„Ich habe mir immer Gedanken darüber gemacht, was ich nach meiner Karriere mache. Eine Ausbildung war mir dabei immer wichtig."
Das Leben in der Nachspielzeit
Die knapp 15.000 Fans schreien und jubeln, er trägt die Kapitänsbinde am Arm und feiert sein Tor. Ein Gänsehautmoment, Marco Grüttner stehen die Haare zu Berge. Er schaut sich um, um ihn herum tausende klatschende Menschen. Das war vor knapp 2 Jahren. Wenn er sich heute umschaut, sieht er viele Sportplätze um sich herum, sein Laptop ist aufgeklappt auf dem Schreibtisch. Statt inmitten von tausenden Fans zu sein, sitzt er heute in einem ruhigen Büro in der Geschäftsstelle des Regionalliga-Vereins SGV Freiberg. Den Sportplatz betritt er nicht mehr als Kapitän, sondern als Sportlicher Leiter.
Fußballprofis leben für viele ein Traumleben: Sie verdienen viel Geld, bekommen eine Menge Ansehen und machen ihre Leidenschaft zum Beruf. Jahrelang sind sie gefeierte Helden, doch die Karriere endet früh. Was machen ehemalige Profifußballer also, wenn sie ihre Fußballschuhe an den Nagel hängen? Mit 36 Jahren beendet Marco Grüttner seine Fußballkarriere in der Oberliga Baden-Württemberg. Grüttner ist ehemaliger Fußballprofi. Er spielte unter anderem bereits für den Zweitligist SSV Jahn Regensburg und wurde dort auch Kapitän. Insgesamt kommt er auf 191 Spiele in der 3. Liga und auf 96 Spiele in der 2. Bundesliga.
Mit Kopfhörern in den Ohren und breiten Grinsen kommt Marco Grüttner um 10 Uhr morgens in die Geschäfsstelle des SGV Freiberg. Freiberg am Neckar - Grüttners Heimat. Eine eigentlich kleine Stadt im Landkreis Ludwigsburg mit rund 17.000 Einwohner*innen. Für Marco Grüttner ist Freiberg aber nicht nur eine kleine Stadt, sondern der Mittelpunkt seines Berufs. Die Leidenschaft zwischen Freiberg, Marco Grüttner und dem Fußball merkt man direkt, als er seine Geschäftsstelle zeigt, die sich hinter einigen Sportplätzen befindet. Ein großer Fernseher füllt eine Wand seines Büros. Der Laptop ist aufgeklappt, daneben liegt sein Handy immer griffbereit. Sein Telefon klingelt im Zehnminutentakt. „Ohne Telefon geht bei mir gar nichts“, sagt Grüttner. Sein Handy beginnt zu klingeln. Obwohl jeder Arbeitstag von Grüttner anders beginnt, ist die Geschäftsstelle ein wichtiger Ort seiner Arbeit. Hier tätigt Grüttner gemeinsam mit einzelnen Mitarbeiter*innen Transfers und erledigt alle wichtigen Vereinsaufgaben. Heute steht zum Beispiel die Spieleranmeldung für das Spiel am nächsten Tag an.
Der Fußballverein SGV Freiberg ist in der vergangenen Saison aus der Oberliga Baden-Württemberg in die Regionalliga Südwest aufgestiegen. Marco Grüttner kam im Jahr 2020 von Zweitligist Jahn Regensburg als neuer Spieler und Sportlicher Leiter nach Freiberg. Aufgrund einer beruflichen Perspektive und seiner Familie wechselte er zurück in die Heimat. Seine berufliche Zukunft nach der Profikarriere machte er vor allem auch von seiner Familie abhängig. "Wenn Kinder im Spiel sind, macht man sich natürlich Gedanken um die Zukunft“, meint Grüttner.
Während Grüttner das E-Mail-Postfach öffnet, frage ich ihn, wann er begonnen hat, sich über seine Karriere nach seiner Profilaufbahn zu informieren. „Ich habe mir immer Gedanken darüber gemacht, was ich nach meiner Karriere mache. Eine Ausbildung war mir dabei immer wichtig“, antwortet er. Während er beim SGV Freiberg in der Jugend spielte, schloss er eine Ausbildung zum Industriekaufmann ab. Erst danach beschloss er, sich hauptberuflich dem Fußball zu widmen. Neben seiner Profikarriere absolvierte er zudem ein Fernstudium im Bereich Sportmanagement, machte Praktika in Vereinsgeschäftsstellen und nahm an Analyseweiterbildungen teil. Grüttner wollte über das Ende seiner Karriere immer selbst bestimmten. „Im Fußball kann es so schnell vorbei sein, da reicht ja schon eine Verletzung und dann steht man da. Das wollte ich nie."
Nur wenige Fußballspieler haben eine Berufsausbildung abgeschlossen
Laut einer Studie der Sportgewerkschaft VDV (Vereinigung der Vertragsfußballspieler) und des Instituts für Sportmanagement der Hochschule Koblenz aus dem Jahr 2018 haben nur rund die Hälfte der aktiven in Deutschland spielenden Fußballer eine Berufsausbildung abgeschlossen. An der Befragung beteiligten sich 230 Spieler aus der 1. bis 3. Liga. Die Spielergewerkschaft VDV kümmert sich unter anderem um vertragslose Fußballspieler und unterstützt sie in der Vereinssuche. Nach den Ergebnissen der Studie glauben dennoch mehr als die Hälfte der befragten Profispieler, dass ihre bisherige Qualifikation für die Karriere nach der Profikarriere genügt. Während Grüttner weiter seine Mails checkt, erläutert er mir genau dieses Problem. „Viele ruhen sich auf der Profi-Karriere aus und denken: ‚Ich werde schon genug Geld verdienen.‘“ Jedoch scheitern die meisten allein schon auf dem Weg in den Profi-Bereich.
Unser Gespräch wird unterbrochen, es klopft an der Tür. Eine Lieferung. Ein langer LKW steht in der Einfahrt vor der Geschäftsstelle. Was folgt sind wieder jede Menge Telefongespräche, Grüttner ist erstmal weg. Der prall gefüllte Terminkalender von Grütter, seine ständige Abrufbarkeit und seine unterschiedlichen Arbeitsaufgaben, von denen er mir zu Beginn erzählt hat, werden in dieser Situation besonders deutlich. Nach der Liefer-Angelegenheit widmen wir uns wieder unserem Gespräch bis das nächste Telefonat ansteht. „Es war immer mein Wunsch, nach meiner Karriere dem Sport verbunden zu bleiben“, sagt Grüttner. Wichtig für seine aktuelle Tätigkeit ist laut Grüttner ein besonders guter Menschenumgang. Als Sportlicher Leiter kümmert er sich um alle Belange der Ersten Mannschaft. Er ist im ständigen Kontakt mit dem Team, dem Trainer und dem Sportdirektor, entscheidet bei der Kaderplanung mit und begleitet das Marketingteam oft zu Sponsorenterminen. Die Hürde bei seinem Job ist, sich noch genug Zeit für seine Familie zu nehmen. „Es gibt ein paar Dinge, die man erledigen muss, wie die E-Mails oder Anmeldungen, aber sonst kann man nichts vorhersagen“, sagt Grüttner über seinen Alltag. „Es kann auch mal sein, dass mich Christian Werner (ehemaliger Sportdirektor) abends wegen einem Spieler noch anruft und wir bis 23 Uhr telefonieren, aber das fällt auch nicht immer an.“ Trotz des Aufwands sollten Fußballspieler nach ihrer Karriere laut Grüttner nicht direkt alle Job-Angebote ablehnen.
Dass die Zahl der Profifußballer mit abgeschlossener Berufsausbildung so gering ist, liegt auch an dem hohen Zeit- und Kraftaufwand des Profigeschäfts. Gregor Reiter, ehemaliger Geschäftsführer der Deutschen Fußballspieler Vermittler Vereinigung (DFVV) gab gegenüber Deutschlandfunk an, dass sich viele Fußballspieler aufgrund der hohen Anforderungen im Fußball während ihrer Karriere oftmals nicht auf eine Weiterbildung fokussieren würden. Auch Grüttner erzählt, dass es in seiner Zeit in der 2. Bundesliga nicht möglich gewesen sei, beispielsweise eine Trainerlizenz zu machen. „Da musst du mal eine Woche zur Fortbildung, dann fehlst du mal ein Wochenende und musst eine Prüfung machen, das ist mit der aktiven Karriere nicht vereinbar, wenn du da fehlst.“ Angebote wie ein Fernstudium aber sind laut Marco Grüttner während der Karriere machbar. Nach der Studie des VDV und des Instituts für Sportmanagement der Hochschule Koblenz bereiten sich nur ein Drittel der befragten Spieler richtig auf die Karriere nach ihrer Fußballlaufbahn vor. Die meisten Spieler wollen laut Sportmanagement-Professor Dirk Mazurkiewicz nach ihrer aktiven Fußballkarriere innerhalb der Sportbranche bleiben, beispielsweise als Moderator, TV-Experte oder Trainer. Dies äußerte er gegenüber Spiegel-Online.
Die Schattenseiten
Diese Jobs sind jedoch begrenzt, viele Spieler landen Jahre nach ihrer Karriere deshalb in einer finanziellen Notlage oder haben psychische Probleme. Jan Rosenthal, ehemaliger Fußballprofi, unter anderem bei Eintracht Frankfurt, sagte gegenüber der Website „t-online“, dass die veränderten Umstände nach der Karriere bei vielen Spielern zu Depressionen führen würden. Viele seien es nicht gewohnt, plötzlich auf die Geldeinnahmen schauen zu müssen, weniger Ruhm und Aufmerksamkeit zu erlangen und keinen durchgetakteten Trainingstag zu haben. Grüttner denkt gern an seine Profikarriere zurück: „Ich trauere nichts nach, aber natürlich vermisst man mal die vielen Zuschauer. Aber es ist genauso schön hier in Freiberg zu sein."
Es klopft wieder. Ex-Sportdirektor Christian Werner kommt mit chinesischem Essen in das Büro. Es deutet eigentlich alles auf eine kurze Mittagspause hin: Eine China-Box to go und gemeinsam auf dem Sofa sitzen. Doch dem ist nicht so: In der einen Hand die Gabeln mit den chinesischen Nudeln, in der anderen das Handy, der Blick auf den Fernseher. Videoanalyse, Grüttner und Werner analysieren die Leistung der Mannschaft. Dann heißt es zu mir: „Wir müssen rüber, das Training beginnt."
Grüttner beobachtet das Trainingsgeschehen und tauscht sich mit der Physiotherapeutin und dem Trainer aus. Um 16:30 Uhr zieht er sich um: Der vereinsinterne Fototermin steht an. „Eigentlich weiß man ja selten im Fußball, was am Tag passiert, aber so Termine wie das Fotoshooting sind geblockt“. Das Medienteam des SGV Freiberg erwartet ihn im Presseraum am Stadion, neben der Geschäftsstelle. Grüttner stellt sich vor eine grüne Wand. Zwei Lichtstrahler leuchten den 1,85m großen Mann an, der Fotograf steht vor ihm. Drei Fotos und fertig. Gemeinsam mit den Spielern und dem Vereinsteam versammelt sich Grüttner danach auf dem Rasen für das neue Mannschaftsfoto. Überall Männer in Blau, zwischendrin Grüttner und die Vereinsfunktionäre in weißem Hemd. Man sieht ihm an, dass er in engen Kontakt zu den Spielern steht. Grüttner unterhält sich in kürzester Zeit mit allen Spielern und sucht mit ihnen das Gespräch. Trotz allen bisherigen Terminen ist Grüttners Arbeitstag noch nicht zuende, eine Besprechung mit Vereinsfunktionären steht an. Grüttner macht sich auf den Weg vom Stadion, entlang des Platzes in die Geschäftsstelle. Er ist nun nicht mehr der Kapitän auf dem Platz, sondern außerhalb des Platzes.