„Ich brauche Anhaltspunkte.“
Kennen, ohne wiederzuerkennen
Tagsüber leuchtet das Starbucks Logo nicht. Die tiefstehende Sonne lässt das runde Schild dennoch auffällig grün strahlen. „Wusstest du, dass das Logo unsymmetrisch ist?“ Amina zeigt ausgerechnet in das Gesicht der weiblichen Person, das das Schild ausfüllt. „Auf der rechten Seite ist der Schatten der Nase etwas länger als hier links.“ Amina lacht. Während sie das Gesicht der Figur auf dem Logo detailliert analysieren kann, fällt ihr das Wiedererkennen von Gesichtern in ihrem persönlichen Umfeld um einiges schwerer.
Amina ist neunzehn Jahre alt und von Geburt an gesichtsblind. Betroffene können die einzelnen Gesichtsmerkmale zwar wahrnehmen, jedoch speichert das Gehirn die Informationen nicht ab. „Ich kenne meine Freunde. Das Wiedererkennen ist das, was nicht funktioniert“, betont sie. Amina kneift die Augen zusammen und denkt an einen Gegenstand. Ein blaues Buch mit roter Schrift. Sobald Amina jetzt an das Buch denkt, sieht sie es detailliert vor ihrem inneren Auge. Sie kann es drehen und aus allen Blickwinkel betrachten. Versucht sie sich jedoch an ein Gesicht zu erinnern, bleibt alles schwarz.
Prosopagnosie – so lautet der Fachbegriff für die neurologische Störung. Weltweit sind 2 % betroffen. Bei einer aktuellen Weltbevölkerung von acht Milliarden Menschen, sind demnach 160 Millionen Menschen gesichtsblind. Betroffene haben Schwierigkeiten, andere Personen anhand ihres Gesichts wiederzuerkennen. Für Amina sieht ein Gesicht aus wie jedes andere. Das Gesicht dient somit nicht mehr als Wiedererkennungsmerkmal. Betroffene orientieren sich an anderen Merkmalen der Person.
Alles andere, nur nicht das Gesicht
Amina kennt es auch nicht anders. „Alles, außer das Gesicht, merke ich mir viel besser.“ Die Stuttgarter Innenstadt füllt sich langsam. Laute Gespräche und schrilles Gelächter übertönen das naheliegende Konzert am Stuttgarter Schlossplatz. Jeder Zentimeter Schatten wird von Besuchern ausgefüllt. Einen Platz für die hellbraune Picknickdecke lässt sich jedoch noch finden. Amina zieht ihre Schuhe aus und setzt sich im Schneidersitz an das andere Ende der Decke. Sie schaut den vorbeilaufenden Passanten hinterher. Ihr Blick wandert von rechts nach links. Wie von selbst scheint ihr Fokus auf die Merkmale zu zielen, die ihr bei der Wiedererkennung helfen. An ihren Fingern beginnt sie diese abzuzählen: „Haare, Gangart, Stimmfarbe oder auch das Outfit sind wichtig. Das merke ich mir viel besser als das Gesicht.“
Dabei ist sie besonders stark auf Stimmen fixiert. Vom Tempo bis zur Klangfarbe und Stimmhöhe: Sie hört jeden kleinen Unterschied heraus. „Ich pausiere oft Filme um zu schauen, wer der Synchronsprecher ist,“ erzählt sie aufgeregt und lacht. Auch sie nimmt nebenher kleine Rollen als Synchronsprecherin an. „Ich kann mit Stimmen einfach so viel anfangen.“ Ihr Lächeln spiegelt sich in ihren braunen Augen wieder, als sie sich begeistert in den Details von Stimmenmerkmalen verliert. Während sie sich bei Filmen die Synchronstimme merken kann, sieht das bei den Darsteller*innen anders aus. „Ich muss öfter meine Freunde fragen, damit ich den Film verstehe,“ gibt sie zu. Das Taschentuch, womit sie sich zuvor ihre Hände abgewischt hat, reißt sie währenddessen in kleine Stücke. „Ich brauche Anhaltspunkte. Zum Glück gibt es aber das ungeschriebene Gesetz, dass bei zwei Hauptcharakteren eine/r blond und die/der andere braunhaarig ist. Das hilft mir.“ Sie zerreißt noch das letzte Stück Taschentuch und legt es beiseite.
Nicht einmal ihre Eltern erkennt sie am Gesicht. Schon von klein an entwickelt Amina unterbewusst Methoden, um ihr Umfeld wiederzuerkennen. So hat sie sich immer das Outfit ihrer Mutter gemerkt, sobald sie das Haus verlassen hat. „Meine Mutter hat eine gelbe Jacke. Dann schaue ich, ob ich diese gelbe Jacke wiederfinde, wenn sie weg ist.“ Doch nicht nur die Kleidung hat ihr geholfen, ihre Eltern wiederzuerkennen. Wenn sie als Kind von der Schule abgeholt wurde, begegnete sie einer Reihe von Männern, die alle ihrem Vater ähnelten. Gleicher Bart, ein weißes Oberteil und eine blaue Jeans. Ohne weitere Anhaltspunkte schien es für Amina wie ein unlösbares Ratespiel. „Ich wusste aber, dass mein Vater oft im Auto saß. Ich habe aber nicht reingeschaut, sondern nur auf das Kennzeichen geachtet.“ Das führte zu gefährlichen Situationen, denen sie schon als Kind ausgesetzt war.
Mithilfe ihrer Erkennungsstrategien, kann sie in manchen Situationen jedoch schneller eine Person wiederfinden, als ihr Umfeld. „Ich bin immer die Erste, die Freunde am Bahnhof erkennt,“ erzählt sie stolz und lacht. Da Amina mehr auf die Größe, den Körperbau oder auch die Gangart achtet, kann sie Personen schon von weiter weg erkennen. „Vor allem aus der Ferne erkenne ich die ganzen anderen Merkmale, außer das Gesicht, am besten.“ Ihr eigenes Verhalten hat sie in solchen Situationen nie hinterfragt. Für sie war es normal.
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Ein Teil der zwei Prozent
Prosopagnostiker*innen hinterfragen ihr untypisches Verhalten selten. Betroffene reagieren oftmals verwundert, wenn sie realisieren, dass andere Menschen keine Strategien benötigen, um andere wiederzuerkennen. Eine Tatsache, die auch Ingo Kennerknecht, vom Institut für Humangenetik am Universitätsklinikum Münster, bei Betroffenen öfter erlebt hat: „Ich kenne Betroffene, die zum ersten Mal hören, dass sich andere keine Gedanken darüber machen, wie man Personen wiedererkennt. Sie haben gedacht, das wäre üblich.“ Aufgrund dieser Annahme wird die Gesichtsblindheit häufig übersehen. „Die entwickelten Strategien machen die Prosopagnosie scheinbar selten. Es ist aber nicht extrem selten, sondern häufig“, so Kennerknecht. Auch er geht von einem Anteil von 2 % aus.
Amina ist Teil dieser zwei Prozent. „Ich habe einfach etwas, was nicht viele haben. Das ist nichts Besonderes“, erklärt sie bescheiden. Doch nicht jeder sieht ihre Unfähigkeit als normal an. Einige reagieren mit Unverständnis auf ihre Störung. „Das habe ich noch nie gehört“ , „Was ist das?“ oder „Woher weißt du, dass du das auch wirklich hast?“, bekommt Amina öfter zu hören. Sie zieht ihre Schultern hoch und erklärt: „Ich muss dann immer abwägen, ob ich grade Lust habe, einen Zwanzigminütigen Monolog über mein Leben zu führen oder einfach kurz sagen, dass ich den Namen vergessen habe.“ Amina entscheidet sich dabei häufiger für das Zweite. Auch wenn viele verständlich reagieren, gibt es doch Situationen, in denen Amina sich unwohl fühlt. „Ich hatte in der Schule zwei Lehrerinnen, die sich sehr ähnlich sahen. Beide gleichgroß und lange rote Haare. Die kann ich bis heute nicht auseinander halten.“ Amina hebt unschuldig die Hände und erklärt weiter: „Ich habe dann gesagt, dass ich ihren Namen vergessen habe und die Lehrerin hat die Augen verdreht und genervt ausgeatmet.“ Eine komische Reaktion, findet Amina.
„Ich finde jeden Menschen hübsch.“
Dennoch macht Amina die Gesichtsblindheit nichts aus. Das Gefühl, anders zu sein, schreckt sie nicht ab. „Jeder denkt von sich, dass er anders ist. Man ist nie wie der Rest.“ Sie hebt die Schultern an und lässt sie wieder sinken. „Wenn andere meine Gesichtsblindheit nicht verstehen, dann ist das nicht mein Problem. Ich kann nichts dafür.“ Ihr selbstsicherer Blick schweift in die Menschenmenge.
Amina kann die Gesichter, welche sie sieht, nicht nur nicht speichern, sondern ihr sind Gesichter auch einfach egal. Von ihrem Umkreis bekommt sie oft zu hören, dass sie gar kein oberflächlicher Mensch sei. Sie selbst begründet das mit ihrer Störung. „Ich kann keine Gesichter vergleichen und sagen, welches schöner ist. Ich habe dafür keine Datenbank an Vergleichswerten in meinem Kopf. Ich finde jeden Menschen hübsch.“ Ein Vorteil, der sie auch in ihrem Selbstwert gestärkt hat. Sie hatte nie den Wunsch anders auszusehen. Sie konnte sich auch nicht mit anderen vergleichen. „Ich bin schon sehr froh, dass ich das nie so wahrgenommen habe.“
„Ich bin schon sehr froh, dass ich das nie so wahrgenommen habe.“
Ein Blick in den Spiegel zeigt, wie Amina sich selbst sieht. Sie nimmt den quadratischen Spiegel in die Hand und hält ihn sich vor das Gesicht. Mit ihrer freien Hand wischt sie sich den Mundwinkel ab und streicht sich dann mit einem Finger über ihre Augenbrauen. Ihre vollen, dunklen Augenbrauen stechen aus ihrem Gesicht hervor. Die markante Form wirkt symmetrisch. „Die eine Augenbraue ist etwas höher als die andere.“ Sie schiebt die Härchen hin und her. Mit dem bloßen Auge ist kein Unterschied zu erkennen. Amina betrachtet sich weiter. „Ich sehe meine einzelnen Gesichtsmerkmale und nehme sie wahr, doch das interessiert mich nicht. Mir ist nur wichtig, dass ich gepflegt aussehe.“ Sie kontrolliert, ob ihr etwas zwischen den Zähnen hängt, schaut noch ein letztes Mal in den Spiegel und legt ihn dann zurück.