Interview

Geiselnahme, Bluterguss und Trauer – der Job einer Gefängnispsychologin

10. März 2023
Straffälligen mentale Unterstützung geben – für viele von uns ist der Gedanke ungewöhnlich, doch für meine Patentante Angela Schlosser ist das Alltag. Welchen Situationen sie sich als Psychologin in einem Männergefängnis täglich stellen muss, erfahrt ihr in diesem Interview.

Gab es schon einmal eine Situation, in der du Angst hattest?

Ich hatte in meinem Berufsleben zwei Situationen, in denen ich angegriffen wurde. Einmal körperlich und einmal psychisch bei einer versuchten Geiselnahme. Es hört sich vielleicht komisch an, aber für mich war die versuchte Geiselnahme schlimmer als der körperliche Angriff, obwohl ich danach auch einen ordentlichen Bluterguss am Hals hatte. Es wäre sehr naiv zu glauben, dass bei so vielen gewaltbereiten Menschen nie etwas passiert. Es ist aber eigentlich sicherer als man glaubt. Alle 400 Männer sind Verbrecher und dafür passiert relativ wenig. Ich habe zumindest in der Situation, wo ich körperlich verletzt wurde, selbst eine Teilschuld getragen. Ich war unaufmerksam und habe mich nicht ausreichend gesichert.

Und die Geiselnahme?

Als ein Gefangener mir zu nahekam und er mir gedroht hat, er könne mich jetzt als Geisel nehmen, da war ich ziemlich ängstlich. Das Sicherste in einem Gefängnis ist, unter vielen Menschen zu sein. Viele Menschen können auch viele Gefangene sein. Die wollen tatsächlich auch nicht, dass einem etwas passiert.

Wie hast du dann auf die angedrohte Geiselnahme reagiert?

Erst einmal habe ich versucht, in der Situation ruhig zu bleiben. Also ich war alleine in meinem Büro und ein Kollege hatte eine Gruppe von Gefangenen alleine in seinem Büro gelassen. Einer dieser Gefangenen hat sich entfernt und meinem Büro genähert. Ich habe gerade abgewaschen, weil ich eigentlich nach Hause gehen wollte. Er näherte sich dann von hinten und fing mit diesen Drohgebärden an. Ich bin dann einfach erstmal ruhig stehen geblieben und habe mich wenig bewegt und habe meine Umgebung abgeschätzt. Ein anderer Gefangener hat das mitbekommen und sich zwischen mich und den Geiselnehmer gestellt. So konnte ich in einen anderen Raum gehen und mich einschließen. Ich habe dann so lange gewartet, bis Hilfe kam.

Das heißt, ein anderer Gefangener hat dich gerettet?

Genau, er hat sich tatsächlich körperlich zwischen uns gestellt. Er hat gemerkt, da brennt die Luft und sich zwischen uns gestellt. Ich war ziemlich erleichtert. Dem Mann habe ich zu verdanken, dass es sich schnell und gut aufgelöst hat. Wenn jemand neben dir steht und dir eine Geiselnahme androht, ist das schon echt eine ganz andere Nummer.

Wie bist du in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Butzbach gelandet?

Das war ein weiterer Weg. Allerdings war ich irgendwann in diesem Gefängnisbereich drin und konnte es einigermaßen, sodass mir Stellen angeboten wurden. Das heißt, es rief mich jemand aus einem Gefängnis in Rheinland-Pfalz an und hat mir eine Stelle angeboten. Ich wollte eigentlich nach Hessen, aber da es dort keine guten Stellen gab, bin ich erst einmal nach Rheinland-Pfalz. Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben. Tatsächlich rief doch noch ein hessisches Gefängnis an und hatte eine Stelle in Butzbach für mich frei. Ich habe mich also nicht auf die Stelle in Butzbach beworben, sondern die Gefängnisleitung hat sie mir angeboten.

War das schon immer dein Traumjob?

Nein, das war nicht mein Traumjob. Ich würde sagen, das war eher Zufall, dass ich Psychologin geworden bin.

Was hast du davor gemacht?

Ich war Kinderkrankenschwester.

Wieso hast du mit dem Job als Kinderkrankenschwester aufgehört?

Weil ich unzufrieden war und in der Klinik, in der ich damals gearbeitet habe, die Möglichkeiten zur Weiterbildung sehr schlecht waren. Da dachte ich mir, wenn sie mir die Möglichkeit nicht geben, muss ich eben selbst etwas machen. Ich habe meine volle Stelle gekündigt und mir dann einen Studienplatz gesucht.

Wie bist du dann auf den Studiengang Psychologie gekommen?

Ich saß zuhause in meinem Zimmer und hatte ganz viel Infomaterial. Ich war damals wirklich beim Arbeitsamt in einem Berufsinformationszentrum und habe rund um meinen Job als Krankenschwester alles gesucht, was es gibt. Dann kam meine damalige beste Freundin vorbei und meinte, mit meinem Abiturschnitt könne ich Psychologie oder Medizin studieren. Damit verdiene ich wenigstens gutes Geld. Da ich in meinem Job als Krankenschwester allerdings schlechte Erfahrungen mit Ärzt*innen hatte, dachte ich: Okay, probieren wir es halt mit Psychologie.

Wie bist du nach dem Studium in die Arbeitswelt gestartet?

Ich bin eigentlich schon im Studium in die Arbeitswelt gestartet, mit Praktika und Seminaren. Am Anfang habe ich auch noch in Bereichen gearbeitet, die mit meiner Krankenschwesterausbildung zu tun hatten. Dann kam immer mehr die Psychologie dazu und ich war beispielsweise bei einem Seminar im Jugendgefängnis. Dort habe ich dann als Nachhilfelehrerin angefangen. Später habe ich dort auch Einzeltraining und Gruppenarbeiten mit den jungen Männern gemacht. Das war meine erste Berührung mit der Arbeitswelt: Gefängnis und Psychologie.

Welche positive Erinnerung kommt dir als Erstes in den Sinn, wenn du an deinen Job als Psychologin denkst?

Das ist gar nicht so einfach, weil die meisten Menschen, die zu mir kommen, Probleme haben. Eine meiner ersten Patientinnen war eine junge Studentin und es hört sich gar nicht so positiv an, aber die kam nach vier oder fünf Gesprächen zu mir und sagte: „Es tut mir echt leid, aber ich brauche Sie nicht mehr“. Ich dachte mir dann, eigentlich ist das echt cool, weil dann ist sie gesund und braucht mich nicht mehr. Genau das ist, was ich will. Das war das erste Mal, wo ich gedacht habe, richtig cooler Job. Mit dieser Erinnerung hatte ich das erste Mal das Gefühl, mit dem Job etwas Gutes getan zu haben.

Die JVA Butzbach ist ein reines Männergefängnis. Hattest du schon einmal das Gefühl als Frau von den Männern nicht respektiert zu werden?

Ne, nicht wirklich. Ich finde, Frauen in Gefängnissen entspannen oft die Atmosphäre. Es gibt immer Menschen, die einen nicht respektieren. Das muss aber nicht unbedingt damit zusammenhängen, dass man eine Frau ist. Es mag einzelne Männer geben, aus bestimmten Kulturkreisen, die das tatsächlich total ablehnen. Die würden wahrscheinlich auch das Gespräch mit einem männlichen Psychologen, einfach wegen der Berufsgruppe, ablehnen. Dass ich jetzt superschlechte Erfahrungen gemacht habe, kann ich eigentlich nicht sagen.

Welches Vorurteil gibt es über Gefängnisse, das du so nicht bestätigen kannst?

Ich glaube, dass Gefangene schlechte Menschen sind oder dass Gefängnisse nur schlechte Orte sind. Das finde ich tatsächlich nicht. Also Gefängnisse sind Orte, an denen Menschen schlimme Fehler gemacht haben und da sind sicherlich auch böse darunter. Ich glaube aber nicht, dass es so viel mehr böse Menschen im Gefängnis gibt als außerhalb von Gefängnissen.

Mit welcher Art von Gefangenen hast du besonders Mitgefühl, wenn sie mit dir reden?

Immer, wenn die Gefangenen in menschliche Situationen kommen, in denen sie Zuspruch brauchen. Wenn Todesfälle oder Krankheiten in Familien sind, dann ist das das Schlimmste für Menschen. Wir haben aber auch öfter mal den Fall, dass einfach etwas passiert, was die Kinder der Gefangenen betrifft. Da ist es schon nachvollziehbar, dass sie total am Rad drehen, wenn sie auf 8qm eingesperrt sind und das eigene Kind hatte einen Unfall. Wir hatten tatsächlich mal einen Hausbrand bei einer Familie, wo eins der Kinder verstorben ist, der Vater saß bei uns und konnte nichts tun. Da habe ich wirklich Mitleid, weil ich denke, das wünscht man niemandem.

Wie versuchst du dann diesen Menschen zu helfen?

Wenn ich morgens einen Anruf mit einer schlimmen Nachricht bekomme, schaue ich sofort, wo der Gefangene ist und hole ihn zu mir. Ich versuche zum einen Beistand zu leisten und zum anderen ein Sprachrohr nach außen zu geben. Es kann also bei Notfällen gut sein, dass ich drei Tage nichts anderes mache, als diesen Mann zu holen, mit ihm seine Sachen zu regeln und für ihn da zu sein. Ich mache das, bis ich das Gefühl habe, die Situation beruhigt sich wieder und ich habe ihm geholfen.