„Achtsamkeit ist das aufmerksame, unvoreingenommene Beobachten aller Phänomene, um sie wahrzunehmen und zu erfahren, wie sie in Wirklichkeit sind, ohne sie emotional oder intellektuell zu verzerren."
Meditieren wie Buddha
Bevor er zu Buddha wurde, war er ein Prinz: Gautama war trotz seines Reichtums nicht glücklich. Deshalb begab er sich auf Wanderschaft und erkannte, dass ihn Reichtum nicht vor Leid schützen kann. Als Bettelmönch suchte er nach Erleuchtung, die ihn zu seinem wahren Glück verhelfen sollte. Nachdem er in Armut fast verhungerte, merkte er, dass das nicht der richtige Weg ist. Die beste Lebensart ist vergleichbar mit einer gut gestimmten Gitarrensaite: Die Töne klingen nicht gut, wenn die Saite zu fest gezogen oder zu locker gelassen wird. So soll man weder in Armut noch in Reichtum leben. Buddha fand seinen goldenen Mittelweg und lebte fortan bescheiden. Mit 35 Jahren meditierte Gautama unter einem Feigenbaum im Norden Indiens, bis er zur Erleuchtung fand und zu Buddha wurde. Die Meditationstechnik, die ihn vor 2500 Jahren dahin brachte, soll Vipassana gewesen sein.
Auch heute noch wird Vipassana in mehr als 200 Zentren weltweit gelehrt. Psychologen belegen die positive Wirkung von Achtsamkeit auf Körper und Geist, die ein großer Teil von Vipassana ist. Zahlreiche Studien bestätigen ihre Effekte, beispielsweise reduziert sie Stress und hilft, Schmerzen erträglicher zu machen. Teilnehmer von Vipassana-Kursen berichten von einem verbesserten Wohlbefinden, sowohl physisch als auch psychisch. Die Technik wird unter anderem auch in Gefängnissen unterrichtet. Die Meditation stärkt die Kooperationsbereitschaft der Insassen und sie sind weniger anfällig für Depressionen.
Die Kunst, zu leben
Sebastian Graubner ist seit 21 Jahren Vipassana-Lehrer und beschreibt die Technik so: „Die Meditation ist der Weg, der mir in den Höhen und Tiefen meines Lebens zu einem glücklicheren Dasein verhilft.“ Vipassana bedeutet wörtlich übersetzt „Einsicht“, also die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. Das Ziel der Technik ist Nirvana – das Ende des Leidens. Graubner sagt dazu: „Über Nirvana brauche ich mir keine Gedanken zu machen. Ich weiß, ich bin auf dem richtigen Weg, weil ich im täglichen Leben von Vipassana profitiere.“
Aber wie soll das gehen? Um zu meditieren, braucht man nichts als einen ruhigen Platz. Man setzt sich hin, schließt die Augen und beginnt: Man beobachtet die Empfindungen des Körpers wie Schmerz im Knie, Juckreiz an der Nase oder Kribbeln in den Handflächen. Stück für Stück arbeitet man sich in kleinen Bereichen am Körper entlang und versucht, die Beobachtungen nicht zu bewerten, sondern sie zu akzeptieren und ihnen mit Ausgeglichenheit zu begegnen. Laut Graubner sei Vipassana nichts anderes als Achtsamkeit und Gleichmut. Wenn man von Kopf bis Fuß alles beobachtet hat, geht es wieder von vorn los. So löse man die Konditionierungen des Geistes auf: Verlangen nach Angenehmem und Ablehnung von Unangenehmem.
Kann ich meinen Geist kontrollieren und so allem Leid entkommen? Tut mir das überhaupt gut? Welche Auswirkungen wird die Meditation auf meinen Alltag haben? Das frage ich mich in folgendem Selbstversuch.
Der Weg zum Glück
Durch Vipassana lernt man, aus den körperlichen Empfindungen keine mentalen zu machen. Das heißt, man akzeptiert die Realität so, wie sie ist. Wenn man seine Empfindungen nun beobachtet, erkennt man deren Vergänglichkeit. Das ist eine weitere zentrale Annahme der Technik, beispielsweise bei Schmerz: Er wird irgendwann vergehen und auch wiederkommen, weshalb man ihn akzeptieren sollte. Denn laut der Technik entsteht alles Leid dadurch, dass man auf Empfindungen reagiert. Würde man alles akzeptieren, wie es ist, wäre man immer glücklich.
„Vipassana bedeutet nicht, passiv oder pessimistisch zu sein“, so Graubner. Die Technik helfe, seine Emotionen zu kontrollieren und objektiv Lösungen zu finden. Man rennt nicht vor seinen Problemen davon, sondern setzt sich damit auseinander. Laut Graubner sei Einsicht der erste Weg zur Besserung. Er erklärt: „Durch Vipassana lernt man, besser zu agieren und wenig zu reagieren“. Laut ihm sei eine realistische Einschätzung der eigenen Situation die Basis für eine positive Veränderung.
Vipassana als Lebensaufgabe
Auch vergangene Reaktionen auf Empfindungen kommen irgendwann wieder hoch. Sie beeinflussen den Geist und manifestieren sich durch den Körper. Sie lösen sich auf, wenn man sie akzeptiert. Wenn der Geist frei von alten und neuen Reaktionen ist, sei man laut der Technik erleuchtet. Laut Graubner müsse man der Technik am Anfang Vertrauen schenken, bis man selbst die positiven Wirkungen von Vipassana erfahren hat. Er vergleicht das mit einer Landkarte: Man vertraut den Leuten, die die Karte gezeichnet haben. Wenn man den Weg geht und die verschiedenen Orte bis zum Ziel erreicht, merkt man, dass die Karte stimmt. Mit Vipassana ist das ähnlich, nur sei es eine Lebensaufgabe, den Weg zu gehen. „Vielleicht sogar noch ein paar Leben mehr“, ergänzt Graubner.
Eine 2016 veröffentlichte Studie eines amerikanischen und niederländischen Forschungsteams untersuchte die Veränderung der Hirnströme von Probanden, nachdem diese acht Wochen lang regelmäßig meditierten. Hirnregionen, die für Mitgefühl und Selbstwahrnehmung zuständig sind, verdichteten sich. Graubner kann das bestätigen: Man erkenne seine Fortschritte in der Meditation auch daran, wenn sich das Interesse, anderen zu helfen, entwickelt und man dadurch erfüllter ist. Ein weiteres Anzeichen für Fortschritte zeigt sich im Vergleich mit dem eigenen, früheren Ich. Zum Beispiel: Damals habe ich mich den ganzen Tag über etwas aufregen können. Wenn heute etwas Vergleichbares passiert, ärgere ich mich nur noch den halben Tag darüber.
„You are your own master. You make your own future”, soll Buddha bezogen auf das Karma gesagt haben. Karma bedeutet, dass unseren Handlungen Erfahrungen folgen. Genauso wie unsere Taten sind, sei demnach auch unser Leben. Das bedeutet, dass jeder über sein Schicksal entscheiden kann, indem er sein Handeln kontrolliert.