Familienkonflikt

Zwei Welten – Zerreißprobe für die Beziehung

Telegram – ein Treffpunkt für Gleichgesinnte, während Außenstehende meist kaum mehr zu ihnen durchdringen können.
12. Apr. 2022
Wir leben nicht mehr in derselben Welt – zumindest fühlt es sich so an. Es scheint sich ein Graben zwischen mir und meinen Großeltern zu bilden: Die Journalismus-Studentin auf der einen, treue AfD-Anhänger*innen und Corona-Kritiker*innen auf der anderen Seite.

Ich sitze auf dem Bett, die Beine angewinkelt, in der Hand das Festnetztelefon auf laut gestellt. Ungeduld und Unwohlsein machen sich in mir breit, aber ich zwinge mich, meine Gedanken wieder auf das Gespräch zu lenken.

„Die machen das wie damals mit den Juden. Da braucht man gar nicht in die Vergangenheit schauen, das passiert heute wieder. Da werden Teile der Gesellschaft diskriminiert und ausgeschlossen. Der Widerstand ist nichts anderes als das, was Sophie Scholl damals gemacht hat.“ *

Ein dicker Kloß steckt in meinem Hals, meine Brust zieht sich zusammen. Ich schlucke, suche verzweifelt nach Worten der Entgegnung. Vergeblich. Ich schweige – wie so oft in letzter Zeit, wenn ich mit meinen Großeltern telefoniere und es um die aktuelle Corona-Politik geht. Das ist meine neue Strategie, um Konflikte zu vermeiden. Zu mehr habe ich einfach keine Kraft.

Nichts zu sagen schien bisher eine ganz gute Methode, aber diesmal ist es anders. Nach dem Telefonat verstärkt sich das ungute Gefühl. Ich habe den Vergleich mit dem Holocaust einfach stehen lassen und ihnen damit indirekt vielleicht sogar das Gefühl gegeben, zuzustimmen. Ich bin wütend. Wütend auf mich selbst. Darauf, dass ich mal wieder so feige gewesen bin. Ich habe meine eigenen Werte verraten, um einer Diskussion aus dem Weg zu gehen: So etwas darf mir nicht nochmal passieren.

Nach einigen Tagen sitze ich auf dem Sofa, das Telefon wieder angespannt in der Hand. Ich lausche meiner Oma, die sich über die Corona-Maßnahmen beschwert. Und dann kommt er wieder, der Vergleich mit der Zeit des Nationalsozialismus. Erneut verspüre ich Druck auf der Brust und einen Kloß im Hals. Allerdings hat sich etwas verändert: Ich bin fest entschlossen etwas zu sagen.

„Sowas kannst du nicht sagen! Das kann man nicht vergleichen. Die Juden wurden verfolgt und hingerichtet.“ *

Es folgen Rechtfertigungen und Erklärungen. Auch die öffentlich-rechtlichen Medien als Staatsfunk" zu bezeichnen, passe heute wie damals. Natürlich wäre mein größter Erfolg gewesen, wenn sie offen zugegeben hätte, dass der Vergleich ein Fehler gewesen wäre. Aber damit habe ich nicht gerechnet. Nach dem Gespräch fühle ich mich trotzdem befreit, denn ich habe es geschafft, mir treu zu bleiben und zu widersprechen, obwohl es unangenehm war.

Spaltung – Ein gesellschaftliches Problem?

Häufig stellt sich in letzter Zeit die Frage, ob es im Moment eine Spaltung in der Gesellschaft gibt. Immer öfter wird sie mittlerweile verneint. Die Gruppe, die sich aktiv gegen die Corona-Politik stellt, wird in den Medien als „laute Minderheit“ beschrieben. Das bestätigt mir auch Roland Imhoff, Psychologie-Professor der Uni Mainz, im Interview. Laut ihm gäbe es auch keine Hinweise darauf, dass momentan mehr Menschen als sonst an Verschwörungsmythen glauben würden. Allerdings habe die mediale Aufmerksamkeit und die Handlungsbereitschaft bei den Betroffenen zugenommen. Dennoch spüre ich die Spaltung in meiner Familie deutlich: Wie ein Riss in einer Porzellanvase, die droht, endgültig in zwei Teile zu zerbrechen. Im Netz kursieren einige Geschichten von angespannten Verhältnissen innerhalb der Familie, dem Freundeskreis oder dem Arbeitsumfeld. Für die Gesamtbevölkerung scheint es nicht dramatisch zu sein, doch für Betroffene wird es zu einer Belastungsprobe.

 

Diese Nachricht erhielt ich nach der Landtagswahl in Baden-Württemberg. Es verletzt mich, wenn meine Großeltern mir als Baden-Württembergerin so eine Nachricht weiterleiten.

Putin statt Blumen

Wann wurde unsere Beziehung so verkrampft? Anstatt mich auf den Besuch bei meinen Großeltern zu freuen, habe ich heute eher Angst davor. Wenn ich zurück an meine Kindheit denke, werde ich sentimental. Die Bindung zu ihnen war eng. Im Sommer besuchte ich sie für mehrere Wochen, ging mit ihnen in den botanischen Garten, ins Schwimmbad oder auf den Pferdehof. Das Haus und der Garten waren mein Wohlfühlort. Überall große Teppiche, erzgebirgische Schnitzkunst, Pflanzen und große Stand- und Wanduhren, aus denen zur vollen Stunde ein Kuckuck herauskommt. Heute bin ich selten zu Besuch. Die vertrauten Räume und der Geruch sind noch genauso wie früher. Doch etwas ist anders: An den Wänden hängen Bilder von Putin, Sprüche gegen Merkel und auf dem Tisch liegt ein Flyer der AfD. Statt aus der bunt geblümten Tasse, kann ich meinen Tee jetzt auch aus einem Becher trinken, darauf Putin, oberkörper-frei auf einem Pferd sitzend. Was mein Vater mit Humor nimmt, widert mich an.

Ich würde die Zeit gerne zurückdrehen – Urlaub bei Oma und Opa, statt anstrengende Diskussionen am Telefon.

Aber warum gerade meine Großeltern? Vielleicht hatte es sich schon angekündigt, denn schon vor Corona gingen unsere politischen Meinungen stark auseinander, sodass es öfter Diskussionen gab. Angefangen hatte es vermutlich bereits damit, dass sie in der DDR lebten und immer wieder betonten, wie viel besser sie es damals doch hatten. Der Verlust des eigenen Landes könne, laut Imhoff, eine Kontrollverlusterfahrung darstellen und den Menschen anfälliger für Verschwörungstheorien machen.

Seit Gründung der AfD sind meine Großeltern bereits ihre Anhänger*innen und gehen oft auf Pegida-Demonstrationen. Irgendwann lagen in der Weihnachts- und Geburtstagspost nicht mehr nur Süßigkeiten und andere Geschenke, sondern auch „Aufklärungsflyer“ und Zeitungsartikel. Unter anderem von einer Jugendgruppierung, die bereits vom Verfassungsschutz überwacht wurde. Meine Mutter empfand das als Bedrohung – ich konnte es nicht einordnen.

„Wir umgeben uns gerne mit Menschen, die dieselben Ansichten haben, hören gerne, dass wir Recht haben."

Ulrich Wagner, Psychologe

Seit Beginn der Pandemie wurde es dann immer schwerer, „persönliche“ Gespräche zu führen, ohne auf die Politik zu sprechen zu kommen. Konnte ich früher noch ganze zwei Stunden mit meiner Oma telefonieren, so bin ich heute froh, wenn das Gespräch nach zehn Minuten vorbei ist. Dennoch zwinge ich mich, regelmäßig anzurufen. Auch die Chatverläufe mit meinen Großeltern auf WhatsApp und Telegram sind ein Abbild des zerrütteten Verhältnisses: Weitergeleitete Kettenbriefe, Videos und Sprachnachrichten, die unter anderem auch Verschwörungstheorien und Aufrufe zum Widerstand beinhalten. Würde ich mir alles anschauen, müsste ich mein Studium abbrechen. Einmal nehme ich mir die Zeit, versuche die Quelle eines Videos zurückzuverfolgen. Ich schicke ihnen meine Ergebnisse und Links zu Faktencheckseiten. Erfolglos. Zurück kommen Sätze wie „Warum glaubst du inkompetenten Menschen und nicht Medizinern mit langjährigen Erfahrungen in der Virologie?“ Der Backfire-Effekt beschreibt in der Psychologie das Phänomen, dass trotz gegenteiliger Faktenlage die andere Person ihre Ansichten beibehält und diese sogar eher noch verstärkt. Darüber täuschen auch die musikalisch untermalten Filmchen mit lächelnden Spiegeleiern oder Tierchen nicht hinweg, die mir einen „Guten Morgen“ wünschen.

„Bei gleicher Umgebung lebt doch jeder in einer anderen Welt. Wir wünschen dir in deiner Welt alles Gute, … “ *

Ich weiß noch, wie ich mich damals freute, als sie sich auch endlich ein Smartphone zugelegt hatten und wir viel schneller auch mal zwischendurch kommunizieren konnten. Heute wünschte ich, dass sie immer noch ein Tastenhandy nutzen würden.

Telegram – ein Fluch?

Ich will verstehen, warum sie den Nachrichten auf Telegram und Co. mehr vertrauen als den seriösen Medien und mir. Deshalb habe ich mich selbst in die Gruppen begeben. Nach drei Stunden bin ich genervt und überfordert. So langsam verstehe ich, wie schwer es sein muss, sich aus einer solchen Blase an Gleichgesinnten wieder zu lösen. Das lässt sich aus psychologischer Sicht einfach erklären: „Wir umgeben uns gerne mit Menschen, die dieselben Ansichten haben, hören gerne, dass wir Recht haben“, erklärt mir Ulrich Wagner, Professor an der Uni Marburg. Die Nachrichtenanzahl ist kaum zu überblicken, denn es sind lange nicht nur ein bis zwei Gruppenchats – es fängt bei Corona-Protesten an und geht bis zu dem Gedenken an die „Massenvernichtung durch die Allierten“ nach dem zweiten Weltkrieg. Da steige ich schließlich aus. Alles klingt vermeintlich plausibel und ist untermauert mit Studien oder Expert*innen. Die Nachrichten sind schockierend: Tod durch Impfung, Verlust von Selbstbestimmung und ein drohender Dritter Weltkrieg. Wenn ich täglich viel Zeit in diesen Gruppen auf Telegram oder Ähnlichem verbringen, mich dort informieren und dem vertrauen würde, dann hätte ich auch Angst. Und: „Wenn man Angst hat, braucht man Feinde“, sagt Diplom-Psychologin Karin Jende.

„Das Einzige, was passieren kann, ist, dass sie uns spritzen und wir sterben. Das kann passieren. Aber davor hauen wir in die Tschechei ab. Wir lassen uns nicht impfen!“ *

Zwei Gefühle machen sich in mir breit: Mitleid mit denen, die wie meine Großeltern diesen Quellen Glauben schenken und sich dadurch einer großen Gefahr ausgesetzt sehen sowie Wut auf die Verfasser*innen und die Politik, die nichts dagegen unternimmt. Auch Ulrich Wagner sieht die Ursache vor allem in der Politik: „Solche Entwicklungen hängen sehr stark davon ab, inwieweit die Politik in der Lage ist, Normen und Standards vorzugeben. Denn das ist ein Orientierungsmaß und die Politik hat einfach unendlich viel verspielt“.  Der Mangel an Alternativen zu der AfD, wenn man mit der aktuellen Regierung unzufrieden ist, stelle ein zusätzliches Problem dar.

„Höre dir das bitte genau an. Nur die AfD kann uns noch retten!“ *

Einige meiner Freund*innen raten mir, den Kontakt abzubrechen. Doch so einfach, wie sie sich das vorstellen, ist es nicht. Grundsätzlich regt es mich auch auf, wenn ich von Demos lese, bei denen die Hygienevorschriften nicht eingehalten werden. Und die Art und Weise, wie Medien und Politiker*innen kritisiert und diffamiert werden, ist widerwärtig und beschämend. Trotzdem habe ich das Gefühl, meine Großeltern verteidigen zu müssen, wenn andere sagen „Wie kann man nur so bescheuert sein? Solche Leute sind selbst schuld, wenn sie dann auf der Intensiv landen und sterben.“

Das fühlt sich mies an – als hätte man Verbrecher*innen in der Familie. Ich schäme mich dafür.

Zudem habe ich Angst, dass sie noch tiefer in die Verschwörungsszene eintauchen und ich sie komplett verliere. Nicht nur auf der Beziehungsebene. Denn während meine Großeltern die Gefahr in der Impfung sehen, fürchte ich mich davor, sie auf der Intensivstation zu besuchen. Ich bin ein Familienmensch und es ist mir wichtig, Kontakt zu halten. Ich habe zu viele schöne Jahre mit ihnen erlebt, das kann ich jetzt nicht wegschmeißen und vergessen. Auch Sarah Pohl, Beraterin bei der zentralen Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen Baden-Württemberg (ZEBRA), rät, den Kontakt zu halten, um sie nicht noch stärker abrutschen zu lassen.

„Wir müssen lernen, nicht zu werten, sondern in einer bedürfnisorientierten Weise zu kommunizieren – respektvoll und wertschätzend."

Petra Weinberger, Sozialberaterin

Nach der Recherche und den Gesprächen mit den Expert*innen fühle ich mich gestärkt und gehe zuversichtlich in das nächste Telefonat mit meinen Großeltern. Fast schon freue ich mich darauf. Ich weiß jetzt, dass vieles, was sie mir schicken, ein Zeichen von Fürsorge ist.

Als sie mich direkt zu Beginn wieder mit der Manipulation durch die Medien und die Inkompetenz der Journalist*innen konfrontieren, muss ich mich dann aber doch zusammenreißen. Der Versuch, die Funktion des Journalismus und seine Kontrollmechanismen zu erklären, wie mir von einem Experten geraten wurde, mündet nur in einer erneuten Diskussion. Eine Diskussion auf der Inhaltsebene sei laut Beraterin Petra Weinberger auch schwierig, da beide Gesprächspartner*innen dafür über den gleichen Wissensstand verfügen müssten. Um wieder zueinander zu finden, empfiehlt sie, das Gespräch deshalb auf der Beziehungsebene zu führen. Das bedeutet: Ich schweige nicht, sondern spreche über meine Gefühle und Bedürfnisse, frage nach, höre zu und verstehe sie dadurch besser. Lange erzählt mir meine Oma von ihrer Kindheit im Krieg, der DDR, dem Leid, dem Hunger und ihrer Angst und Wut, wenn sie dann die aktuelle Politik betrachtet.

„Menschen sind umgebracht worden und sind umgekommen im Krieg, und jetzt fangen die Deutschen schon wieder mit Krieg an. Weißt du wie das in mir ist? Und der Opa, der in den Krieg ziehen musste, wenn der erzählt hat, was der alles erlebt hat. Das war furchtbar. Und das ist in uns und das kennt ihr nicht und das mach‘ ich dir auch nicht zum Vorwurf, aber wir wägen das mit ab. Wir haben gelernt, kritisch zu sein.“ *

Plötzlich tut es mir leid, dass ich in den vorherigen Gesprächen durch Schweigen die Chance vertan habe, die Hintergründe kennen zu lernen. Darin läge ein Kernproblem, sagt Petra Weinberger: „Das Problem bei der Kommunikation ist, dass wir nicht kommunizieren, um zuzuhören, sondern um zu antworten. Wir müssen lernen, nicht zu werten, sondern in einer bedürfnisorientierten Weise zu kommunizieren – respektvoll und wertschätzend."

Um den Inhalt anzuzeigen müssen Sie zuvor der Nutzung von Marketing Cookies zustimmen.
Erfahre mehr über die Tipps der Expert*innen, indem du auf die Nummer klickst. | Quelle: Sarah Liebers

Nach einer Stunde und 15 Minuten habe ich ihnen meine Bedürfnisse und Gefühle mitgeteilt und ihnen gesagt, dass sie mir wichtig sind. Ich habe nicht die Illusion, dass wir irgendwann die gleiche Meinung teilen. Auch Psychologie-Professor Ulrich Wagner befürchtet, dass sich nach der Pandemie die heftigen Auseinandersetzungen in andere Protestbewegungen verlagern, zum Beispiel zu Klimaschutzmaßnahmen. Das Ende der Pandemie löst somit das Problem der gespaltenen Familie nicht. Es geht vielmehr darum, wieder eine Beziehung aufzubauen und zu erhalten. Ich erinnere mich dabei gerne an die Worte von Petra Weinberger: „Wir täten gut daran, wenn wir uns darauf besinnen, dass wir nur miteinander stark sein können und wir uns geborgen und sicher fühlen können innerhalb unserer Familien.“

Als Journalistin möchte ich hingegen einen Teil dazu beitragen, dass Menschen wie meine Großeltern das Vertrauen in die Medien zurückgewinnen – durch Transparenz und beidseitige Berichterstattung.

Dieser Text wurde vor dem Beginn des Kriegs Russlands gegen die Ukraine verfasst.

*Die Gesprächsausschnitte sind aus meinem Gedächtnis nachgestellt.