Spiritualität

Echte Hexen: Nur Hokus Pokus?

Hexen nutzen häufig Tarotkarten und Kristalle für Rituale.
20. Jan. 2023
Zauberstab statt Kruzifix: Junge Menschen wie Nicole und René folgen dem Hexentum. Für sie ist Gassi gehen und Tee trinken bereits magisch. Das Hexe sein ist eine Antwort junger Leute auf der Suche nach Spiritualität.

„Es ist Zeit“, schreit Winifred, als sie ihr Gesicht über den brodelnden Kessel hält. „Eulenblut und rote Kräuter in den Topf. Dreimal umrühren und ein Haar von meinem Kopf“, murmelt die hässliche Frau mit den roten Haaren. Winifred, Sarah und Mary laufen hektisch umher. Nach und nach landen immer mehr Zutaten in dem grünlich leuchtenden Trank. „Eines noch, dann ist’s getan. Zeigt mal, was euer Speichel kann!“ Die drei spucken in das blubbernde Gebräu. Nun muss das ängstliche Mädchen auf dem Stuhl noch den Trank einnehmen und ihre Lebenskraft wird den Frauen gehören.

Filme wie Hocus Pokus von Kenny Ortega stellen Hexen als alte, hässliche Frauen dar, die Tränke brauen und auf Besen fliegen. Diese Filme vermitteln ein falsches Bild, beteuert Nicole: „Das sind alles diese Hollywood-Hexen, die nicht der Realität entsprechen. Wir fliegen nicht auf irgendwelchen Besen, wir opfern keine Schafe oder sonst irgendwas.“ Die 28-jährige Arbeitsvermittlerin bezeichnet sich als Hexe. Dadurch kämpft sie auch mit Vorurteilen. Ganz schlimm finde sie den Vorwurf schwarze Magie zu machen und in der Hölle zu landen. Hexen würden gar nicht an eine Hölle glauben. Der 26-jährige René Mathemeier nennt sich ebenfalls Hexe. „Ich fand' früher Zauberer immer ganz toll und je älter ich wurde, desto mehr habe ich mich in das Thema reingelesen“, erklärt er. Für ihn ist das Wort „Hexe“ genderneutral. Somit können, anders als meist in Hollywood dargestellt, nicht nur Frauen eine Hexe sein. 

Beide folgen dem Hexentum und keiner klassischen Religion wie dem Christentum oder Islam. Die Beliebtheit des Hexentums bei jungen Menschen sieht man in den sozialen Medien. Über 35 Milliarden Aufrufe (Stand Dezember 2022) erreicht der Hashtag #Witchtok – eine Mischung aus den Worten TikTok und dem englischen Wort für Hexe: Witch – auf der Plattform Tiktok, die hauptsächlich Menschen unter 30 Jahren nutzen. Dabei ist das Hexentum keineswegs eine Erfindung von Social Media. Schon Höhlenbilder von 12.000 vor Christus gelten heute als die vermutlich erste Darstellung von Hexerei.

Die Kirche und das Hexentum

Was bedeuten alternative Glaubensrichtungen wie das Hexentum für die größte Religion Deutschlands, dem Christentum? Kirchen in Deutschland verzeichnen seit den frühen 2000er Jahren eine hohe Zahl an Kirchenaustritten. So sieht etwa der Jugendpfarrer des evangelischen Kirchenkreises Stuttgart am Sonntagmorgen vermehrt leere Plätze in der Kirche. Er beteuert, es werde immer schwieriger, ein Verständnis dafür zu vermitteln, welchen gesellschaftlichen Nutzen die lebenslange Mitgliedschaft in Kirchen habe. Bei einer Umfrage des SWR erzählten Teilnehmer*innen, dass die Gründe für einen Kirchenaustritt selten mit fehlendem Glauben verbunden seien, sondern mit der Kirche als Institution. Junge Menschen zwischen 20 und 35 Jahren treten nach Angaben von Sonntagsblatt.de am häufigsten aus der Kirche aus. Auch die Referentin für Junge Erwachsene im katholischen Stadtdekanat Stuttgart, Doktor Monika Kling-Witzenhausen, äußert sich dazu: „Die Kirchen erleben gerade eine große Krise.“ Sie berichtet, dass sich viele junge Menschen nicht von den Angeboten der Kirche angesprochen fühlen.

Die Kirchen erleben gerade eine große Krise.

Doktor Monika Kling-Witzenhausen von Junge Erwachsene im katholischen Stadtdekanat Stuttgart

Dennoch sind junge Menschen auf der Suche nach Spiritualität. So positioniert sich Kling-Witzenhausen zum Hexentum: „Dass sich junge Menschen gerade vermehrt mit dem Thema Hexen, Horoskopen oder auch Tarot-Karten beschäftigen zeigt, dass viele Menschen ein Bedürfnis nach Spiritualität haben.“

Die Kirche und das Hexentum überschneiden sich in vielen Bereichen. Der Ursprung von Weihnachten liegt in Festen, die traditionell zur Sonnenwende im Dezember stattgefunden haben. Um das Jahr 400 hat die Kirche versucht heidnische Feste zu verbieten. Nachdem das nicht funktioniert hat, entschied sie den Anlass Jesus zu widmen. Christliche Bräuche von heute, wie das Osterfeuer oder der Adventskranz, sind ebenso heidnischen Traditionen entsprungen. Auch Hexe René sieht Parallelen zwischen dem Christentum und Hexentum. Für ihn sei eine Taufe im Prinzip nichts anderes als ein Ritual. Auch betont er, dass jede Hexe andere Glaubensrichtungen akzeptiere, aber nicht jeder Glaube das Hexentum.

Jede Hexe akzeptiert jeden anderen Glauben, aber nicht jeder andere Glaube akzeptiert das Hexentum.

René Mathemeier

Nicole erklärt dazu: „Hexe sein bedeutet nicht, dass du einen anderen Glauben ablehnst. Es gibt auch christliche Hexen, es gibt muslimische Hexen.“ Hexe sein bedeute auch die Praktik mit der Magie, deswegen schließe das eine das andere nie aus. Aber was genau ist Magie?

Was ist Magie?

„Magie ist im Prinzip das Manifestieren von Gedanken und dadurch bewirke ich etwas“, berichtet René. Das Kerzen Ausblasen auf der Geburtstagstorte, einen Glücksbringer für eine Prüfung mitnehmen oder das Zerbrechen von Porzellan an einem Polterabend: Im Alltag finden sich Rituale überall. Hexen nutzen bewusst solche Abläufe, um bestimmte Ziele zu erreichen. René arbeitet beispielsweise viel mit Intentionen. Wenn er krank ist und sich einen Tee kocht, kann das schon „magisch“ sein. Dabei betrachtet er die Zutaten für den Tee und stellt sich ihre positiven Eigenschaften vor. „Ich habe dann visualisiert, wie mir die Zitrone Gesundheit gibt und wie mir der Ingwer Kraft gibt und Wärme und wie mir der Honig den Schmerz nimmt.“ So wird aus einem normalen Tee ein magischer Tee mit positiven Gedanken. Diese guten Intentionen nimmt René, während er den Tee trinkt, mental ein. Magie ist oft eine andere Sicht auf eigentlich normale Ereignisse. „Letztendlich ist ein Kristall auch nur ein Kristall“, bemerkt Nicole. Man müsse sich auf diese feinen Gegebenheiten einlassen und dadurch werden sie magisch. So wird aus einem alltäglichen Moment, beispielweise morgens Gassi zu gehen, ein bewusstes Reinigungsritual.

| Quelle: René Mathemeier und Nicole | erstellt mit Canva

Wer ist Hexe?

Jeder und jede kann sich selbst als Hexe bezeichnen. „Wenn ich heute aufwache und sage: Ab heute bin ich Hexe, dann ist das so. Was man daraus macht und wie man das Ganze praktiziert, ist jedem selbst überlassen“, klärt René auf. Eine Aufnahme, Initiation oder Anmeldung braucht es nicht. So kann jeder und jede ihren Alltag mit Magie füllen und eigentlich normale Dinge, wie der morgendliche Spaziergang mit dem Hund, werden zu etwas Besonderem.