„Sie haben immer die Befürchtung, dass sie vom Staat ausgetrickst werden können oder dass man ihnen auf einer juristischen Ebene ihre Rechte wegnehmen könnte.“
Wahn, Weigerung, Widerstand
Sieben Minuten hat es gebraucht, bis Herr Wagner* seinen Monolog am Telefon beendet hatte und ich meine erste Frage stellen konnte. Zuvor hatten wir uns zu einem Interviewtermin in einer Kneipe an einer Autobahnausfahrt verabredet. Den Termin hat er kurzfristig zu einem Telefongespräch geändert, da er „stundenlang zu berichten hätte“ und bei heiklen Themen lieber vorsichtig sei.
Seine Kontaktdaten habe ich auf der Internetseite einer Gruppierung entdeckt, die sich nach dem Landesverband für Verfassungsschutz dem „Reichsbürger“- und „Selbstverwalter“-Milieu zurechnen lässt. Auf der Webseite waren zur Zeit meiner Recherche unter anderem neun Stammtische in Baden-Württemberg aufgelistet – mein Gesprächspartner hatte einen davon organisiert, um über aktuelle Themen und Politik zu sprechen. Herr Wagner ist Rentner, um die 70 Jahre alt und wohnt in Baden-Württemberg. Er ist in seiner Gemeinde kein Unbekannter, nachdem er, als Zeichen der Ablehnung gegenüber dem Staat, seinen Personalausweis bei der Stadtverwaltung abgegeben hat.
„Seitdem habe ich in der Gemeinde den Namen Reichsbürger“, sagt er. Im Laufe unseres Gesprächs bezeichnet er sich selbst als „Reichsangehörigen".
Nach dem Landesverband für Verfassungsschutz Baden-Württemberg verneinen „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem und erkennen Politiker*innen und andere Staatsbedienstete nicht an. Beide Strömungen lehnen den deutschen Staat und seine Repräsentant*innen grundsätzlich ab.
Nach Ansicht der meisten „Reichsbürger“ besteht das Deutsche Reich fort und das Grundgesetz ist lediglich „Besatzungsrecht“. Sie sind der Annahme, dass Deutschland weiterhin durch die alliierten Siegermächte fremdverwaltet wird. Das Besatzungsrecht ist durch das „Gesetz zur Bereinigung des Besatzungsrechts“ aufgehoben worden.
„Selbstverwalter“ betrachten sich selbst als außerhalb der Rechtsordnung stehend und vertreten häufig übergeordnete philosophische oder religiöse Ansätze.
Zahlen und Fakten zur Szene
Aus dem aktuellen Verfassungsschutzbericht von 2021 lassen sich in Baden-Württemberg 3.800 Personen dem „Reichsbürger“- und „Selbstverwalter“-Milieu zuordnen – deutschlandweit waren es im Jahr 2021 rund 21.000 Personen.
Felix Blum analysiert für das Landesamt für Verfassungsschutz die „Reichsbürger“-Szene in Baden-Württemberg. Über die Jahre haben sich für ihn Indikatoren herausgebildet, anhand derer Angehörige des Milieus erkannt werden können. „Sie haben immer die Befürchtung, dass sie vom Staat ausgetrickst werden können oder dass man ihnen auf einer juristischen Ebene ihre Rechte wegnehmen könnte“, behauptet er. Für Felix Blum wird das an dem Beispiel klar, dass „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ ihre Identität und Einzigartigkeit überdeutlich machen. Wenn Angehörige der Szene Briefe an Behörden verfassen, hinterlassen sie auf Papieren unverwechselbare Erkennungszeichen, wie Fingerabdrücke, Körperflüssigkeiten oder Haare.
Diese Befürchtungen teilt auch mein Gesprächspartner Herr Wagner. Ihm zufolge könnten nur Personen mit „Staatsangehörigkeitsausweis“ Bürgerrechte in Anspruch nehmen und die BRD hätte als „Besatzungsorgan“ keine Befugnis dazu, Ausweise auszuhändigen. Für ihn war demnach das Abgeben des Personalausweises bei der Stadtverwaltung der logische Schritt, um seinen Protest gegenüber dem Staat kundzutun.
Auf die Frage, ob das Deutsche Reich nach seiner Annahme weiterhin bestehe, verweist er auf das Aktenzeichen 2 BfV 1/73 des Bundesverfassungsgerichtes. Das Urteil wird in den Kreisen der „Reichsbürger“ immer wieder zitiert. Die Bundesrepublik Deutschland ist demnach „nicht 'Rechtsnachfolger' des Deutschen Reiches“.
Herr Wagner behauptet: „Dann ist der Boden, auf dem wir stehen, der Boden des Deutschen Reiches. Wir sind alle Reichsbürger, wenn man so will.“
Die „Reichsbürger" zitieren das Urteil zwar richtig, lassen aber folgenden Teil in ihrer Argumentation unbehandelt: Das Gericht führt weiter aus, die BRD sei „als Staat identisch mit dem Staat 'Deutsches Reich' – in Bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings 'teilidentisch'".
Gewaltbereitschaft der Szene
Schätzungsweise zehn Prozent der bekannten „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ befürworten den Einsatz von Gewalt. Nach zwei Vorfällen mit Schusswechsel im Jahr 2016 zwischen Angehörigen der Szene und Polizeibeamt*innen haben die Verfassungsschutzbehörden „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ verstärkt beobachtet. Mindestens 1.050 Szeneangehörige mussten nach Angaben des Bundesamt für Verfassungsschutz seit 2016 ihre waffenrechtliche Erlaubnis abgeben.
Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung hat die Nähe der Bevölkerung zum Gedankengut der „Reichsbürger“-Bewegung untersucht. Die Studie zeigt, dass jede*r 20. Deutsche der Überzeugung ist, Deutschland werde immer noch von den Besatzungsmächten regiert. Die Studie belegt weiter, dass jeweils 16 Prozent der „Reichsbürger“-affinen Personen Sachbeschädigung oder Gewalt gegen Personen „voll und ganz“ bei der Durchsetzung von politischen Zielen rechtfertigen. Insgesamt kommen lediglich zwei Prozent der Deutschen zu gleichem Entschluss.
Nach diesen Erkenntnissen könnte die Zahl der potenziellen Gefährder*innen mit „Reichsbürger“-Hintergrund möglicherweise deutlich höher ausfallen, als in bisherigen Statistiken erfasst wurde.
„Reichsbürger“-Razzia im Dezember 2022
Herr Wagner hat während des Gesprächs betont, dass er ein friedliebender Mensch sei, der lediglich Angst um die Zukunft seiner Familie habe. Auf Nachfrage zur Gruppe, die im Zuge der deutschlandweiten Razzia im Dezember festgenommen wurden, spielt er deren Gewaltbereitschaft herunter: „Das sind ganz normale Menschen. Die hatten nie vor, mit Waffengewalt etwas anzustellen.“ Er erzählt, dass er den ehemaligen Bundeswehr-Oberst Maximilian Eder – Teil der Gruppierung und wegen Terrorverdachts inhaftiert – bei einer Demonstration kennengelernt habe. Herr Wagner behauptet weiter: „Wenn es eine Möglichkeit geben würde, das System auszutauschen, dann würde ich auch mithelfen.“
Eder und seinen mutmaßlichen Mitverschwörer*innen wird vorgeworfen, die bestehende staatliche Ordnung der Bundesrepublik stürzen zu wollen. Der Landesverband für Verfassungsschutz schätzt die Umsturzpläne folgendermaßen ein: „Uns liegen Erkenntnisse vor, dass diese Personen den Tod von Menschen auf dem Weg zur Umsetzung ihrer Pläne mindestens in Kauf genommen hätten. Die Planungen waren so weit fortgeschritten, dass dieser Fall auch hätte eintreffen können.“
Einschätzung der Amadeu Antonio Stiftung
Benjamin Winkler ist Projektleiter bei der Amadeu Antonio Stiftung, die die Zivilgesellschaft in Deutschland gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus stärken will.
So schätzt er die Pläne der Gruppierung ein:
Um gegen die Bewegung vorzugehen, empfiehlt Benjamin Winkler, Personen, die den Rechtsstaat verteidigen und Aufgaben für den Staat ausüben, im Umgang mit der „Reichsbürger“-Szene zu schulen.
In Sachsen organisiert die Amadeu Antonio Stiftung Selbsthilfegruppen für Menschen im Umfeld von Personen, die an Verschwörungserzählungen glauben. „Wir müssen dafür sorgen, dass möglichst Wenige in die Szene geraten. Wir sollten uns um die kümmern, die gefährdet sind, abzurutschen.“
Herr Wagner bietet mir nach dem Gespräch an, bei einer Tasse Kaffee über „Weltgeschichte und Fakten der letzten 100 Jahre“ zu sprechen und dabei „weit auszuholen“. Einen Tag später folgt eine Mail mit 738 Wörtern und folgendem Einstieg: „Wie wird man am schnellsten zum Reichsbürger?“.
*Der Name des Interviewpartners wurde aus persönlichen Gründen geändert, Identität ist der Redaktion bekannt.