Bridging the Gap: Deutschlands Bildungslücken
Einmal mehr schaut Deutschland auf die eigenen PISA-Ergebnisse und diesmal bleibt ein bitterer Beigeschmack. Den jüngsten Ergebnissen der Studie zufolge sind deutsche Schülerinnen und Schüler in Naturwissenschaften, Mathematik und Lesekompetenz so schlecht, wie noch nie zuvor. Die Daten der Erhebung aus dem Jahr 2022 wurden bereits im Dezember 2023 von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) veröffentlicht. PISA steht für „Programme for International Student Assessment“. Hierbei handelt es sich laut dem Bundesministerium für Forschung und Bildung um eine internationale Schulleistungsstudie, die im dreijährigen Zyklus stattfindet.
Aber auch abseits der PISA-Ergebnisse gilt zu klären, ob das deutsche Bildungssystem die notwendigen Schlüsselkompetenzen vermittelt, um die Herausforderungen des Alltags nach der Schulzeit souverän zu meistern. Die Diskussion um Bildungslücken hierzulande gewinnt an Dringlichkeit, da immer deutlicher wird, dass wichtige Alltagskompetenzen in den schulischen Lehrplänen oft zu kurz kommen. Neben dem reinen Fachwissen sind es vor allem praktische Fähigkeiten wie der Umgang mit Steuererklärungen, der Ablauf bürokratischer Prozesse oder Selbstorganisation, die im Schulunterricht oft vernachlässigt werden.
Wer trägt die Verantwortung?
Die Verantwortung für Bildung ist ein vielschichtiges Thema, bei dem sowohl Eltern als auch Lehrkräfte eine wichtige Rolle spielen. Dass Eltern die primäre Aufgabe haben, ihre Kinder bereits in den frühen Jahren zu fördern und ihre Neugier zu wecken, ging bereits aus dem Beschluss der Kultusministerkonferenz 2018 hervor. Derselben Meinung ist auch Frau Bayrak, Lehrerin an der Realschule Mühlheim. „Natürlich gibt es Eltern, die alles auf die Lehrer abwälzen. Die Unterschiede sieht man oft bereits in der ersten Klasse, wenn manche Kinder schon ganze Sätze lesen können und andere erst mühsam das Alphabet lernen“, erklärt Frau Bayrak.
Eine unterstützende Lernumgebung zu Hause sei für die Kompetenzentwicklung von Kindern und Jugendlichen entscheidend. Gleichzeitig hätten Lehrer die Aufgabe, Bildungsinhalte verständlich zu vermitteln, Schüler zu motivieren und individuelle Bedürfnisse zu erkennen.
Eine erfolgreiche und nachhaltige Bildung, sei es fachspezifisch oder überfachlich, erfordere daher eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrern, um das volle Potenzial der Schüler zu entfalten. Frau Bayrak betont, dass „Eltern und Lehrer miteinander und nicht gegeneinander arbeiten müssen. Im Prinzip haben ja beide Parteien dasselbe Ziel“.
Mentale Einbußen für gute Noten
Auch Themen wie mentaler Stress und Leistungsdruck haben in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen. Laut einem Bericht der deutschen Bundesregierung 2023 hat die COVID-19-Pandemie diese mentale Belastung der Schüler*innen weiter verstärkt. Auch Jahre nach Pandemie-Ausbruch sind 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen noch immer psychisch gestresst. Die Unsicherheit, der Unterrichtsausfall und der Druck, den schulischen Anforderungen gerecht zu werden, haben zu einem Anstieg von psychischen Problemen bei Schüler*innen geführt. „Wir hören immer öfter von Schüler*innen, dass sie Panikattacken haben und Leistungsdruck erfahren“, bestätigt Frau Bayrak.
An vielen deutschen Schulen werden Maßnahmen ergriffen, wie das Einsetzen von Beratungslehrern, schulpsychologischen Beratungsstellen und Lerncoachings, um Kinder und Jugendliche emotional und mental zu unterstützen. Frau Bayrak ist der Meinung: „Wir bräuchten mehr Fachkräfte an den Schulen, die mehr darüber aufklären und bei denen die Schüler sich mit ihren Problemen und Gefühlen gut aufgehoben fühlen“. Angesichts dieser Herausforderungen plädiert sie nachdrücklich für eine ganzheitliche Unterstützung, um den individuellen Bedürfnissen der Schüler*innen gerecht zu werden.
Dennoch steht die Herausforderung im Raum, wie das Bildungssystem flexibler gestaltet werden kann, um den steigenden Anforderungen an die psychische Gesundheit der jüngeren Generationen gerecht zu werden. Die Einführung von psychologischen Fächern an Schulen wäre äußerst vorteilhaft für Schülerinnen und Schüler. Durch den Zugang zu psychologischem Wissen könnten sie nicht nur ein besseres Verständnis für ihre eigene mentale Gesundheit entwickeln, sondern auch wichtige Fähigkeiten zur Stressbewältigung und emotionalem Wohlbefinden erlernen, so Frau Bayrak.
Wie man Schüler*innen in stressigen Zeiten besser unterstützen und ihre mentale Gesundheit auch für das Leben nach der Schulzeit fördern kann, erfahrt ihr von Marie und Jasmin. In ihrem Podcast unterhalten sich die beiden mit der Psychologielehrerin Rut Wuchenauer darüber, wie man im Rahmen des Psychologieunterrichts an Schulen für mehr Aufklärung sorgt und präventiv gegen psychischen Stress und Leistungsdruck vorgehen kann.
Der sozioökonomische Kontext
Betrachtet man die sozioökonomischen Voraussetzungen der Schüler*innen, lassen sich deutliche Unterschiede in den Kompetenzen erkennen. Die Zahlen in der durch die OECD veröffentlichten Ländernotiz für Deutschland zeigt: Unter den Schüler*innen mit Migrationshintergrund gelten 42% als sozioökonomisch benachteiligt*, im Vergleich zu 25% der Schülerinnen ohne Migrationshintergrund.
Der sozioökonomische Hintergrund der Schüler*innen wird über den sogenannten Index des ökonomischen, sozialen und kulturellen Status (ESCS) definiert. Darin fließen die folgenden drei Aspekte der sozialen Herkunft ein: beruflicher Status der Eltern, höchster Bildungsabschluss einer der beiden Eltern, sowie materielle Ressourcen.
Als "sozioökonomisch benachteiligt" gelten Personen oder Gruppen, deren ESCS-Wert zu den unteren 25% der nationalen Verteilung gehört.
Im Bildungskontext bedeutet es, dass Schüler*innen aus sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen häufiger mit erschwerten Bedingungen konfrontiert sind, die ihre schulische Leistung beeinflussen können.
Quelle: 2016 Pisa Luxembourg
Sozioökonomische Faktoren, wie die Familiensprache, das Bildungsniveau der Eltern und finanzielle Mittel, üben einen nachhaltigen Einfluss auf die Leistungskompetenzen von Jugendlichen aus. Studien zeigen, dass Schülerinnen und Schüler, die zu Hause eine andere Sprache sprechen als in der Schule, oft mit sprachlichen Herausforderungen konfrontiert sind, was sich auf ihre schulischen Leistungen auswirkt. Auch Frau Bayrak betont, „Wenn Schüler aufgrund der Sprachbarriere nicht einmal die Aufgabe verstehen können, wie sollen sie diese dann richtig lösen. Da müssen wir uns fragen, wie wir diese Sprachbarrieren schnellstmöglich mindern können“. Gleichzeitig dürfe man nicht übersehen, dass sozioökonomische Unterschiede zusätzliche Bildungslücken schaffen.
Zudem spielen Bildungslücken aufgrund des sozioökonomischen Hintergrunds und den verfügbaren finanziellen Mitteln eine entscheidende Rolle. Der Zugang zu zusätzlichen Lernressourcen, Nachhilfe oder außerschulischen Aktivitäten hänge stark von der finanziellen Situation der Familie ab. „Kinder aus einer Akademikerfamilie kommen in der Regel viel früher und intensiver mit Bildung in Kontakt als Kinder, die aus einer zugewanderten Arbeiterfamilie kommen. Das hängt oft mit den finanziellen Gegebenheiten und dem Bildungsniveau innerhalb der Familien zusammen“, bestätigt Frau Bayrak.
Mehr Gerechtigkeit in der Bildung
Die Leistungsunterschiede in den Bereichen Mathematik und Lesekompetenz sind nicht zu übersehen. Schüler*innen mit Migrationshintergrund, die ein schlechteres sozioökonomisches Profil aufweisen, haben meist niedrigere Leistungen in Mathematik und Lesekompetenz. Das zeigt sich im Kontext der aktuellen PISA-Studie. Selbst nach Berücksichtigung des sozioökonomischen Status besteht ein bedeutsamer Leistungsvorsprung bei Schüler*innen ohne Migrationshintergrund.
Diese Ergebnisse werfen drängende Fragen zur Chancengleichheit im Bildungssystem auf. Es wird deutlich, dass gezielte Maßnahmen erforderlich sind, um durch eine integrative Bildungspolitik den Bildungserfolg für Schüler*innen mit Migrationshintergrund zu verbessern.
Ein Beispiel für solche Maßnahmen sind sogenannte VABO-Klassen, kurz für „Vorqualifizierungsjahr Arbeit/Beruf mit Schwerpunkt Erwerb von Deutschkenntnissen“ . Die VABO-Klassen sind ein spezielles Angebot an Berufsschulen in Deutschland, die Jugendlichen mit Migrationshintergrund intensive Deutschförderung bieten. Diese Klassen sollen die sprachlichen Fähigkeiten verbessern und die Schülerinnen und Schüler gezielt auf eine berufliche Ausbildung vorbereiten.
Luzern macht's vor
Die Debatte über das lückenhafte Bildungssystem in Deutschland erhält auch durch den neuen Lehrplan des Kantons Luzern in der Schweiz neue Impulse. Während das deutsche Bildungssystem zum größten Teil auf fachspezifische Kompetenzen setzt, legt der Schweizer Kanton einen klaren Fokus auf die Entwicklung von überfachlichen Kompetenzen, um Schüler*innen nicht nur fachliches Wissen zu vermitteln, sondern auch ihre persönliche und soziale Entwicklung zu fördern. Der Luzerner Lehrplan betont dabei die Relevanz dieser sogenannten „Lebenskompetenzen", die weit über das traditionelle, rein fachspezifische Wissen hinausgehen. Von Selbstwahrnehmung, über Empathie, bis hin zu kritischem Denken und praktischen Kenntnissen – diese Schlüsselkompetenzen sollen nicht nur die persönliche Entwicklung fördern, sondern auch dazu befähigen, im späteren Leben verantwortungsbewusst zu handeln.
Insbesondere im Kontext der deutschen Bildungspläne stehe zur Debatte, inwieweit die Schulsysteme Kinder und Jugendliche ausreichend darauf vorbereiten, sich nach ihrem Abschluss eigenständig im Alltag zu bewegen. In Deutschland könne man Bildungslücken durch die Einführung von praktischen Fähigkeiten wie das Erstellen von Steuererklärungen, Ummeldungsprozessen und finanzieller Bildung reduzieren, so Frau Bayrak. Die Fähigkeit, persönliche Finanzen zu managen, alltägliche Angelegenheiten selbstständig zu regeln und sich im bürokratischen Dschungel zurechtzufinden, seien essenzielle Kompetenzen für ein eigenverantwortliches Leben.
Die Diskussion über Bildungslücken im deutschen Schulsystem gewinnt somit zunehmend an Dringlichkeit, da die Anforderungen des modernen Lebens weit über den reinen Wissenserwerb in traditionellen Lehrplänen hinausgehen. Dies wird deutlich durch die Einführung des Fachs „Wirtschaft, Berufs- und Studienorientierung“ (WBS) an einigen deutschen Schulen, welches praxisrelevante Kompetenzen vermittelt. „Wir möchten die Schüler*innen darauf vorbereiten, nach der Schule gleich durchstarten zu können. Die Berufs- und Studienorientierung ist da ein riesengroßer Punkt. Sowas ist heutzutage immer wichtiger“, sagt Frau Bayrak.
Es stellt sich die drängende Frage nach einer modernen und fairen Ausrichtung unseres lückenhaften Bildungssystems, denn die Zukunft erfordert nicht nur fachliche Kenntnisse, wie man sie aus traditionellen Bildungsplänen kennt. Auch Schlüsselkompetenzen wie soziale Intelligenz, kritisches Denken und praktische Alltagskompetenzen sind für jüngere Generationen von großer Bedeutung. Um eine vielseitige, zukunftsfähige Gesellschaft zu formen, ist die Gestaltung einer vielfältigen und inklusiven Bildungspolitik, die zugleich zeitgemäß ist und überfachliche Fähigkeiten stärker gewichtet, entscheidend.
Dieser Beitrag ist Teil des Gruppendossiers zum Thema: „Bildungslücke in Deutschland". In diesem Kommentar hat sich unsere Redakteurin Leonie Haug mit dem Thema Aufklärungsunterricht in Schulen auseinandergesetzt.