„Und da ist es natürlich schwierig für die jungen Leute, sich eine Zukunft vorzustellen, die ohne Gewalt stattfindet. Wo man was aufbauen kann, sich sicher fühlen kann."
Kolumbien – ein Land, das seine Zukunft verliert?
„Wer in Kolumbien anders denkt, der läuft Gefahr, umgebracht zu werden.“ Juan David sitzt mit einem Bein angewinkelt und einer Tasse Schwarztee in der Hand auf dem Klappsofa. Ein vertrauter Anblick, denn wir sind seit zwei Jahren ein Paar. Aber selten habe ich ihn in so drastisch über sein Heimatland Kolumbien sprechen gehört. Die Gründe, warum er Mitte September mit nichts weiter als einem großen roten Rucksack in ein Flugzeug stieg, um ein neues Leben in Deutschland anzufangen, sind kompliziert.
Ein Perspektivenwechsel
Juan David kommt aus einer Familie der kolumbianischen Mittelschicht. Seiner Heimatstadt Pasto auf 2.500 Meter Höhe fühlt er sich tief verbunden. Stolz schwingt in seiner Stimme mit, wenn er von der Vergangenheit und Kultur seiner Region im Süden des Landes berichtet. Nach dem Abitur wurde er von seinen Eltern für ein Jahr nach Oxford geschickt, um Englisch zu lernen. Danach folgte ein Studium an einer privaten Universität in der Hauptstadt Bogotá. Eine gesicherte Zukunft garantierte ihm das trotzdem nicht. Die Möglichkeiten in Kolumbien seien beschränkt. Gut bezahlte Arbeit gebe es wenig, oder nur zu schlechten Bedingungen.
Der Perspektivenwechsel im Ausland habe ihm schon mit 19 Jahren vor Augen geführt, wie kompliziert die Situation in seinem Heimatland ist. „Als ich nach England ging, habe ich gemerkt, dass man so in Kolumbien nicht leben könnte. Ich kann in meinem Land nicht nachts um zwei mit Kopfhörern nach Hause laufen, weil mich sonst jemand überfällt, umbringt. Als ich zurückkam, habe ich angefangen, Dinge zu vermissen. Die Sicherheit, die gute Bezahlung.“
Ein Land gefangen in einem Jahrzehnte langen Konflikt
In Kolumbien herrscht seit über 50 Jahren ein bewaffneter Konflikt. Laut der Bundeszentrale für politische Bildung hat er seine Wurzeln in der extrem ungleichen Verteilung von Landbesitz. Die wirtschaftliche und politische Macht konzentriert sich bis heute auf einige wenige Familien des Landes.
Die Ethnologin und Lehrbeauftragte an der Universität Tübingen Dr. Nora Braun erklärt, dass die wirtschaftlichen und sozialen Probleme Kolumbiens eng mit den Auswirkungen dieses Konflikts verbunden sind. Im Hinblick auf die Migration ins Ausland könne man diese Faktoren nicht getrennt betrachten.
Seit 2016 besteht ein Friedensvertrag zwischen der Regierung und der FARC. Das ist die größte Guerilla-Gruppe im Land und entwickelte sich aus bäuerlichen Widerstandsbewegungen in den 60er Jahren. Der Vertrag soll unter anderem mehr soziale Gerechtigkeit und politische Mitbestimmung gewährleisten.
Doch seitdem der 2018 gewählte Präsident Iván Duque im Amt ist, habe die Regierung kein Interesse an einem echten Frieden und mache diesen gerade wieder rückgängig. Das sorgt nicht gerade für Stabilität im Land. „Ich glaube, es ist für die jungen Leute sehr frustrierend. Viele kennen eben nichts anderes als diesen bewaffneten Konflikt.", erklärt Ethnologin Braun bezüglich des gescheiterten Friedensprozesses, „Und da ist es natürlich schwierig für die jungen Leute, sich eine Zukunft vorzustellen, die ohne Gewalt stattfindet. Wo man was aufbauen kann, sich sicher fühlen kann."
Insgesamt schätzt Frau Braun die politische und menschenrechtliche Lage in Kolumbien problematisch ein. Laut dem kolumbianischen Forschungsinstitut für Entwicklung und Frieden wurden zwischen 2016 und 2020 971 Aktivist*innen ermordet.
Die Gewalt und Unsicherheit treiben viele ins Ausland
Die Mehrheit der in Deutschland lebenden Kolumbianer*innen sind jünger als 36 Jahre alt und gehen einer Ausbildung oder einem Studium nach. Dies legt Frau Braun in einer qualitativen Studie für das Deutsch Kolumbianische Friedensinstitut dar. Bei vielen Befragten habe die allgemein unsichere und gewaltgeprägte Situation den Ausschlag für die Migration gegeben. Der Konflikt spiele oft eine indirekte Rolle. So auch bei Juan David. Je mehr er über die Lage in seiner Heimat spricht, desto aufgebrachter wird er.
Mit den Jungen geht auch das Potential für Veränderungen
Nach seinem Bachelorabschluss fand Juan David eine nur schlecht bezahlte befristete Stelle. Der Wunsch, ins Ausland zu gehen, wuchs. Schon lange habe ihm die Vorstellung der effizienten, organisierten und pünktlichen Deutschen gefallen. „Ich sah die schlechte Situation und sagte mir: Ich muss hier weg. Und wenn es nach Deutschland ist, umso besser."
Dass vor allem die junge, gut ausgebildete und oft politisch engagierte Bevölkerung Kolumbien verlässt, sieht Dr. Braun als „fatal“. „Allgemein würde ich sagen, ist das wirklich ein Verlust an Wissen und Potential für Veränderungen für das Land.“
Eine Chance sieht sie aber in dem Mut und der Energie der Kolumbianer*innen im In- und Ausland, die sich für einen Umbruch einsetzten. Seit 2019 protestiert die Bevölkerung immer wieder in Generalstreiks. Die Regierung reagiert meist repressiv. Menschenrechtsorganisationen berichten von Polizeigewalt. Für einen echten Frieden müsse laut Dr. Braun ein Umdenken in Politik und der Bevölkerung her. „Dazu gehört auch zu lernen, wie man sich politisch auseinandersetzt, ohne dass es gewaltsam stattfindet.“
Eben jene politisierte Gewalt macht es für Juan David schwer, sich eine Rückkehr nach Kolumbien vorzustellen. Seine Zukunft sieht er in Deutschland. Bei all der Kritik betont er aber auch, dass die kolumbianische Kultur nicht „schlecht“ sei, sondern einfach nur anders. Er vermisse seine Familie und Freunde, die offene und herzliche Art seiner Landsleute. Was in Kolumbien aber fehle, sei Einheit. Und eine Regierung, die weiß, was gut für das Land ist.
Auf die Frage, was nötig sei, damit er zurück nach Kolumbien gehen würde, hat er eine klare Antwort.
Ob diese Veränderungen so schnell kommen werden, ist fraglich. Frieden, Gerechtigkeit, ein Ende der Korruption. Die Liste ist lang, und bis der Wandel endlich kommt, werden jungen Kolumbianer*innen wie Juan David wohl auch weiter ihre Zukunft im Ausland suchen.