Du bist nicht dazu da, die Leute zu bestrafen oder um deine Komplexe abzureagieren. Man hat dort eine Vorbildfunktion, das sollte man nie vergessen.
"Ich brauche die Extreme"
Ein Blick in deinen Lebenslauf zeigt: Du warst eine Zeit lang Vollzeit im Strafvollzug tätig, gleichzeitig hast du am Wochenende eine Vinothek geleitet. Brauchst du diese Gegensätze?
Ja, und ich brauche die Extreme ein bisschen. Ich könnte gar nicht normal. Ich hab immer zwei Schienen gleichzeitig gefahren, manchmal auch drei mit meinen Kindern oder meinem pflegebedürftigen Vater. Das ist für mich Normalität, Themen zu verbinden, die sich sehr widersprechen.
Angefangen hast du als Erzieherin - warst aber auch als Schwarzwaldguide tätig. Wie kam es dazu?
Ich bin sehr naturverbunden, das erdet mich. Als Kind wurde ich viel einbezogen in landwirtschaftlichen Arbeiten, ich war Holz machen und auf dem Acker. Ich bin die älteste von vier Geschwistern und meine Tante hat mir erzählt, dass ich besser ein Sohn geworden wäre. Man hat mich einfach in die Rolle gesteckt und mitgenommen. Solche Dinge prägen auch, weil die Zeit in der Natur nicht von familiären Streitereien belastet, sondern einfach Ruhe und Frieden war. Zu dem Job bin ich gekommen, weil ich mehr über unseren Schwarzwald erfahren wollte. Für mich war es ganz oft so, dass das, was mich interessiert hat, zum Beruf wurde.
Dein Lebenslauf ist geprägt von verschiedenen Interessen - war das als Kind schon so?
Nein. Als Kind war ich sehr geprägt durch die patriarchale Erziehung. Mein Vater war viel älter als meine Mutter und sehr dogmatisch. Die Interessenvielfalt so richtig ausleben konnte ich erst, als er gestorben war. Das war 2005, da war ich 38, also schon ganz schön alt. Ich hab davor bereits vielfältige Sachen gemacht, wollte aber auch den Erwartungen anderer entsprechen.
Wenn du zurück denkst an deinen ersten Tag im Gefängnis: hattest du Angst?
Nein. Du kannst da nicht arbeiten, wenn du Angst hast. Die Insassen sehen dir das an. Ich hatte im Strafvollzug mit schweren Jungs zu tun. Da musst du eine sichere, gefestigte Persönlichkeit sein, sonst hast du keine Chance. Wenn du dich etabliert und den Respekt hast, dann kannst du da richtig gut arbeiten.
Wie hast du dir den Respekt verdient?
Indem ich den Gefangenen mit Respekt begegnet bin. Aber auch, weil ich zwei Mal in Schlägereien dazwischen gegrätscht bin und sie beendet habe. Das hat sehr viel Respekt bei den Gefangenen erzeugt, weil die männlichen Kollegen im ersten Moment im Büro sitzen geblieben sind. Hätte auch ins Auge gehen können, aber ich hab Glück gehabt.
Du warst in deiner Abteilung die einzige Frau. War das schwer?
Ich glaube das hängt von der Frau ab. Ich kann mit Männern meist besser arbeiten als mit Frauen. Es ist eine ehrlichere Art der Kommunikation. Ich hatte Frauen, die aus der Verwaltung runtergekommen sind, und wie die angehuscht sind und dann schnell wieder weg, da musste ich manchmal lächeln. Man muss ein Standing haben und ein Gespür dafür entwickeln, wann man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen sollte.
Welche Fähigkeiten sind sonst noch wichtig?
Man muss ein gutes Verhältnis zum Thema Nähe und Distanz haben. Ich habe mit Leuten gearbeitet, die Frauen vergewaltigt oder Kinder umgebracht haben. Selbstbewusstsein ist wichtig, aber du darfst kein Arschloch sein. Ich hatte einige wenige Kollegen, die gesagt haben: „Ich hab den Schlüssel und ihr seid die Gefangenen“ und dann wird’s ganz schnell ganz schwierig.
Suchst du dir freiwillig und bewusst die schweren Sachen aus?
Die kommen zu mir. Aber ich greif dann auch zu. Ins Kinderhospiz bin ich auch mehr durch Zufall gekommen. Nach dem Knast habe ich kurzzeitig in einem Mädchenwohnheim für Schwererziehbare gearbeitet. Das war für mich grenzwertig. Dann bin ich über das Hospiz in Hamburg gestolpert, die eine Stelle als Erzieherin ausgeschrieben hatten. Ich hab montags die Bewerbung aufgegeben, die Woche drauf war ich beim Vorstellungsgespräch und am Ende dieser Woche hab ich gekündigt und bin nach Hamburg. Danach hab ich gedacht "Gott was hab ich getan" (lacht). Aber ich hab’s nie bereut, das war genau richtig.
Du warst dort in der Sterbebegleitung tätig, hast mit den Angehörigen das letzte Bett für das Kind vorbereitet. Das war bestimmt nicht einfach…
Nach der ersten Familie, die ich begleitet hab, bin ich zur Bahn gelaufen und hab geheult und wusste überhaupt nicht was los ist. Ich war so fertig, dass ich danach drei Tage im Bett lag. Im Gefängnis ist mir Nähe und Distanz sehr viel leichter gefallen als im Kinderhospiz. Dort weißt du, dein Gegenüber hat was gesetzeswidriges getan. Im Kinderhospiz weißt du, über die Familie ist etwas hereingebrochen was sie nicht verdient haben, wo sie nix dafür können. Als Mutter berührt einen das sehr. Ich musste neu lernen, mich emotional abzugrenzen.
In deinem neuen Job in einer psychiatrischen Pflegeambulanz übernimmst du eine leitende Rolle. Wolltest du das so? Auch mal ein bisschen mit Abstand arbeiten?
Ich werde ja älter (lacht). Das an der Front rennen, das brauch ich nicht mehr in jedem Fall. Und ich wollte gerne wieder eine leitende Stelle und Verantwortung übernehmen.
Im Kinderhospiz oder im Gefängnis würdest du also heute nicht mehr arbeiten?
Ich würde beides wieder machen, aber in anderen Bereichen. Der Grundgedanke des Studiums war, mit dem Abschluss wieder in einer leitenden Position zu arbeiten. Das hat sich nun alles schneller entwickelt als gedacht. Wenn die neue Stelle meine Erwartungen erfüllt, dann ist das etwas Dauerhaftes. Vielleicht ist das jetzt auch der Punkt, an dem ich angekommen bin. Ich glaube, Freizeit zu haben kann auch ganz schön sein.
Was machst du privat, um die herausfordernden Jobs auszugleichen?
Sehr viel schlafen. Im Wald spazieren gehen. Einfach mal zwei Tage vor Netflix liegen und toter Käfer spielen ist auch eine Option. Meine Tochter sagt immer: „Ich kenne niemanden der schon so viele Serien geguckt hat wie du.“ Ich bin tatsächlich eine der wenigen, die in solchen Hardcore-Bereichen arbeitet, die nicht raucht oder die Bilder des Arbeitstages anders betäubt. Wenn’s mir richtig dreckig geht, dann heul ich mich aus und dann ist gut. Mein Ausgleich ist auch das, was ich parallel zum Hauptjob mache. In positiver Kommunikation mit anderen sein und mich weiterbilden, das balanciert mich aus.
Dein momentaner Ausgleich ist das Masterstudium in angewandten Familienwissenschaften. Wie kam es dazu?
Ich wollte mich beruflich weiterentwickeln, wieder eine leitende Position ausüben. Bei einem Bewerbungsgespräch wurde mir dann gesagt: „Sie haben ja überhaupt keinen akademischen Abschluss, was wollen sie eigentlich?“ In unserer Gesellschaft wird vermittelt, dass nur ein akademischer Abschluss etwas wert ist und alles, was du sonst an Lebenserfahrung bringst und an Berufserfahrung, das ist nichts wert. Dann dachte ich okay, dann halt noch der akademische Abschluss.
Für das Studium musstest du eine Aufnahmeprüfung meistern, außerdem die Anforderungen für ein Stipendium erfüllen. Zusätzlich hattest du zu der Zeit mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen und musstest aus deiner Wohnung ausziehen. Wie schafft man das?
Augen zu und durch. Da kommen wir zurück auf die Kindheit. Eine harte Kindheit ist wirklich übel, aber das macht dich sehr stark. Das hilft dir, solche Phasen durchzustehen, nicht rumzujammern. Also, ich jammer schon auch - aber nicht im Leid zu versinken, sondern aufzustehen und zu sagen jetzt erst recht.
Ist das ein Tipp für dein 15-jähriges Ich?
Meine Tochter hat mich mal gefragt, ob ich diesem Ich begegnen wollte. Ne, eigentlich nicht. Ich glaube, ich hätte viel nicht hören wollen. Damals hab ich gedacht, dass manches einfach nicht möglich ist. Ich wollte ursprünglich Grafikdesignerin werden und hätte ohne Unterstützung von Zuhause nach Stuttgart ziehen müssen und eine Präsentationsmappe zusammenstellen. Das waren für mich 1982 unüberwindbare Hürden.
Und heute?
Heute ist für mich nirgends mehr Ende. Ein Studium für 10.000 Euro, obwohl ich kein Geld übrig habe? Es gab zwei Stipendien für Leute über 50, also hab ich es probiert. Man muss Mut entwickeln, und den hab ich definitiv mehr als früher.