Obdachlosigkeit 7 Minuten

Es ist ein windstiller Tag in Lissabon

Der Essenssal des Obdachlosenheims CASA
In dem Essenssal des CASA werden täglich bis zu 280 Mahlzeiten verteilt. | Quelle: Santa Casa Misericórdia de Lisboa
11. Dez. 2023

Eine Suppenküche in der Sonnenstadt, dicht aneinandergereihte Metallbetten und Spinde voller Medikamente. Der Rundgang durch das Obdachlosenheim CASA inmitten von Lissabon gibt einen Einblick in den Alltag von bedürftigen Senioren. Sie sind immer häufiger von Armut betroffen.

Die Mittagssonne brennt unerbittlich auf die portugiesische Haupstadt und in ihren gepflasterten Straßen steht die glühende Hitze. Eine alte Frau umklammert mit ihren Händen das stählerne Sicherheitsgitter eines pastellgelben Gebäudes mit gewaltigem Torbogen. Eine medizinische Maske und die schwarze, verspiegelte Sonnenbrille verstecken ihr Gesicht. Seit einigen Jahren schon ist sie auf die Mahlzeiten des Obdachlosenheims Centro de Apoio Social dos Anjos angewiesen. Seitdem steht sie fast täglich davor und hält sich an der Eingangspforte fest. So fühlt sie sich sicher und beschützt, erklärt Ricardo. Er arbeitet in dem mehrstöckigen Gebäude, dem man seine mehr als fünfhundertjährige Geschichte ansieht. Die Altbau-Fassade ist von außen etwas in die Jahre gekommen. Sie wirkt nahezu unscheinbar im Vergleich zur restaurierten Barockkirche auf der gegenüberliegenden Straßenseite. In das Stadtviertel Anjo, den zweiten Bezirk der Hauptstadt Portugals, verirren sich nur wenige Besucher*innen. Einzig und allein die Motorengeräusche der viel befahrenen Hauptstraße, die direkt an der Kantine entlangläuft, durchschneiden die Stille, der sonst so menschenleeren Gegend.

Im Kampf gegen die Armut

Portugal hat mit einer hohen Inflation zu kämpfen. Die Preise für Grundnahrungsmittel sind seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs um 20,1 Prozent gestiegen; auch die Immobilienpreise schießen rasant in die Höhe. Gleichzeitig liegt der Mindestlohn bei 4,50 Euro. Für Menschen, die sich unter diesen Umständen kein Essen leisten können, gibt es das Centro de Apoio Social dos Anjos. Zweimal täglich werden hier Mahlzeiten an 150 bis 280 Personen verteilt.

Der lichtdurchflutete Essenssaal erstreckt sich unmittelbar hinter der Eingangstür des Obdachlosenheims. Das hölzerne Deckengewölbe ist mit Girlanden geschmückt, die in bunten Farben von der Decke hängen. Einen Moment lang lenken sie von den tristen Holztischen ab, die in gleichmäßigen Abständen im Raum aufgestellt sind. Sie erinnern an eine Sitzordnung aus Schulzeiten. Auf jedem Tisch steht eine Wasserkaraffe bereit. Bisher sitzt niemand dort. Das Essen wird etwas abseits, auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes verteilt. Hinter einer halbhohen, grauen Fliesenwand steht das Personal in blau-weißen Uniformen und bereitet die ausstehenden Portionen für das Mittagessen vor. Sieben Tage die Woche. Mittags und abends.

Die private Mission wurde 1917 erstmals unter dem Namen CASA ins Leben gerufen, um der Hungersnot während des ersten Weltkriegs entgegenzuwirken. 1928 erhielt sie dann den Namen Santa Casa. Das Centro de Apoio Social dos Anjos ist hierbei nur eins von vielen Zentren der Organisation Santa Casa de Misericórdia, was übersetzt "Heiliges Haus der Barmherzigkeit" bedeutet. Bis heute ist es unter dem Namen CASA bekannt.

Hinter der großen Kantine verengt sich die Räumlichkeit. Die Decken sind hier gedrungener und die Hochglanzfließen des Essenssaals weichen einem dunkelgrauen Linoleumboden. Auf der linken Seite führt eine Treppe in das Kellergeschoss. Der Gang am Ende der Treppe ist schmal; zu beiden Seiten befinden sich kleine Zimmer mit je drei Einzelbetten und anthrazitfarbenen Spinden. Die Unterkunft hat Platz für 15 Männer. Sie können von Armut betroffen und gesundheitlich eingeschränkt sein. Psychisch oder physisch. Sobald Menschen nicht allein in ihrer Unterkunft leben können, sind sie auf externe Hilfe angewiesen, erklärt Ricardo. Seit 20 Jahren arbeitet er bereits hier. Seine Aufgabe als ausgebildeter Psychologe besteht darin, Lösungen für bestehende Probleme und Defizite der Besucher*innen zu finden.

"Was mich eigentlich interessiert, ist, wer die Person ist, wenn sie hierherkommt"

Ricardo

In einigen Zimmern stehen Rollatoren und andere metallene Gehhilfen, die von dem bläulichen Deckenlicht angestrahlt werden. Das Ende des Ganges führt zu einem Krankenzimmer mit Schränken voller notwendiger Medikamente. Die Altenheime Lissabons sind für einen Großteil der einheimischen Bevölkerung nicht mehr bezahlbar, da sie monatlich bis zu 2000 Euro kosten. Mit einem jährlichen Budget des Santa Casas von 200 Millionen Euro kann mitunter das CASA eine solche Pflege für Senior*innen übernehmen. Neben körperlichen Einschränkungen kümmern sich Ricardo und seine Kolleg*innen um die psychische Gesundheit der Besucher und Besucherinnen. Ricardo erzählt, dass die alte Frau am Eingangsbereich mit mentalen Problemen kämpft. Eine genaue Diagnose gibt es nicht. Nur Vermutungen, die im Team geäußert werden. „Was mich eigentlich interessiert, ist, wer die Person ist, wenn sie hierherkommt“ erklärt er. Dabei versucht er das Verhalten der Person genauer zu verstehen und auf dieser Grundlage den richtigen Umgang zu finden.

Ricardos Büro liegt im ersten Stock des Altbaus. Mahagonifarbenes Holz schmückt das Treppengeländer des Mezzaningeschosses. Die helle Mittagssonne scheint auf den gleichfarbigen Dielenboden und durchflutet die Etage mit warmem Licht. Die Zimmer sind durch helle Schiebetüren aus Milchglas voneinander getrennt, stehen aber die meistens offen. Außer, es findet eine Sprechstunde mit den Patient*innen oder ein internes Meeting statt. „Besonders im Vordergrund steht hierbei die Planung der einzelnen Fälle“, erzählt Ricardo. Damit meint er die Personen, die auf Hilfe des CASA angewiesen sind. Oft fällt es ihnen schwer, eigene Fähigkeiten und Möglichkeiten, die sich dadurch eröffnen, zu erkennen. In solchen Fällen muss Ricardo für sie mitdenken. Für die Zeit während des Aufenthaltes. Vielleicht auch für eine Zeit nach der Obdachlosigkeit.

Ricardos helfende Hand

Von der ersten Etage aus kann man direkt auf das darunterliegende Zimmer schauen. In der Mitte des Raumes steht ein großer Tisch, der mit einer durchsichtigen Plastikfolie vollständig abgedeckt ist. An den Wänden stehen große Metallschränke in blauen Farbtönen, bis oben hin gefüllt mit Gesellschaftsspielen und Bastelutensilien. In der rechten Ecke des Zimmers befinden sich zwei unberührte Flachbild-Computer. Besucher*innen können hier nach Zimmervermietungen und Jobangeboten schauen. Das passiert allerdings kaum noch. „Damals waren die Menschen hier noch 40, 45. Heute sind sie zwischen 60 und 70 Jahre alt“, berichtet Ricardo. Sein sonst so herzlicher Gesichtsausdruck wirkt plötzlich ernst. „Sie sind jetzt begrenzter und haben andere Bedürfnisse“. Für das Team ist die Arbeit eine andere geworden. Besonders belastend seien gesundheitliche Folgen, die der Konsum von Drogen mit sich bringe,  betont Ricardo. Seit der Entkriminalisierung von Drogen in Portugal sind Besitz und Konsum eine Ordnungswidrigkeit und keine Straftat mehr. Mit klarem Fokus auf eine bessere Drogenprävention im Land konnte seitdem zwar ein bewussterer Umgang mit illegalen Drogen wie Heroin, Ecstasy und Marihuana geschaffen werden. Allerdings zeichnet sich seitdem der klare Anstieg einer legalen Droge ab, deren Spätfolgen nicht zu unterschätzen sind. Es sind die des Alkohols. Auch das CASA ist zunehmend damit konfrontiert. Blutkrankheiten und Einschränkungen des zentralen Nervensystems stellen hierbei nur einen Teil der Nebenwirkungen dar.

Neben den Treppen des obersten Stockwerks befindet sich ein moderner Aufzug aus Glas. Er führt zurück ins Erdgeschoss und eröffnet den Blick auf die große Eingangshalle.

Nur Essen oder auch ein Bett?

Mittlerweile ist der Raum mit Menschen gefüllt. Einige Besucher*innen sitzen einander bereits an den Holztischen gegenüber und essen zu Mittag. Andere stehen noch für ihre Mahlzeit an. Dafür müssen sie dem Küchenpersonal eine ihnen zugewiesene Nummer vorzeigen. Bevor Menschen von der Sozialhilfe des CASA profitieren können, müssen sie mit einem Sozialarbeiter oder einer Sozialarbeiterin sprechen. Das Gespräch ist notwendig, um die individuellen Bedürfnisse zu verstehen. Braucht die Person regelmäßig Mahlzeiten, hat aber eine eigene Unterkunft? Lebt sie aktuell auf der Straße und benötigt neben Mittag- und Abendessen auch einen Schlafplatz?

Die Menschen in der Kantine sind alt. Einige Gesichter sehen verlebt aus. Die unbeholfenen Kaubewegungen lassen darauf schließen, dass ihre Zähne längst ausgefallen sind. Sie sind gezeichnet. Gezeichnet vom Leben und ihrer Vergangenheit.

Der Essenssaal des CASA ist groß und lichtdurchflutet.
Der Essenssaal und Hauptaufenthaltsraum der Besucher*innen. | Quelle: Sarai Bach
Eine Frau bereitet das Essen für die Besucher*innen des CASA vor.
Im CASA werden mittags und abends Mahlzeiten zubereitet. | Quelle: Sarai Bach
Ricardo liest etwas auf einem Blatt Papier, seine Kollegin telefoniert.
Ricardo und seine Kollegin im Medikamentenzimmer. | Quelle: Sarai Bach
Im Schlafsaal befinden sich drei Betten mit je drei Spinden.
Ein Blick in die Schlafsäle. | Quelle: Sarai Bach
Der Bastelraum bietet viele Möglichkeiten der Beschäftigung.
Hier können Besucher*innen sich handwerklich beschäftigen, der Computer kann für Bewerbungen oder Zimmergesuche genutzt werden. | Quelle: Sarai Bach

Die Sonne steht jetzt im Zenit und die brodelnde Hitze ist beinahe unerträglich. Der Verkehr auf der Hauptstraße hat sich beruhigt. Es ist Siesta in Portugal. Die Menschen haben sich in ihre Häuser zurückgezogen. Auch die alte Frau steht nicht mehr an der Eingangspforte. Womöglich sitzt sie jetzt in der Kantine. Oder sie ist in ihr Zimmer gegangen, um sich auszuruhen.