Wenn nur die Menschlichkeit bleibt
Der 16-Jährige Aman O. (Name geändert) mit dunklen Haaren und schlankem Gesicht schaut uns neugierig durch seine mandelförmigen Augen an. Man denkt zunächst, dass Aman ein ganz gewöhnlicher Jugendlicher ist. Mit seinem Sportpullover und seiner lässigen Haltung wirkt er wie ein Junior-Fußballstar. Aman läuft zur Konsole und drückt das Fifa-Spiel auf Pause. Karten aus Syrien und Afghanistan bedecken die Wand. Er erzählt stolz, dass er sich ein Zimmer mit Mohammed teilt: „Der kommt auch aus Afghanistan und ist genauso alt wie ich.“
Vor zwei Jahren flüchtete Aman aus Afghanistan nach Deutschland. „Anderthalb Monate haben wir gebraucht,“ sagt Aman und schluckt kurz. Seine Stimme zittert etwas. Er hat es geschafft, über den Landweg nach Europa zu kommen.
Aman gilt im Beamtendeutsch als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, kurz „umF“. Das sind Jugendliche unter 18, die ohne Eltern aus ihrem Heimatland fliehen. Aman lebt in seinem neuen Zuhause, der gemeinnützigen „Stiftung Jugendhilfe aktiv“, mit anderen Afghanen und Syrern zusammen. Früher ein Kindergarten. Heute ein Ort, um die Kindheit nachzuholen? Dafür bleibt nicht viel Zeit, denn der Plan lautet Integration. Stilianos und seine Kollegen setzen sich dafür ein, dass die „Jungs“ es schaffen, mit dem System in Deutschland zurechtzukommen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Der Gedanke, sich mit aufgedrehten, pubertierenden Teenies herumzuärgern, ist ungemütlich. Aber ist es so?
Kompromisse finden
Mittagessen: Heute gibt es Reis mit Fleischbällchen. Damit jeder nach der Schule satt wird, kochen Stilianos und seine Kollegen unter der Woche mittags für ihre Schützlinge. Einer der Bewohner begrüßt uns mit „Sie“. Wir schmunzeln und bitten ihn, uns ruhig zu duzen. Stilianos erklärt, dass man generell die ältere Generation in Deutschland mit „Sie“ anspricht. Aman genießt das Essen, der Geschmack erinnert ihn an seine Heimat. „Beim Kochen mische ich oft Curry mit Koriander zusammen. Das sind die Jungs gewohnt,“ erzählt uns Stilianos mit einem Lächeln. Aber aufgepasst: Auch Spaghetti stehen mal auf der Speisekarte. Warum es schon wieder Spaghetti gäbe, hieße es dann. „Mecker nicht, dass es schon wieder Spaghetti gibt, sondern lerne es zu schätzen und sei dankbar dafür, dass es überhaupt was gibt und jemand für dich sorgt“, sagt Stilianos mit ernstem Ton.
Harte Wartezeiten
Nach dem Mittagessen erledigt Aman seine Hausaufgaben. Sein Deutsch ist schon sehr gut, er geht in die neunte Klasse der Werkrealschule in Stuttgart-Heumaden. Nach dem Abschluss will er sich auf einen Ausbildungsplatz zum Anlagenmechaniker bewerben. Hausaufgaben überwunden – jetzt zieht er zum Fußballtraining los. Aman kämpft nicht nur seit Monaten um den Ball, sondern auch mit seiner Geduld. Er hat noch keinen geklärten Aufenthaltsstatus und muss warten. „Wir dachten, wenn wir hierherkommen, dann kriegen wir einen Pass und jetzt ist es schwieriger.“ UmFs aus Afghanistan warten im Durchschnitt 10,6 Monate auf eine Entscheidung im Asylverfahren.
Regeln einhalten
An der Küchentür hängt ein wöchentlicher Reinigungsplan. Er regelt, wer wann die Küche putzt, den Müll rausbringt, kocht, staubsaugt und kehrt. Abends stehen die Jungs selbst am Herd und kochen für die ganze Gruppe. Der Plan hilft ihnen, ihre Wochentage zu strukturieren. Der 16-Jährige hat mehrere Monate gebraucht, um sich an alle Regeln im Wohnheim zu gewöhnen. Er wirkt gefasst. „Weil in meinem Land gibt es nicht so viele Regeln, da machen die Menschen was sie wollen.“ Auf die Frage welche Regel ihm komisch vorkommt lacht Aman peinlich berührt: „Pünktlichkeit. Wenn man eine Minute zu spät ist, ist es zu spät.“
Dazwischengehen
Stilianos ist nicht viel größer als seine Schützlinge, trotzdem weist er sie ruhig und bestimmt zurecht. Wenn seine Jungs bis 23 Uhr aufbleiben, jagt er sie ins Bett. Wenn sie nachts durch das Haus rennen, ermahnt er sie. Wenn sie versuchen sich an die „Gurgel“ zu gehen, greift er ein. Passiert, sobald sich Testosteron bei zehn Jugendlichen gleichzeitig freisetzt. Doch dann erlebt man den 30-Jährigen, wie er mit den Jungs scherzt, ihnen zur Begrüßung die Faust gibt und sie lobt. Samstagmorgen hingegen ist im Wohnheim tote Hose. „Viele würden am liebsten den ganzen Tag schlafen“, erzählt uns Stilianos. Minderjährige Flüchtlinge machen auf ihrer Flucht traumatische, lähmende Erfahrungen. „Ich kann mir weder anmaßen noch vorstellen, was das für die Jugendlichen bedeutet, da ich nie in der Situation war, um mir über so etwas Gedanken machen zu müssen“, sagt Stilianos stirnrunzelnd und zugleich traurig. Als könne er den Gefühlen seiner Jungs keinen Namen geben. Seine Aufgabe sei es dann, die Jugendlichen mit gemeinsamen Ausflügen zu motivieren.
Antwort stehen
Bevor Aman in die Wohngruppe kam, musste sein Alter überprüft werden, wie bei vielen anderen jungen Flüchtlingen. Ein entscheidender Schritt, da Abschiebungen von jungen Flüchtlingen in ihr Heimatland in der Regel nicht möglich sind. Die Jugendämter sind dazu verpflichtet, unbegleitete Minderjährige aufzunehmen. „Wie lange warst du in der Schule? Hast du dann gearbeitet?“ Das sind mögliche Fragen, die vom Jugendamt protokolliert werden.
Auch Aman hat diese Frage gestellt bekommen: „Nach einer Woche waren vier Männer und eine Frau da. Und die haben gefragt, wie alt ich bin und da habe ich das erzählt.“
Volljährig, was nun?
Am 22. November 2017 diskutierten Experten, im Rahmen des „FORUMs 2025“ der Stiftung Jugendhilfe aktiv, Ideen für den zukünftigen Umgang mit jungen Flüchtlingen. Ab dem vollendeten 18. Lebensjahr entfällt der Schutz bei Jugendlichen, die keinen Anspruch auf Asyl haben. Muhammet Karatas von der IHK Stuttgart betont, dass wir viele junge Geflüchtete hätten, die eine Ausbildung beginnen wollen. Sie seien allerdings nicht alle ausbildungsreif und der Sprache nicht gewachsen. Auf der anderen Seite hätten wir die mittelständischen Unternehmen, die nicht viel Zeit und Geld in die Ausbildung des Jugendlichen investieren möchten. Das Risiko, dass der Jugendliche mit 18 wieder abgeschoben wird, sei für die Unternehmen zu groß.
„Man weiß nie, darf man hierbleiben, muss man gehen. Lohnt es sich motivierend an etwas heran zu gehen?“ Dieser Zustand beschäftigt Betreuer Stilianos und die Bewohner jeden Tag. Falls einer der Jungs zurück muss, hofft er, dass sie trotzdem aus ihrem Leben in Deutschland etwas für die Zukunft mitnehmen. Sie sollen das Beste aus sich herausholen.“