Wenn Kinder zu Täter*innen werden
Vor genau 100 Jahren, im Jahr 1923, hat der Deutsche Reichstag das sogenannte Jugendgerichtsgesetz beschlossen. Neben der Einführung von speziellen Jugendgerichten gab es eine weitere große Neuerung: Das Strafmündigkeitsalter in Deutschland wurde auf 14 Jahre festgesetzt.
Was Altersgrenzen sämtlicher Arten angeht, hat sich im vergangenen Jahrhundert viel getan. Während man den Führerschein 1923 erst mit 18 Jahren beginnen konnte, ist es heute eher die Regel als die Ausnahme, sich schon mit 16 hinter das Steuer zu setzen. Noch gravierender ist der Unterschied beim Wahlrecht: Für die Stimmabgabe musste man in der Weimarer Republik mindestens 21 sein, heute ist auch der Gang zur Wahlurne immer häufiger schon mit 16 Jahren möglich. Eine Altersgrenze aber hat überlebt: Die Strafmündigkeitsgrenze, die auch heute noch bei 14 Jahren liegt.
Initiative aus Baden-Württemberg
Geht es nach Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl und Justizministerin Marion Gentges, könnte sich daran schon bald etwas ändern. Nachdem im März 2023 zwei Mordfälle für Aufsehen gesorgt hatten, bei denen die mutmaßlichen Täter*innen jünger als 14 waren, schrieben die beiden CDU-Politiker*innen einen Brief an die Bundesregierung. In diesem stellten sie die aktuell bestehende Altersgrenze infrage: Es müsse überprüft werden, „ob heutzutage die geistige und sittliche Reife junger Menschen früher einsetzt als im Jahr 1923“, heißt es in dem Brief.
Unterstützt wird dieser Vorschlag von der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), der größten Gewerkschaft für Polizist*innen in Deutschland: „Polizeibeamtinnen und -beamte werden in ihrem täglichen Dienst immer häufiger damit konfrontiert, dass auch Kinder unter 14 Jahren kriminelle Taten begehen. Dabei gehen sie immer rücksichtsloser und gewalttätiger vor“, erklärt die DPolG.
Das beweisen auch Zahlen der Kriminalstatistik, die ebenfalls im März vorgestellt wurde: 2022 gab es in Baden-Württemberg 10.470 tatverdächtige Kinder unter 14 – eine Zunahme von 33,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. In ganz Deutschland lag der Anstieg sogar bei 35,5 Prozent.
„Die Opfer von Straftaten fragen nicht nach dem Alter des Täters, sondern fordern zum Schutz ihrer Sicherheit mit Recht das ein, was der Staat seinen Bürgern schuldet, nämlich Schutz vor Verbrechen“, argumentiert die DPolG.
Auch die Mehrheit der Bevölkerung sieht das so: Im Anschluss an eine Gruppenvergewaltigung im Jahr 2019, an der auch Kinder unter 14 beteiligt waren, sprachen sich in einer INSA-Umfrage 57,9 Prozent der Befragten für eine Absenkung aus, nur 26 Prozent waren dagegen. In einer Umfrage von Infratest dimap aus dem April 2023 befürworten sogar über zwei Drittel der Befragten die Altersgrenze ab zwölf.
Schaut man über die Grenzen Deutschlands hinaus, sieht man durchaus unterschiedliche Modelle. Zwar beginnt die Strafmündigkeit in den meisten europäischen Ländern auch bei 14 oder 15 Jahren, allerdings kann die Grenze in einigen Ländern bei besonders schweren Delikten herabgesetzt werden. So zum Beispiel in Luxemburg oder Belgien, wo die reguläre Strafmündigkeit sogar erst ab 18 Jahren beginnt. In den Niederlanden und Irland kann man ab dem zwölften Lebensjahr strafrechtlich verfolgt werden, in der Schweiz und Großbritannien schon ab zehn. Während Gefängnisstrafen in der Schweiz jedoch erst ab 16 möglich sind, gibt es dafür auf der Insel keine Grenze. Dort kommt es regelmäßig vor, dass auch Kinder unter 14 zu mehrjährigen oder sogar lebenslangen Haftstrafen verurteilt werden.
Ist das auch eine Option für Deutschland? Sozialberater Markus Beck hält Inhaftierungen von Kindern für den falschen Ansatz: „Häufig macht eine Inhaftierung vieles nur noch schlimmer. In geschlossenen Anstalten haben junge Menschen oftmals die Idee, den Alltag mit den gleichen Verhaltensweisen meistern zu müssen, weswegen sie sitzen.“ Das sei alles andere als förderlich für die Entwicklung von Kindern und stehe im Widerspruch zum Erziehungscharakter, der im Jugendstrafrecht im Vordergrund stehen soll.
Markus Beck leitet im Verein Sozialberatung Stuttgart e.V. den Fachbereich Gewaltprävention. Die Organisation bietet Trainingsprogramme für straffällig gewordene Jugendliche an, um diesen einen Weg in ein Leben ohne Straftaten zu ermöglichen. Beck und seine Kolleg*innen verstehen Kriminalität hauptsächlich als gesellschaftliches Phänomen mit verschiedenen Ursachen. Darin sieht Beck auch eine Erklärung für die stark angestiegene Kinderkriminalität: „Energiekrise und Pandemie haben viele sozial schwache Familien hart getroffen. Erleben Kinder dann Stress und Gewalt zu Hause, steigt auch die Chance, dass sie selbst gewalttätig werden.“ In Bezug auf die beiden Mordfälle glaubt Beck nicht, dass ein härteres Strafrecht die Taten verhindert hätte: „Es ist wichtiger, auf die Lebensbedingungen zu schauen und frühzeitig Hilfe und Unterstützung anzubieten.“
Unterstützung nur von der AfD
Kritik übt Beck an der politischen Debatte: „Vieles wird sehr verkürzt und vereinfacht dargestellt.“ Wenn man Lösungen präsentieren müsse, läge es natürlich auf der Hand, nach einer Verschärfung des Strafrechts zu schreien. „Aber so einfach ist es nicht“, meint er.
Dieser Meinung ist auch die Bundesregierung. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP), der für eine mögliche Gesetzesänderung zuständig wäre, erteilte den Forderungen aus Baden-Württemberg eine Absage. „Jede Debatte über Anpassungen im Strafrecht sollte man mit klarem Kopf führen“, schrieb Buschmann auf Twitter. Auch der Koalitionspartner der CDU in Baden-Württemberg lehnt eine Absenkung ab: Die rechtspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Daniela Evers, bezeichnete die Initiative als aktionistisch und nicht zielführend. Unterstützung für den Vorstoß der CDU gab es nur vonseiten der AfD.
So sieht es aktuell danach aus, als wäre der 100. Geburtstag nicht der letzte für die Altersgrenze ab 14 gewesen: Es gibt keine politischen Mehrheiten für eine Absenkung, auch die meisten Expert*innen sind dagegen. Aber es wird sich zeigen, ob bei weiteren polarisierenden Ereignissen und unverändert hoher Jugendkriminalität nicht auch die Rufe nach politischen Veränderungen lauter werden. Sicher scheint nur eins: Die Debatte ist nicht zum letzten Mal geführt worden.