Hosen runter: Wir sind alle Junkies
Jeder Morgen läuft gleich ab: Aufwachen, WhatsApp-Nachrichten checken, dann die News, beim Frühstück dann ein Video von Katzen mit Hüten. Bei mir zumindest. Nach den morgendlichen Ritualen – duschen, Zähne putzen, viel zu müde sein und kurz überlegen, ob die Vorlesungen heute eigentlich wirklich wichtig ist oder man nicht einfach daheim bleiben soll – verlasse ich das Haus. Mit Musik im Ohr, versteht sich. Unterwegs wieder auf den Bildschirm glotzen, dabei fast überfahren werden. Oh, noch eine Katze. Welch ulkiger Hut! Beim Warten auf die Bahn dasselbe Spiel. Dann kommt die Bahn. Handy kurz einstecken, einsteigen, Handy direkt wieder raus. Kurz umschauen, alle hängen am Smartphone, Blick also wieder auf den Bildschirm richten. Lieblingsapp zum heute bereits vierten Mal öffnen, geistesabwesend scrollen, danach direkt wieder vergessen, was ich mir da eigentlich gerade angeschaut hab. Für mehr als 30 Sekunden in der realen Welt existieren? Sau langweilig, sau leer. Aber wieso eigentlich? Wieso greifen wir selbst dann wie fremdgesteuert zum Smartphone, wenn wir nichts Genaues damit vorhaben?
Fast Food für's Gehirn
Weil nichts unsere Gehirne so effizient stimuliert wie diese genau darauf ausgelegten Geräte. Der Blick auf den Bildschirm überflutet das Gehirn mit Reizen: attraktive Menschen, spannende Aufnahmen, kuriose Szenen aus aller Welt, im Bestfall sogar ein paar Likes auf den neusten Instagram-Post. Die Quelle des (kurzfristigen) Glücks ist immer nur einen Handgriff entfernt. Stimulation auf Knopfdruck. Ein paar Mal mit dem Finger auf den Screen tippen und das Hirn schießt mit genau den Chemikalien um sich, die wir alle wollen und brauchen. Diese kommen schnell und verschwinden ebenso schnell. Quasi Fast Food für's Gehirn. Die Forschung spricht hier von sogenannten Superstimulatoren. Aus ihnen entsteht eine Abwärtsspirale: Wir können reale Momente nicht mehr richtig genießen, weil sie gegen die Inhalte abstinken, die uns das Internet bietet, greifen daher bei jeder Gelegenheit zum Smartphone, um das Dopaminlevel hochzujagen und können dementsprechend reale Momente nicht mehr richtig genießen.
Man könnte so ziemlich jeden beliebigen Teenager in einen Park setzen, in dem Wölfe Hasen jagen, Bären im Fluss baden und Adler ihre Kreise ziehen. Er würde die Szenerie wahrscheinlich nicht richtig genießen können. Natürlich müsste sie auch erst mal auf Video festgehalten werden. Gibt sicher viele Likes. Viel Dopamin also. Mehr als die badenden Bären und kreisenden Adler. Ganz schön krank, oder? Aber auch völlig normal. Weil jeder Teenie das alles und zig weitaus stimulierendere Eindrücke längst im Internet gesehen hat oder auf Knopfdruck sehen könnte, wenn er in die Hosentasche greift.
One year no slave
Im letzten Jahr habe ich ein (unfreiwilliges) Smartphone-Sabbatjahr eingelegt. Auslöser war der Verlust meines Handys beim Gassigehen. Weil ich meinen Hund dabei gefilmt hab, wie er sich im Schnee wälzt, statt den Moment zu genießen und präsent zu sein. Irgendwie ironisch. Die anschließenden Monate waren die friedlichsten, zufriedensten und entspanntesten, an die ich mich erinnern kann. Kleinigkeiten wurden interessant und genießbar, Gespräche intensiver, Aufmerksamkeitsspanne, Kreativität und Antrieb schossen in kürzester Zeit nach oben, selbst Langeweile wurde immer erträglicher, irgendwann sogar friedlich, fast schon schön. Ich konnte eine komplette Mahlzeit zubereiten und zu mir nehmen, ohne Musik oder Video im Hintergrund, ohne Bonusstimulation. Klingt unmöglich, aber ich schwöre, es war so! Der hektische Alltag hat eine angenehme Slow-Motion erfahren. Das Leben war richtig präsent, weil ich richtig präsent war.
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Und genauso schnell, wie diese Ruhe kam, war sie auch wieder weg, als meine Abstinenz beendet war und ich mir wieder ein solches Höllengerät zugelegt habe. Von null auf hundert war ich wieder mittendrin im Reizfeuerwerk und Sklave meiner Impulse, obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, die Kontrolle über meinen Konsum zu behalten. Erst als die zuvor gewonnen Vorteile langsam verblasst sind und die innere Hektik zurückkehrte, habe ich mich am Riemen reißen können und mich mittlerweile bei einem Konsumlevel eingependelt, mit dem ich gut leben kann. Nicht perfekt, vor allem morgens nicht, aber annehmbar.
Disziplin statt Dopamin
Wir alle wünschen uns Ruhe und Frieden im hohen Alter. Dabei würden sie uns Dopaminjunkies auf direktem Wege in die stabile Seitenlage langweilen. Der Weg zu innerer Ruhe ist äußere Ruhe. Vollkommener Smartphone-Verzicht ist in unserer heutigen Gesellschaft utopisch, klar, man sollte sich aber zumindest regelmäßig überprüfen: Gehe ich gerade aus purer Stimulationslosigkeit ans Handy oder erfüllt die Nutzung einen größeren Zweck als das Aktivieren künstlicher Glücksgefühle? Und was könnte ich jetzt und hier in der realen Welt tun, um diese Gefühle auf natürliche Weise zu beleben? Klingt einfach, ist es aber nicht. Probiert es gerne selbst, es lohnt sich. Und wer meint, seinen Konsum nicht überdenken zu müssen oder zu wollen, für den habe ich hier noch ein Video von Katzen mit Hüten. Viel Spaß damit, du Junkie.
Eine weitere Folge der Kolumne „Hosen runter“ findest du hier!