„Es war Liebe auf den ersten Blick.“
Der (un)sichtbare Glücksbringer
Mit schnellen Bewegungen zeichnet er auf seinem Malbrett vier Luftballons. Über dem Sofa hängt ein Bild von ihm, auf dem Wohnzimmerboden liegen Spielzeuge und Kinderbücher. Leon* trägt einen blauen Hoodie mit bunten Dinos, die ihr Maul weit aufreißen. Dinos sind seine Lieblingstiere. Sorgfältig stellt er alle in einer Reihe auf. Manchmal sind sie nur Tiere auf dem Bauernhof, manchmal die Angreifer anderer Tiere.
Leon ist fünf Jahre alt. Er hat eine leichte Form des Down-Syndroms. Die genetische Besonderheit wird auch Trisomie 21 genannt. Menschen mit Down-Syndrom haben in ihren Zellen das 21. Chromosom drei- statt wie üblicherweise zweimal. Trisomie 21 ist unveränderbar und beeinflusst die körperliche und geistige Entwicklung in unterschiedlicher Weise. Andere Einschränkungen wie etwa Herzfehler, die oft mit dem Down-Syndrom einhergehen, hat Leon nicht. Aber seine Entwicklung läuft langsamer. Er spricht noch nicht in Sätzen, kann aber alle Ja-Nein-Fragen beantworten. Zu Daniela* (44) sagt er deutlich „Mama“.
Vielleicht war es auch Schicksal. Nach dem Abitur macht Daniela ein soziales Jahr in einer Werkstatt für Menschen mit Down-Syndrom. Sie schließt sie ins Herz, arbeitet später als Heilerziehungspflegerin in einer Behindertenwerkstatt. Schon mit 18 sagt sie zu ihrem Onkel: „Wenn ich einmal ein Kind mit Down-Syndrom bekomme, bin ich der glücklichste Mensch der Welt.“
Als Daniela und ihr Mann Martin* (43) dann ein Kind bekommen wollen, wird sie nicht schwanger. Sie bewerben sich beim Jugendamt: Ein Kind mit Down-Syndrom wollen sie adoptieren. „Wir hatten ganz wenig Zweifel, weil ich Menschen mit Down-Syndrom schon vorher kannte“, sagt Daniela. Sie sagen bei der Bewerbung aber offen, dass sie sich weitere Einschränkungen wie körperliche Behinderungen nicht vorstellen können. Mit zehn Monaten kommt Leon zu ihnen. „Wir haben sofort gewusst: Das ist unser Kind", sagt Daniela. Über Leons Vorgeschichte darf sie nicht sprechen, sagt nur: „Er hat sich ins Leben gekämpft, hatte einen ganz schweren Start.“
Kinder mit Behinderung sind in der Gesellschaft nicht erwünscht
Es gibt nur wenige Menschen wie Daniela und Martin. Viele können sich ein Leben mit Kindern mit Handicap nicht vorstellen. Zwar sind laut Bundeszentrale für politische Bildung nur vier Prozent der Behinderungen angeboren oder im ersten Geburtsjahr entstanden, doch viel zu oft bedeutet das den Tod: „Deutschland führt keine Zahlen, aber in anderen Ländern werden 95 Prozent der Kinder mit Behinderung abgetrieben“, sagt Wolf-Dietrich Trenner, Vorsitzender des Arbeitskreis Down-Syndrom Deutschland. Durch Pränataldiagnostik lassen sich Behinderungen schon vor der Geburt erkennen. Künftig bezahlen Krankenkassen die Kosten für einen Bluttest, bei dem sich Trisomien feststellen lassen. Bisher hatten die Kassen nur die Kosten für die deutlich risikoreichere Fruchtwasseruntersuchung übernommen. Für manche soziale Gerechtigkeit, für andere Selektion von Menschen.
„Das Existenzrecht von Kindern mit Down-Syndrom wird dadurch in Frage gestellt“, kritisiert Trenner die Tests. Die Folgen: In Dänemark halbierte sich nach Einführung der Bluttests als Regelleistung die Zahl der Kinder, die mit Down-Syndrom geboren wurden. Laut Trenner liegt das vor allem am negativen Bild, das die Gesellschaft von Gehandicapten hat: „Die Kinder werden abgetrieben, weil die Reaktion der Gesellschaft auf die Behinderung aggressiv und im günstigsten Fall gleichgültig ist", sagt er.
Sibylle Breit von der evangelischen Beratungs- und Vermittlungsstelle Württemberg weiß: „Kinder mit Beeinträchtigungen sind wesentlich schwerer zu vermitteln." Anders als Martin und Daniela würden interessierte Paare oft an sich zweifeln, ob sie für die Adoption eines Kindes mit Beeinträchtigung stark genug seien. Es sei außerdem die Angst vor dem, was andere denken könnten: "Paare, die Kinder mit Down-Syndrom adoptieren wollen, haben Angst, dass sie von der Gesellschaft nicht akzeptiert werden", sagt die Sozialpädagogin. Bei einer Adoption sei dies aber leichter: „Leibliche Eltern würde man fragen, warum sie nicht abgetrieben haben“, so Breit. Einmal auf einem Spielplatz sind Großeltern mit ihrem Enkelkind vor Leon weggerannt. Sie dachten, das Down-Syndrom sei ansteckend.
Sie hat Angst, Leon zu verletzen
Leon geht in einen Förderkindergarten. Martin arbeitet Vollzeit und Daniela sieben Stunden in der Woche. Der Alltag der Familie unterscheidet sich auf den ersten Blick kaum von anderen Familien. Alles geht nur etwas langsamer. Das entschleunigt den Alltag: „Leon erdet uns in dieser schnelllebigen Zeit“, sagt Daniela. Oft sei es mit ihm sogar einfacher, als mit Kindern ohne Handicap. „Leon ist grundzufrieden, er schätzt die Kleinigkeiten im Leben. Er ist unser Lebensgeschenk“, sagt Daniela. „Manchmal kneifen wir uns, was für ein Glück wir haben“, ergänzt sie. Wenn Leon Musik hört, tanzt er einfach. Besonders zu seinem Lieblingslied „Old MacDonald had a farm“.
Dennoch sind manche Dinge anders. Leon muss öfters zum Arzt, geht wöchentlich zur Logopädie und Ergotherapie. Es stört Daniela, dass viele Menschen Leon unterschätzen – auch Ärzte. Da Leon noch nicht versteht, dass Babys im Bauch wachsen, hat Daniela ihm noch nicht von der Adoption erzählt. Wenn Daniela Ärzten vor Untersuchungen nicht Leons Geschichte erklärt, sind sie unvorsichtig. Dann kommen Fragen wie: „Seit wann ist er bei euch?“ „Und Leon versteht das“, sagt Daniela. Erst wenn Leon soweit ist, wird Daniela ihm von der Adoption erzählen. Das beschäftigt sie: „Ich habe Angst, ihn dabei zu verletzen. Und davor, dass er sich dann nicht geliebt fühlt, weil andere zu ihm sagen: Das ist ja gar nicht deine Mama.“
„Menschen mit Downsyndrom sind genial. Wenn sie die Welt regieren würden, hätten wir weniger Kriege.“
Nur enge Freunde und Verwandte würden wirklich erkennen, wie glücklich das Paar mit Leon sei, sagt Daniela. Häufig schauen andere Mütter Daniela nur mitleidig an. Sie haben ein falsches Bild vom Down-Syndrom, meinen, es bedeute ein Leben der Last für die Familien. Sie denken gar nicht daran, dass Daniela und Martin glücklich mit Leon sind. Manchmal wird Daniela auch direkt vor Leon auf die Behinderung angesprochen. Sie weiß, dass die Menschen es nur gut meinen. „Aber wenn Leon älter ist, muss ich überlegen, wie ich damit umgehe“, sagt sie. Manchmal erleben Martin und Daniela aber auch „aberwitzige Situationen“ mit Leon – wie eines Abends beim Einkaufen.
Leon soll selbstständig leben
Leons Zukunft macht Daniela zu schaffen: „Die Herausforderung ist, sie so zu gestalten, dass er so selbständig wie möglich leben kann, ohne dass ihm jeder sagt, was er tun soll“, sagt sie. Wahrscheinlich wird Leon in der Zukunft in einer betreuten Einrichtung wohnen müssen. Die Frage ist nur: „Wie sehr kann er mitbestimmen?“, sorgt sich Daniela.
Über all das macht sich Leon keine Gedanken. Zufrieden löffelt er am Esstisch genussvoll seinen Obstjoghurt bis auf die letzte Stelle aus. Trotzdem schüttelt er den Kopf auf Martins Frage, ob ihm der Joghurt schmeckt. „Du schauspielerst doch“, sagt Martin. „Jaja“, antwortet Leon frech. Dann füllt sich das Wohnzimmer der Familie mit herzlichen Lachern.
*Name durch die Redaktion geändert.