurde. „Das war auch ein Warnsignal. Beziehungsweise, dass man wirklich dann das Gefühl hatte, wir sind eingeschlossen", meint Heidi zu dieser Zeit in ihrem Leben. Rund zwei Millionen Menschen waren bereits geflohen, doch nach dem Mauerbau sanken diese Zahlen drastisch. 

Durch die Erziehung zum liberalen und freien Denken hielt das Heidi aber nicht auf. 13 Jahre später, 1974, flieht sie mit ihrem 5-jährigen Sohn und damaligen Ehemann, um frei zu sein. Frei von einem Regime, das ihre Einwohner überwacht und ihnen den Mund verbietet. Frei von dem sogenannten sozialistischen, kommunistischen Staat, der eigentlich eine Parteidiktatur war. Sie waren eine der Wenigen, denen die Flucht nach dem Mauerbau tatsächlich gelang. Das heißt aber nicht, dass es nicht knapp war.

Was bedeutet es, fluchtreif zu sein?

Damals fiel es auf, wenn ein Auto in der Einfahrt für mehrere Tage unbewegt stand. In jeder Straße wohnte mindestens ein*e Stasi-Mitarbeiter*in. „Die Flucht ist ja kein Kinderspiel", betont Heidi. Um kein Aufsehen zu erregen, brachten sie und ihr damaliger Mann das Auto in die Werkstatt, bevor sie abreisten. Ein Alibi, denn das Auto war eigentlich in Top Zustand.

„Fluchtreif ist man erst dann, wenn man wirklich im Kopf hat: Ich kann hier alles liegen lassen. Das ist alles nicht wichtig. Die Freiheit ist das kostbarste Gut, das man haben kann", meint Heidi.

Von Leipzig ging es mit dem Zug nach Prag. Familien durften dort zu dieser Zeit Urlaub machen. Doch statt den geplanten Rückflug nach Ostberlin anzutreten, ging es mit neuen, gefälschten Ausweisen in einem anderen Flugzeug nach Zürich. Das mag vielleicht simpel klingen. Zumindest in der Theorie, aber in der Umsetzung liegt die Gefahr. Was passiert, wenn man erwischt wird? Gefängnis für viele Jahre, getrennt von Familie, Freunden und der Freiheit.

Die Gefahr des Scheiterns war allgegenwärtig. „Ich hatte Angst, nur Angst", sagt Heidi. Ein bekanntes Gesicht, welches beim Anblick der Familie die Polizei hätte alarmieren können. Der 5-jährige Sohn, welchem Heidi vor der Landung den Mund zu halten musste. Denn sächsisch, typisch ostdeutsch, würde in einem Flieger der in den Westen fliegt, auffallen.

Dann die Erleichterung: Das Flugzeug landet in Zürich und keiner wurde auf die kleine Familie aufmerksam. Ihr Bruder holte sie ab und fuhr mit ihnen nach Süddeutschland. So kam sie zu ihrer neuen Heimat, Stuttgart. Familie Böhmichen ist frei. Frei, aber mit 40.000 Westmark weniger in der Tasche. So viel hat sie ihr Ticket in die Freiheit gekostet.

Heidi malt in ihrem Atelier
Die Malerei wird zum Medium, durch das Heidrun ihre Gefühle, Träume und Erinnerungen teilt.
Quelle: Mira Trapp

Freiheitsdrang im Pinselstrich

In Stuttgart, genauer gesagt in Heidis Atelier, entfaltet sich ein beeindruckendes Spiel aus Farben und Formen. „Zu meinem heutigen Leben gehört unbedingt die Kunst", sagt Heidi. Es ist ein intimer Einblick in ihre kreative Welt, in der die Freiheit im Pinselstrich wieder aufersteht. Hier, zwischen Leinwänden und Malfarben, drückt Heidi ihren tief verwurzelten Freiheitsdrang aus. Ihre Bilder sind mehr als nur Kunstwerke; sie sind lebendige Zeugen ihrer emotionalen Reise. Darüber hinaus drücken ihre Gemälde auch ihre Sehnsucht nach Unabhängigkeit aus.

Sie zeigt nicht nur das handwerkliche Geschick einer Künstlerin, sondern auch die ungebändigte Kraft einer Frau. Sie fasst ihren Wunsch nach Freiheit nicht nur in Worten zusammen, sondern auch auf der Leinwand spiegelt sich das Motiv wider. Der Drang nach Freiheit ist schwer zu überwinden. Er kann jedoch trotzdem zelebriert werden.

Wer Heidis ganze Geschichte erfahren möchte, welchen Hindernissen und Erkenntnissen sie und ihre Familie vor und nach der Flucht begegnet sind, kann sich den ganzen Dokumentarfilm an der Hochschule der Medien anschauen. Die Premiere des Films findet am 1. Februar, auf der Media-Night statt. Ab 18 Uhr ist der Dokumentarfilm „Fluchtreif“ auf dem Gelände der HdM mit den Produzentinnen Lina Heinkelein, Laura Scholz, Mira Naimia Trapp und Hanna Werner vertreten.