Von WGs, Großstädten und Echokammern
Für mich war von Anfang an klar, dass ich in eine WG in einer großen Stadt ziehen möchte. Neues sehen, Neues lernen, mit neuen Leuten reden. Zwischen Neon-Lichtern und pulsierenden Bässen, aneinander gequetschten Cafés, Restaurants inspiriert aus aller Welt, Kinos, Theater, Museen, tausenden Schuhen auf heißem Teer und verschiedenen Sprachen aus jeder Richtung. Ich wollte Konfrontation und ganz viel Vielfalt. Meine Idee, mit irgendwelchen Fremden zusammenzuziehen, hat mir schließlich auch einiges an Vielfalt und Konfrontation erbracht. Zehn Mitbewohner*innen. Eine große Küche. Und Lebensrealitäten, die so gar nicht aufeinanderpassen.
Wie in der Stadt findet man hier pulsierende Bässe und tausend Füße, die über den Boden trampeln. Theater gibt es sogar etwas zu viel. Der Aschenbecher vor der Haustür ist unter einem Berg von Zigaretten begraben und die Waschmaschine ist kaputt. Eigentlich habe ich mir das Chaos der Stadt nicht bis hinter die Haustür gewünscht. Aber jetzt ist es irgendwie da.
Von entspannter Sitcom zur politischen Talkshow
Unser Vermieter entscheidet sich alle paar Wochen für eine neue, wildfremde Person, die in eines der unzähligen Zimmer unserer Altbauwohnung ziehen wird. Ohne uns Bescheid zu geben, natürlich. Das Resultat: eine ziemlich bunte Mischung auf engem Raum und Diskussionen, die ans Eingemachte gehen. Vegan trifft auf fleischlastige deutsche Küche, Akademiker-Sprösslinge treffen auf Plattenbau-Kinder, konservativ auf links-liberal. Manche aus dem deutschen Dorf, andere aus Frankreich oder Südamerika. Für ein paar Monate hat sogar ein britischer Oxford-Student bei uns gewohnt, der an der rechten Hand immer einen Familienring mit eigenem Siegel getragen hat. Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung, wie der sich in dieses Loch verirren konnte.
Wenn es um politische Themen geht, kann es dann manchmal schon sein, dass sich unsere halbwegs harmonische Küchen-Dynamik verabschiedet und in einer Flut an hitzigen und überzeugenden Reden endet, die den eigenen Standpunkt als den einzig richtigen verteidigen. Eben lief noch „F.R.I.E.N.Ds“ und jetzt hat irgendjemand die dumme Idee gehabt ein paar Kanäle weiter zu schalten und sich für eine Folge „Hart aber Fair“ entschieden. Das Problem: An unserem Küchentisch sitzt kein Moderator, der das Chaos noch irgendwie in den Griff hätte bekommen können.
„Ich sags euch Leute. Ein bedingungsloses Grundeinkommen. Das ist die Lösung", ruft jemand in den Raum. Demonstrativ wird klirrend ein Glas abgestellt. „Und du denkst ernsthaft, dass dann noch jemand arbeiten geht? Schon mal ´Harz aber Herzlich´gesehen?" Die Stimmen werden lauter und in jeder Ecke entwickelt sich eine neue Auseinandersetzung. Wir diskutieren über Frauenquoten in Führungspositionen, veganes Essen, den Brexit. Zeit für Konfrontation. Jedes mal.
Raus aus der Komfortzone
Für meinen Geschmack ist das Ganze dann irgendwann auch etwas zu viel Konfrontation. Die Gespräche sind interessant und doch ermüden sie mich, denn mir gegenüber sitzen Menschen, die so ganz anders funktionieren und denken als ich. Ich ertappe mich dabei, wie ich alle Mitbewohner*innen, die anders eingestellt sind, auf meine Seite ziehen will. Mit Argumenten überladen, bis sie keine andere Wahl mehr haben. Schließlich habe ich ja recht!? Oder sollte ich ab sofort einfach besonders gut zuhören? Die Chance auf so eine bunte Mischung an Erfahrungen sitzt schließlich nicht an jedem Küchentisch. Und sich von seinem eigenen Umfeld, immer und immer wieder in seiner Meinung bestätigen lassen, ist vielleicht bequem, aber definitiv nicht der Ursprung eines vielfältigen öffentlichen Diskurses. Vielleicht ist es gerade das, was wir alle etwas mehr in unser Leben lassen sollten. Raus aus der Echokammer.
Um den zweiten Teil dieser Kolumne zu lesen klicke hier: Die „Anderen" und der eigene Kosmos