„Ich bin Alkoholiker und bleib Alkoholiker“
Ein Leben auf der Straße
Bernd fixiert mich mit glasigem Blick über den Tisch hinweg, während er mir leicht nuschelnd die Geschichte über sein Leben erzählt. „Jetzt wo wir uns unterhalten, kann ich weniger Bier trinken“, erklärt er mir und ein paar Tropfen des warmen Kaffees spritzen von seinem dicht zerzausten Bart auf den Tisch. Nach über 30 Jahren Wohnungslosigkeit ist Bernd ein Veteran unter den Obdachlosen: „Ich hab' genug miterlebt. Mir macht keiner etwas vor“, versichert er mir mit einem prahlerischen Unterton. Wenn er zum Beispiel durch die Stadt läuft, fragt er jeden Raucher höflich nach Zigaretten: Immer bitte zu sagen, sei dabei sehr wichtig. Jede Woche erhält Bernd 64 Euro, um über die Runden zu kommen. „Man muss aufpassen, dass man nicht beklaut wird. Deshalb hab' ich mein Geld immer in den Strümpfen“ verrät er mir. Er selbst stehle nicht: „Bevor ich klauen gehe, gehe ich betteln.“ Trotzdem kam er schon mit dem Gesetz in Konflikt. Wegen Schwarzfahren und weil er zu viel Alkohol im Blut hatte, sodass ihn die Polizisten in die Ausnüchterungszelle mitnehmen mussten. „Mal sehen, wann wir uns wiedersehen“, sagt er dann zu den Beamten. Eine Nacht darf er weg bleiben, ist er länger nicht zu sehen, bekommt ein anderer sein Bett im Männerwohnheim für Wohnungslose. Dorthin hat ihn die „Ambulante Hilfe“ vermittelt. Sie betreibt auch das Café 72, in dem ich Bernd an diesem Tag treffe.
Café 72 — ein „Jugendhaus für Ältere“
Die Tagesstätte ist für viele Wohnungslose ein Rückzugsort, der Andrang ist vor allem im Winter groß: „Wenn wir morgens um acht Uhr aufschließen, warten in der Regel schon zehn Leute vor der Tür“, berichtet Manuel Borrego Beltran. Er ist einer von vier festen Mitarbeitern der Einrichtung und sorgt mit seiner Arbeit dafür, dass die Wohnungslosen im Café 72 die Hilfe bekommen, die sie benötigen. Das kann ein kostenloses Frühstück, eine Dusche oder einfach nur ein offenes Ohr sein. Manuel beschreibt es auch gerne als ein „Jugendhaus für Ältere“, da die Wohnungslosen beispielsweise selbst fürs Kochen, Abräumen und Putzen zuständig sind. Dabei gilt der Grundsatz, dass alle Menschen absolut gleichbehandelt werden: „Niemand bekommt etwas extra, aber auch niemand zu wenig.“ Dabei ist der Mix der Leute, die das Café besuchen, bunter als man vermuten würde. Manuel unterscheidet dabei in vier Gruppen: Die größte Gruppe sind EU-Ausländer, beispielsweise aus Bulgarien, die überhaupt keine Hilfe vom Staat bekommen und meistens auf der Straße schlafen. Zu ihnen gesellen sich Menschen, die aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer Suchterkrankung wohnungslos sind. Bei der letzten Gruppe handelt es sich um Rentner, die in die Altersarmut gerutscht sind und deshalb die Hilfe der Tagesstätte in Anspruch nehmen müssen. Diese Menschen eint, dass sie alle sehr arm sind und nur durch die Hilfe sozialer Einrichtungen nicht auf der Straße leben müssen. Für Manuel ist es daher besonders schön, wenn das Café es schafft, Solidarität zwischen den so unterschiedlichen Besuchern zu erzeugen: „Es ist schwer, alle an einen Tisch zu bekommen, aber es ist möglich.“
Süchtig seit dem 17. Lebensjahr
Auch aus diesem Grund ist Alkohol in der Tagesstätte verboten. Suchterkrankte wie Bernd müssen vor die Tür gehen, wenn sie trinken wollen. Bernd findet das gut. Im Café, sagt er, sei er beschäftigt und trinke weniger. Auch wenn er das auf Dauer nicht durchhalten könne, zu groß sei das Verlangen. „Ich bin Alkoholiker und bleib Alkoholiker“, so seine einfache Rechnung. Die Ursachen für die Sucht liegen wie so oft in der Kindheit. Seine Mutter starb kurz nach der Geburt. Der Vater war verschwunden und Bernd kam in ein Heim. Seine Großeltern holten ihn zwar mit vier Jahren zu sich, beide verstarben aber nur wenige Jahre später.
Sein Onkel, selbst ein Trinker, nahm Bernd auf und war in der Jugend seine einzige Bezugsperson. So begann auch Bernd bereits in jungen Jahren viel und oft zu trinken. Daraufhin lernte er seine Frau kennen, sie heirateten und bekamen eine kleine Tochter. Doch nach vier Jahren Ehe kam die Trennung. „Wegen Alkohol“, wie Bernd gesteht. Einmal im Jahr zahlt das Sozialamt ihm eine Reise in seine Heimat, dem Spreewald, damit er seine Familie besuchen kann. Den Rest des Jahres ist vor allem der Alkohol sein stetiger Begleiter.
Einen Entzug habe er schon gemacht, er sei sogar mal vier Jahre trocken gewesen, doch mittlerweile sei er überzeugt, dass er die Sucht nicht mehr besiegen kann: „Das Geld für den Entzug kann sich der Staat sparen, ich fang' doch eh wieder an.“
Diese Aussagen klingen schockierend, weil sie die Endgültigkeit seiner Sucht zeigen. Bernd wird wohl trinken bis er daran stirbt. Dabei ist der Alkohol nicht das einzige Risiko für Wohnungslose: „Die Wohnverhältnisse, die schlechte Ernährung und oft auch die Sucht bilden manchmal so ein Gesamtpaket und irgendwann schlägt das zu“, erklärt mir Manuel nachdenklich, der in seinen über zwölf Jahren in der Wohnungslosenhilfe schon viele Fälle wie Bernd erlebt hat. Gerade bei Wohnungslosen, die regelmäßig im Café geholfen hatten, ist das für die Beteiligten sehr traurig: „Das vermisst man, wenn einer, der hier so engagiert war, und auch sonst ein feiner Kerl oder eine feine Frau war, einfach von heute auf morgen nicht mehr da ist.“ Bernd ist immer noch da. Wenn alte Bekannte ihn sehen, sagen sie: „Mensch Bernd, du lebst ja noch.“ – „Sonst wäre ich ja nicht hier“, antwortet er dann und geht seines Weges.