"Doppelmoral hat eine sozial stark gruppenbildende Funktion"
Digitale Glashäuser
Auto fahren, Fleisch essen und teure all-inclusive Reisen. Und das alles trotz dutzender Instagram-Stories, wie man als Einzelperson unseren blauen Planeten ein Stück weit verbessern kann. Die Doppelmoral. Seit dem die digitale Pandora-Box der sozialen Netzwerke jedem Menschen geöffnet wurde, ist es leichter denn je Fremden ihre Fehler aufzuzeigen. Und während man sich in Fötusstellung vor dem Moral-Hagel schützt, beendet einer deiner Kritiker seinen ausgedehnten Toilettengang ohne sich die Hände zu waschen. Natürlich um Wasser zu sparen. Die Doppelmoral. Kurz gefasst: Wasser predigen und Wein trinken.
Moral ist ein System von verbindlichen sittlichen Normen und Grundsätzen, die das zwischenmenschliche Verhalten regulieren. Die Normen beruhen auf Tradition, Gesellschaftsform (Kultur) und Religion. Moralische Normen werden mithilfe ethischer Reflexion (Ethik) untersucht.
Quelle: Lexikon der Psychologie
Als Doppelmoral wird ein Normensystem bezeichnet, das gleiches Verhalten ethisch unterschiedlich bewertet, je nachdem, welcher Personengruppe die ausführende Person oder die betroffenen Personen angehören, oder je nachdem, ob diese sich in einer öffentlichen oder privaten Situation innerhalb oder außerhalb einer Gemeinschaft befinden, ohne dass dafür ein sachlicher Grund vorhanden wäre.
Quelle: Wikipedia
Rätselhafte Content-Moderation
4,95 Milliarden Menschen auf der Erde nützen 2023 soziale Netzwerke wie Twitter, Facebook und TikTok. Die Plattformen verfolgen augenscheinlich alle das gleiche Grundprinzip. Menschen mit ihren Freunden, Familien und verschiedenen Communities zu verbinden. Jeder ist glücklich. Ein utopischer Gedanke. Denn den Betreibern sind die Welpenbilder deiner Tante unwichtig. Es geht nur um eure Daten. Doppelmoral auf sozialen Netzwerken ist nicht nur ein Problem, welches bei individuellen Nutzern anfängt. Auch die Tech-Giganten handeln widersprüchlich und verschleiern ihre asymmetrischen Geschäftspolitiken. Das geht aus einem Bericht des Brennan Center for Justice der NYU School of Law hervor. Die Content-Moderation, also der Auswahl- und Überwachungsprozess von Inhalten, welche auf sozialen Netzwerken gepostet werden, ist grundlegend voreingenommen. Die Inhalte benachteiligter Gruppen werden oftmals durch „Massen-Takedowns“ gelöscht, während der Content dominanterer Gruppen durch differenziertere Herangehensweisen überprüft wird. Damit sind Warnhinweise und temporäre Demonetarisierung gemeint. Das Brennan Center hat herausgefunden, dass beispielsweise muslimische Stimmen öfters eingeschränkt werden. Aber „Hate Speech“ und Belästigung sind eher auf sozialen Netzwerken geduldet. Als würde man David vor seinem Kampf gegen Goliath gegen sein Schienbein treten. Das Hauptproblem ist die fehlende Transparenz der Betreiber.
Die Funktion der Doppelmoral
Um das Phänomen Doppelmoral besser zu verstehen habe ich Dr. Frank Brosow, einen Ethik- und Philosophieprofessor, näher dazu befragt. Vorsicht: Jetzt wird’s philosophisch! Er erklärt mir das Prinzip des Tribalismus. Wir Menschen formulieren bestimmte Regeln, die nur innerhalb einer Gruppe gelten und außerhalb dieser Gruppe fühlen wir uns nicht mehr verpflichtet diese Regeln anzuwenden. Die Frage „Wen betrachte ich als meine eigene Gruppe und wende ich in meiner Gruppe andere Regeln an als außerhalb meiner Gruppe?“ ist laut Brosow ein psychologisch wichtiger Faktor. Doppelmoral hat eine stark gruppenbildende Funktion. Dieser Effekt spiegelt sich auch auf sozialen Netzwerken wider. Es bilden sich Echokammern. Diese Blasen sind geschlossene Ökosysteme, in jenen Teilnehmer auf Überzeugungen stoßen, die ihre bereits bestehenden Überzeugungen bestärken. Das bekräftigt die eigene Befangenheit und lässt wenig Raum für konstruktive Auseinandersetzung mit Usern, welche nicht dieselbe Meinung teilen. Innerhalb dieser Filterblasen muss man nicht mehr rational argumentieren, da die Gleichgesinnten einem sowieso zustimmen. Eine Folge des Tribalismus ist die Homogenisierung von Meinungen.
Komplexität
Doppelmoral beschränkt sich aber natürlich nicht nur auf Gruppen, sondern betrifft einzelne Individuen gleichermaßen. Klimaaktivist:innen, die trotz ihrer offenkundigen Einstellung in den Billig-Urlaub fliegen, sind heuchlerisch. Aber das betrifft ja nicht alle Aktivist:innen. Es ist komplizierter. Das bedeutet nicht, dass sie nicht recht haben. Das Anliegen der Umweltschützer:innen kann durchaus berechtigt sein, obwohl sich ihr eigenes Handeln nicht nach den erstrebenswerten Maximen ausrichtet. Die Konfliktgründe sind also weniger die Widersprüche an sich, sondern das Predigen. Wenn ich eine Predigt hören will, gehe ich in die Kirche. Doppelmoral ist allerdings menschlich. Vernunft ist nicht allgegenwärtig und es ist sehr einfach über Inkonsistenzen hinwegzusehen, wenn man anstelle von Prinzipien aus Gewohnheit handelt. Und der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Denn wie oben bereits erwähnt, lebt jeder Mensch seine eigenen Widersprüche. Jeder von uns ist sich bewusst, dass wir der Umwelt tagtäglich schaden und unser Planet in ein paar Jahrzehnten unwiderruflich verwandelt sein wird. Ob es Fahrten mit dem eigenen Pkw, der Konsum von billigen Nahrungsmitteln oder private Feuerwerke an Silvester sind. Trotzdem ändern wir wenig an unseren Gewohnheiten. Als User sind wir ambivalent.
Betrachtet man solche Situationen kritisch, müsste der Verzicht leicht fallen. Das Problem ist, dass kritisches Denken nur solange Spaß macht, bis man als Konsequenz erhebliche persönliche Opfer bringen muss. Sobald man selbst betroffen ist und seine individuelle Freiheit gefährdet sieht, fliegen gute moralische Vorsätze und Maximen über Bord. Auch das ist menschlich und daher kann Doppelmoral nicht komplett falsch sein. Seine Mitmenschen anhand einzelnen Facetten zu beurteilen, funktioniert nicht auf Dauer. Bei Großkonzernen, wie den Social Media Betreibern, ist Kritik allerdings notwendig. Gerade die schleierhafte Content-Moderation gehört gerügt. Aber auch Selbstreflexion ist ein wichtiger Schritt, um zu erkennen, dass kritischer Diskurs wichtig ist und abgeschottete Echokammern nicht die Lösung sind. Sich seine eigenen Fehler einzugestehen, ist ein erster Schritt in Richtung persönlicher Charakterentwicklung. Wer nur Beifall will, sollte lieber ins Theater.
Auch ich habe mich im Zuge der Recherche zu meinem Beitrag mit meiner eigenen Doppelmoral auseinandergesetzt und viele Widersprüche in meinem alltäglichen Verhalten gefunden. In der unten eingebetteten Audiodatei gehe ich auf zwei Beispiele ein, die mir besonders im Gedächtnis geblieben sind. Sie verdeutlichen, dass unsere digitale Existenz oft im Konflikt mit unserem realen Leben steht.