Haftbegleitung

"Nur durch die vergitterten Fenster merke ich, dass ich im Gefängnis bin."

06. Sep 2021
Um seinen Arbeitsplatz zu erreichen, muss er durch mehrere massive, kugelsichere Türen gehen. Mit den Gefangenen trifft er sich in seinem Büro. Außer mit denen, die zu gefährlich sind. Für diese Fälle gibt es einen überwachten Raum, falls jemand versuchen würde, ihn anzugreifen.

Andreas Hansen ist Gefängnispsychologe. Mit fünf anderen Psycholog*innen arbeitet er im Freiburger Gefängnis für männliche Straftäter und begleitet die Gefangenen während ihrer Haft. 

Ich treffe ihn in einem Café neben dem Freiburger Hauptbahnhof. Es ist schon relativ voll, aber wir finden noch einen Tisch draußen. Herr Hansen ist lässig gekleidet. Er trägt eine Sonnenbrille, Shorts und ein kurzärmliges schwarzes T-Shirt. Nach unserem Gespräch geht es für ihn ins Freibad. Direkt am Anfang stellt er klar: „Bevor du mit deinen Fragen anfängst, muss ich erst mal was essen.“ Nach einem bunten Salat kann es dann losgehen. Meine Neugierde kann Herr Hansen nicht wirklich nachvollziehen. „Ich weiß aber nicht, ob das wirklich spannend ist was ich mache.“ Vielleicht liegt es auch daran, dass er meine ersten Fragen eher knapp beantwortet. Doch nach einer Weile taut er auf. Ins Gefängnis kann ich ihn aus verschiedenen Gründen leider nicht begleiten. Er berichtet detailliert und unterhaltsam.

Hinter den hohen Mauern liegt im Inneren der Justizvollzugsanstalt (JVA) Herr Hansens Büro. Es liegt im Verwaltungsflügel des Gefängnisses. „Darin sieht es eigentlich ganz normal aus. Nur an den vergitterten Fenstern erkennt man, dass man im Gefängnis ist.“ Handschellen tragen die Gefangenen während den Sitzungen nicht. Herr Hansen beschreibt: „Im Büro stehen sich zwei Stühle gegenüber, die nur durch einen Tisch getrennt werden.“ Auch im Gefängnis muss aktuell auf Corona-Maßnahmen geachtet werden. Auf dem Tisch, der zwischen dem Psychologen und dem Gefangenen steht, ist momentan zusätzlich eine Plexiglasscheibe angebracht. Die meisten Gefangenen fangen von sich aus an zu erzählen. Und dann ist Herr Hansen dran, Nachfragen zu stellen. Während des gesamten Gesprächs macht sich Herr Hansen keine Notizen. Die wichtigsten Aspekte dokumentiert er immer erst danach.

Die Gitterstäbe vor Herrn Hansens Büro erinnern ihn daran, dass er im Gefängnis arbeitet.

Wie läuft das ab – im Gefängnis?

Angst hat der Psychologe kaum. Auf meine Nachfrage fällt ihm dann aber doch eine Situation ein, die ihn etwas einschüchtert. Mit besorgtem Blick erzählt er mir: „Es gab zum Beispiel einen Fall, das ein Gefangener in der Vergangenheit einen Richter verfolgt und auf der Straße angegriffen hat.“ In so einer Situation hat er Angst das ihm, nachdem der Gefangene freikommt, etwas Ähnliches passieren könnte. 

Intensiv therapiert wird im Gefängnis nicht. Innerhalb des Strafvollzuges werden die Gefangenen von den Psycholog*innen begleitet. Es geht in erster Linie darum, für die Straftäter da zu sein, damit sie jemanden zum Reden haben. Die Gefängnispsycholog*innen schätzen ein, ob und welche Behandlung benötigt wird und wie gefährlich die jeweiligen Gefangenen sind. Wenn sie der Meinung sind, dass eine intensive Therapie notwendig ist, gibt es dafür eine andere Einrichtung, in die die Gefangenen gehen können. Bei manchen Menschen hat Herr Hansen auch das Gefühl, dass man ihnen nicht helfen kann. Er ist der Meinung, dass nicht jeder durch eine Therapie ein besserer Mensch werden kann. 

Die Gefangenen können einen Antrag einreichen, wenn sie mit Herrn Hansen sprechen möchten. Die Sitzungen mit ihm sind nicht verpflichtend. Jedem Gefangenen ist die Entscheidung selbst überlassen, ob er einen Termin wahrnehmen möchten oder nicht. Er liest sich vor den Treffen immer alle Informationen, durch die ihm zu diesem Zeitpunkt vorliegen. Neben dem Urteil und einem Foto gehört dazu auch die bis ins kleinste Detail geschilderte Straftat, mit der er sich auseinandersetzen muss. Mit ernster Miene gesteht er mir: "Manchmal wird das selbst mir zu viel und wenn ich einen schlechten Tag habe, dann lege ich die Berichte lieber zur Seite." Auch während einer Sitzung liegt der Hauptfokus auf der Straftat. Es geht in erster Linie darum, warum die Person so gehandelt hat, wie sie das Geschehene selbst darstellt und was für Verhaltensmuster beobachtet werden können. Bei manchen Gefangenen kann Herr Hansen schon beim Lesen der Straftat herausfinden, was mögliche Gründe für das jeweilige Verhalten sind. Beim Gespräch erfährt er dann nach und nach mehr über die Hintergründe seines Gegenübers und gemeinsam versuchen sie herauszuarbeiten, was geändert werden muss, damit es in Zukunft zu keinen weiteren Straftaten kommt.

Doppelrolle

„Auf der einen Seite soll ich der Psychologe und Therapeut sein und auf der anderen Seite muss ich über die Gefährlichkeit der Gefangenen urteilen.“ 

Andreas Hansen

Im Gefängnis muss Herr Hansen eine Doppelrolle spielen. „Auf der einen Seite soll ich der Psychologe und Therapeut sein und auf der anderen Seite muss ich über die Gefährlichkeit der Gefangenen urteilen.“ Zwischen diesen beiden Aufgaben den perfekten Ausgleich zu finden, ist nicht immer leicht. Und auch die Gefangenen sind sich der Rolle von Herrn Hansen mehr als bewusst. Sie wissen ganz genau, dass er derjenige ist, der über sie urteilt und seine Einschätzung über ihren Zustand an den Richter weitergibt. Aus diesem Grund versuchen sie sich bei ihm in ein besonders gutes Licht zu rücken, weil die meisten nur ein Ziel verfolgen: schnell wieder rauszukommen.  

Herr Hansen ist sich sicher: "Man muss sich in die Gefangenen reinversetzen und eine Beziehung zu ihnen aufbauen, um sie therapeutisch behandeln zu können." Dabei unterscheidet Herr Hansen zwischen begangener Tat und der Person an sich. In der Regel findet er es richtig, dass Gefangene, nachdem sie ihre Strafe abgesessen haben, wieder entlassen werden. Es gibt aber auch Menschen, bei denen er der Meinung ist, "dass man sie nicht mehr auf die Menschheit loslassen sollte", weil es einfach zu gefährlich wäre.

Gefängnis vs. Praxis 

Der Plan seiner Eltern war ursprünglich, dass er genau wie sie in die Hotellerie einsteigen sollte. Das Interesse für die Psychologie entdeckte Herr Hansen dann während seines Zivildienstes in der Psychiatrie. Danach war für ihn klar, dass er einen anderen Weg einschlagen möchte. Mit dieser Entscheidung war eine langjährige Ausbildung verbunden. Nach sieben Jahren Studium und fünf Jahren Therapieausbildung hat er 2003 angefangen, in einer Klinik zu arbeiten. 2015 machte er sich selbstständig und gründete seine eigene Praxis.

„In der Praxis werde ich eher als Helfer gesehen und im Gefängnis bin ich auch häufig der böse Psychologe, der einen nicht rauslässt.“

Andreas Hansen

Er arbeitet viermal die Woche vormittags in der JVA. Danach geht es in die eigene Praxis. Der größte Unterschied zwischen seinen zwei Arbeitsplätzen ist die Einstellung seiner Patient*innen ihm gegenüber. „In der Praxis werde ich eher als Helfer gesehen und im Gefängnis bin ich auch häufig der böse Psychologe, der einen nicht rauslässt.“ In die Praxis kommen die Patient*innen freiwillig, weil sie Probleme oder Schwierigkeiten haben, mit denen sie nicht mehr alleine umgehen wollen. Herr Hansen hilft ihnen und therapiert sie. Im Gefängnis hingegen muss der Psychologe seine Patienten einschätzen. Prinzipiell verhält er sich an beiden Orten gleich. Er versucht insgesamt authentisch zu sein und sich nicht zu verstellen. Trotzdem ist seine Rolle im Gefängnis eine andere. Er hat das Gefühl, dass er da manchmal anders auftritt. Dort gilt er eben nicht nur als Helfer, sondern als der böse Psychologe, der mitentscheidet, ob man rauskommt oder nicht. Und das bekommt er teilweise auch deutlich zu spüren. Manche Gefangene kommen nach einer Zeit nicht mehr oder äußern ihm gegenüber ihren Unmut. Dabei geht es dann vor allem darum, dass Gefangene mit ihren Haftbedingungen nicht zufrieden sind oder sich falsch beurteilt fühlen. Je nach Situation muss er die Anschuldigungen dann einfach aushalten. Beleidigungen fallen im Raum zum Glück nur selten. Sobald es dazu kommen sollte, würde Herr Hansen die Sitzung abbrechen. 

„Niemand ändert sich von jetzt auf gleich.“

Auf meine Frage, ob er zu Hause abschalten kann, antwortet er nach kurzem überlegen: "Mittlerweile schon". Früher wollten seine Kinder immer wieder Geschichten aus dem Gefängnis hören. Ein bisschen was hat er dann auch erzählt. Jetzt macht er das nicht mehr so gerne. "Ich möchte ihnen nicht unnötig Angst machen" gibt er ehrlich zu.

In der Gefängnispsychologie muss man sich mit kleineren Erfolgen zufriedengeben. Das liegt laut Herr Hansen daran, dass sich Niemand von jetzt auf gleich ändert. Aber wenn er ein bisschen was mit den Gefangenen erreicht, reicht das für Herrn Hansen als Erfolg aus. So ein Erfolg ist für ihn zum Beispiel, wenn er merkt, dass er den Menschen helfen oder sie unterstützen konnte. Mit vielen erreicht er nämlich leider nichts. Menschen ändern sich auch nicht von jetzt auf gleich meistens gehen solche Prozesse über Jahre oder sogar Jahrzehnte.

Oft findet er es auch selbst schade, wenn er merkt, dass Gefangene sich nicht auf eine Therapie einlassen, die ihnen vielleicht weiterhelfen könnte. Einer seiner schwersten Fälle bisher ist ein Straftäter, der bis heute abstreitet, eine Tat begangen zu haben. Er sitzt heute schon seit über 20 Jahren im Gefängnis. Das ist nicht nur aus psychologischer, sondern auch aus juristischer Sicht nicht einfach. Er möchte sich nicht therapieren lassen, weil er denkt, dass er nicht für die Tat verantwortlich ist. Herr Hansen ist der Meinung, dass eine Therapie vielleicht dazu geführt hätte, dass er heute schon draußen wäre und wieder in Freiheit leben könnte.  

Am Anfang war es für Herrn Hansen ungewohnt, durch die massiven Gefängnistüren zu treten. Heute ist das für ihn ganz normal.