„Ich war wie gelähmt. Ich konnte mich weder bewegen, noch sprechen. Ich war wirklich wie in einem Film gefangen."
Wenn die Realität zur Illusion wird
Das Gespräch mit Charlie* beginnt mit einem offenen Gespräch über ihre aktuellen Gemütszustände und dem alltäglichen Stress, dem sie seit dem Beginn ihres Psychologiestudiums anfang Oktober dieses Jahres, ausgesetzt ist. Sie ist glücklich über ihren neuen, zurückgewonnenen Alltag und die Aufgaben, die dieser mit sich bringt. „Die meisten würden sagen ich spinne, aber ich freu mich tatsächlich sehr über die ganzen Abgaben in der Uni und die Tatsache, dass ich endlich wieder etwas lernen kann", sagt sie.
Charlie wirkt etwas nervös, ihr Blick fixiert die meiste Zeit des Gesprächs denselben Punkt. Schnell wird klar, dass sich hinter den Kulissen eine Welt verbirgt, die für die meisten von uns unsichtbar bleibt. Eine durch ihren regelmäßigen Cannabiskonsum hervorgerufene Psychose wird zum Auslöser einer mentalen Reise, auf der die Realität plötzlich einen anderen Anstrich erhält. Charlies Arbeitsplatz wird zum Schauplatz ihrer ersten konkreten Erfahrung mit der entfremdeten Realität.
"Ich habe hochgeschaut und alles sah auf einmal so künstlich aus, so fremd. Ich dachte, ich habe Kreislaufprobleme und musste ständig die Arbeit abbrechen", erklärt sie. Charlie leidet an einer Derealisations-/Depersonalisationsstörung (DR/DP).
Unter Depersonalisations-/Derealisationsstörung (DR/DP) versteht man ein anhaltendes oder immer wiederkehrendes Gefühl, vom eigenen Körper oder Denken (Depersonalisation) und/oder von der eigenen Umgebung (Derealisation) losgelöst zu sein.
DR/DP können Symptome von psychiatrischen Störungen sein, z. B. bei Angst- und Panikstörungen, Depression, Schizophrenie oder Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Sie sind zudem häufige Symptome bei einer Reihe von somatischen Erkrankungen, z. B. bei Migräne, Substanzmissbrauch, Entzugssyndromen, oder unerwünschten psychischen Arzneimittelwirkungen.
Wichtig: Beide dissoziative Störungen können aber auch als eigenständige klinische Syndrome auftreten und sind nicht zwangsläufig ein Symptom einer der oben genannten Ursachen!
Quelle: Depersonalization: A New Look at a Neglected Syndrome, von M. Sierra: (2009)
Etwa die Hälfte aller Menschen hat schon einmal ein vorübergehendes Gefühl der Derealisation erlebt, bei dem die Umgebung als unwirklich oder ungewohnt wahrgenommen wird. Meistens tritt solch eine Erfahrung nach lebensbedrohlichen Situationen, Drogenkonsum oder extremer Müdigkeit auf. Die Derealisation als eigenständige, dissoziative Störung betrifft etwa 2 Prozent der Bevölkerung und kann, unabhängig von Geschlecht, im frühen oder mittleren Kindesalter auftreten, wobei der erste Eintritt einer Derealisation nach dem 40. Lebensjahr die Ausnahme bildet. Forschungen zeigen außerdem, dass mehr als ein Viertel der Menschen, die unter Angststörungen leiden, ebenfalls von Zuständen der Derealisation betroffen sind. Bei Personen mit Depressionen umfasst der Anteil, der ebenfalls unter Derealisationen leidet rund ein Drittel.
Am Anfang traten Charlies Zustände der Derealisation nur vereinzelt auf. Laut ihren Ärzten wurden diese durch den permanenten Stress ausgelöst, dem sie durch ihrer Psychose und ihrer Schizophrenie ausgesetzt war. Aufgrund der Häufigkeit und Intensität entwickelten sich diese schnell zu einer eigenen, diagnostizierten Störung. Diese ist von der Psychose und der Schizophrenie unabhängig.
Ein Jahr im Bann der Entfremdung
Charlie beschreibt ihre Derealisationsstörung als einen Zustand, in dem plötzlich alles unwirklich, fremd und bedrohlich erscheint. Die Umgebung und die Menschen um sie herum– nichts bleibt verschont. Ihre Erfahrungen ziehen sich durch verschiedene Sinneswahrnehmungen und manifestieren sich in der Depersonalisierung. In solchen Momenten wird ihre Reflexion im Spiegel zu einer fremden Person und die Hand vor ihren Augen wirkt nicht mehr wie ihre eigene.
Szenarien, die während Charlies einjährigen Klinikaufenthalts zu ihrer eigenen, neuen Realität wurden. Ein normaler Alltag, wie die meisten Menschen ihn gewohnt sind, war für Charlie in dieser Phase ihrer Erkrankung nicht möglich. Einfache Aktivitäten, wie das Aufstehen am Morgen, zu einer mentalen Herausforderung wurden. Der Kampf gegen die verzerrte Realität begann, sobald Charlie morgens ihr Zimmer verlassen hat. Sie erklärt: „Sobald ich morgens mein Zimmer verlassen habe und ein anderer Mensch dazu kam, beziehungsweise ein Reiz mehr auf mich zukam, war ich direkt derealisiert". Zu diesem Zeitpunkt konnte Charlie weder lernen, noch ihre Freunde sehen, geschweige denn arbeiten. „Ich konnte absolut nichts machen [...] Manchmal saß ich auch einfach nur in meinem Zimmer und hab einfach komplett in die Leere geschaut“, offenbart Charlie.
Gefühle wie Nervosität und Angst waren ihre ständigen Begleiter. Charlie berichtet mir von dem Ereignis, in dem ihre Derealisationen sie vollkommen wehrlos machten. „Eine Situation, in der ich wirklich große Angst hatte, war der Besuch eines Schulfestes mit meiner besten Freundin [...]. Da wurden meine Derealisationen auf einmal so stark, dass ich überhaupt keine Kontrolle mehr über meinen Körper hatte", schildert sie.
Eine Situation, die nochmal besonders hervorhebt, dass die Anwesenheit einer vertrauten Person oft nicht ausreicht, um Betroffene aus dem Bann der Derealisation zu berfreien. "Nein, dass sie dabei war, hat mir in dem Moment nicht geholfen.", betont Charlie.
Charlies Derealisationsstörung hat nicht nur ihr Inneres, sondern auch ihre zwischenmenschlichen Beziehungen stark beeinflusst. Die künstliche, bedrohliche Welt, die sie umgab, erschwerte den Kontakt zu ihren Freunden und ihrer Familie. Als ihre Derealisationsstörung vor ungefähr einem Jahr auf dem Höhepunkt war, konnte Charlie nicht einmal ihr eigenes Spiegelbild erkennen. Auch die Komplexität ihrer dissoziativen Störung erschwerte den sozialen Umgang. Für Charlie war es schwierig, anderen Menschen ihre Erfahrungen zu vermitteln. „Auch meine Eltern haben das zum Teil nicht wirklich verstehen können. Ich glaube, wenn du das selbst nicht hast, dann kannst du auch nicht verstehen, wie sich das anfühlt“, erklärt Sie.
Der Weg zurück
Während ihres Aufenthalts in der Klinik erhielt Charlie zahlreiche Medikamente, die zwar erfolgreich gegen die Symptome ihrer Schizophrenie wirkten, jedoch keinerlei Einfluss auf ihre Derealisation hatten. Trotz vieler Versuche, neue Medikamente einzusetzen und Dosierungen anzupassen, war keine Verbesserung in Sicht. „Ich habe dann irgendwann keine Stimmen mehr gehört, habe mich nicht mehr verfolgt gefühlt und hatte keine Halluzinationen mehr. Gegen die Derealisationen hat das aber nicht geholfen“, sagt Charlie. Selbst der Versuch einer Elektrokrampftherapie (EKT), eine drastische Maßnahme, blieb nur ein weiteres stumpfes Werkzeug gegen die Derealisationen.
„Ich habe sogar eine Elektrokrampftherapie gemacht, bei der man elektrische Schocks bekommt, aber das bei mir auch gar nichts gebracht"
Charlies Ärzte empfahlen ihr, sich weitestgehend zurückzuziehen, um sich bestmöglich von jeglichen Reizen zu isolieren. Für Charlie erwies sich dieser Rückzug als Balanceakt – notwendige Isolation, um die Symptome zu mildern, standen im ständigen Widerspruch zum Verlust sozialer Bindungen. „Anfangs habe ich das nie so richtig geschafft, weil ich immer, wenn ich alleine in meinem Zimmer war, eine Leere in mir hatte. Deswegen habe ich immer versucht, doch noch mit Freunden herauszugehen, aber dadurch sind die Derealisationen halt immer stärker geworden“, verrät sie mir. Letztendlich gelang es Charlie mit therapeutischer Unterstützung, sich weitestgehend abzuschirmen und die Intensität der Symptome zu mildern.
Im Allgemeinen erfordert die Behandlung von Derealisationen einen vielschichtigen Ansatz, der psychotherapeutische Methoden wie kognitive und verhaltenstherapeutische Ansätze einschließt. Erdungsmethoden, die die Sinne aktivieren, können außerdem helfen, das Gefühl der Realitätsentfremdung zu lindern. Die Schwierigkeiten in der Behandlung liegen jedoch in der Vielschichtigkeit der Auslöser, da Derealisation oft mit anderen psychischen Erkrankungen einhergeht. Da bestimmte Präparate die Symptome der Derealisation verschlimmern können, gestaltet sich die Medikamentenwahl anspruchsvoll. Zudem reagieren Betroffene unterschiedlich auf Therapie und Medikamente, was die Auswahl geeigneter Methoden erschwert.
Für Charlie schien diese Situation eine ganze Weile aussichtslos. Mit verschiedenen selbst angeeigneten Taktiken hat sie deshalb versucht, sich selbst aus den Zuständen der Derealisation zu befreien.
Zurück im Alltag
Seit ungefähr zwei Monaten geht es Charlie nun erheblich besser. Sie hat im Oktober dieses Jahres ihr Psychologiestudium begonnen und ist dabei, ihren Führerschein zu machen. Zustände der Derealisation hat sie mittlerweile nur noch einmal am Tag und dann auch nur für wenige Minuten. Für die meisten Menschen wäre das wohl noch immer relativ häufig, für sie sei es jedoch kein Vergleich zum vergangenen Jahr. „Da war ich wirklich von morgens bis abends derealisiert und konnte keinen normalen Alltag führen“, erklärt sie. Mittlerweile hat Charlie ziemlich gut gelernt, mit ihren Derealisationen umzugehen und kann ein weitestgehend normales Leben führen. „Allein die Tatsache, dass ich jetzt endlich mein Studium anfangen konnte. Vor einem Jahr hätte ich mir das niemals vorstellen können!“. Sie verdeutlicht jedoch, wie wichtig die therapeutische Unterstützung auf ihrem Weg zurück in einen normalen Alltag war. „Da bin ich meiner Therapeutin so, so dankbar! Sie hat mich immer wieder aufgebaut, als ich die Hoffnung aufgegeben habe“, betont Charlie.
Trotz der nachhaltigen negativen Folgen ihres Cannabiskonsums hat Charlie ab und zu noch das Bedürfnis, wieder zu konsumieren. „Ich vermisse es, klar. Bis zum Ausbruch meiner Psychose hatte ich ja auch immer eine gute Zeit“, gesteht Charlie. Gerade die letzten zwei Monate sei sie wieder häufiger unter Menschen und unternimmt regelmäßig was Freunden. Da komme es schon vor, zum Beispiel auf Geburtstagen, dass die Leute in ihrer Anwesenheit Cannabis rauchen. „Wenn man das dann riecht und auch sieht, wie alle ihren Spaß haben, da reizt es einen dann schon“, offenbart sie. Dennoch würde Charlie den Erfolg ihres mühseligen Kampfes gegen die Derealisationen nicht aufs Spiel setzen. „Ich hatte wirklich so eine Angst, dass ich nie wieder normal leben kann und das alles nie wieder aufhört, das würde ich niemals einfach so wegwerfen!“, sagt sie.
Charlies Geschichte bietet einen tiefen Einblick in die komplexen Facetten dieser psychischen Erkrankung. Sie zeigt nicht nur die Schwierigkeiten in der Behandlung dieser vielseitigen Störung auf, sondern regt auch zu Fragen nach vertieften Forschungen und weiteren möglichen Therapieansätzen an. Ihr einjähriger Kampf gegen die Derealisationen, begleitet von zahlreichen Klinikaufenthalten und diversen therapeutischen Ansätzen, gibt aber auch Hoffnung. Dies unterstreicht, dass, trotz der anhaltenden Herausforderungen im Umgang dieser Störung, ein erfülltes Leben und die Wiederherstellung zwischenmenschlicher Beziehungen durchaus möglich sind. Die essenzielle Bedeutung von Selbstakzeptanz sowie Verständnis und Unterstützung aus dem persönlichen Umfeld wird dabei besonders deutlich.
*Der Name wurde von der Redaktion geändert