Solange du versuchst, die Sucht eines anderen Menschen zu kontrollieren, wirst du nichts anderes erreichen, als dass dessen Sucht dich kontrolliert.
Kontrolliert von der Sucht
Inhaltswarnung für Leser*innen:
Dieser Artikel kann Themen enthalten, die als diskriminierend und verletzend empfunden werden könnten. Der Text beschäftigt sich mit folgenden sensiblen Inhalten: Alkohol und Drogensucht. Bitte sei dir dessen bewusst und lies den Artikel entsprechend deiner persönlichen Sensibilität. Unsere Absicht ist es, respektvoll und einfühlsam zu berichten, um die Würde der betroffenen Personen zu wahren.
Mittwochabend, 20 Uhr. Julia trifft sich mit ihren Freundinnen im Hotel-Restaurant der Familie ihres Partners zum Stammtisch. Das Restaurant ist voll besetzt, ein Gewirr aus Stimmen und das Klirren von Geschirr und Gläsern erfüllt die Luft. Die Stimmung der Gäste ist ausgelassen – die des Personals mehr als gestresst. Julias Blick sucht ihren Partner unter den Angestellten. Bei der Anzahl an Gästen zählt jede helfende Hand. Doch von ihrem Freund fehlt jede Spur. Ein ungutes Gefühl macht sich in ihr breit. Nervös verlässt sie den Tisch. Im Büro findet sie ihren betrunkenen Freund. Es kommt zur Konfrontation. Julia lässt lautes Geschrei und Vorwürfe des Hinterherspionierens über sich ergehen. Ihre Reaktion: Sie übernimmt die Verantwortung für sein aggressives Verhalten, versucht, die Situation wieder in Ordnung zu bringen.
In Deutschland leben rund 1,6 Millionen Alkoholabhängige. Auf jede*n von ihnen kommen im Schnitt drei bis fünf Menschen, die unter ihrer Sucht mitleiden. 8 Millionen Partner*innen, Eltern, Kinder, Freund*innen, Verwandte. Julia ist eine von ihnen. Sie ist co-abhängig. Der Begriff Co-Abhängigkeit sammelt verschiedene Verhaltensweisen Angehöriger Suchtkranker. Durch ihren Willen, die suchtkranke Person zu retten verwickeln sich Angehörige selbst in die Abhängigkeit. Lange Zeit wusste Julia nichts von der Alkoholsucht ihres Partners, der alles tat, um diese zu verstecken. „Rückblickend gab es schon Anzeichen. Aber ich kann das gar nicht so eindeutig sagen, was wollte ich nicht sehen, was habe ich wirklich nicht gesehen?“, erzählt Julia. Schleichend rutscht sie immer tiefer in die Co-Abhängigkeit.
Betroffene von Co-Abhängigkeit stellen die Bedürfnisse einer nahestehenden Person dauerhaft vor ihre eigenen, auch wenn diese ihnen und der anderen Person schaden können. Dadurch kann das suchtkranke Verhalten aufrechterhalten werden. Laut Dr. Maurice Cabanis, dem ärztlichen Direktor der Klinik für Suchtmedizin und abhängigem Verhalten am Klinikum Stuttgart, liegt die Ursache von Co-Abhängigkeit meist in Erfahrungen aus der Kindheit und Jugend. „Oft liegt ein Missverständnis zwischen Unterstützung, Mitleid, Verpflichtung und Liebe vor, hinzu kommt häufig eine ausgeprägte Angst, verlassen zu werden und ein vermindertes Selbstwertgefühl.“ Begünstigende Faktoren seien außerdem, wenn es Menschen schwerfällt eigene Bedürfnisse zu erkennen und zu formulieren oder wenn sich eine Person schlecht und egoistisch dabei vorkommt, sich selbst zu priorisieren.
Julias Gedanken drehen sich irgendwann nur noch um ihren Partner. Selbst in der Nacht hat sie Angst, dass ihr Freund aufstehen, zur Flasche greifen und die Treppe hinunterstürzen könnte. „Du weißt nie, was dich erwartet, du kannst dich nie entspannen und versuchst alles zu kontrollieren, für jeden Fall gewappnet zu sein. Dadurch entwickelst du natürlich auch Angst und Scham, die aber gleichzeitig Nährboden sind für das ganze Suchtsystem.“ Nach und nach isoliert sie sich von anderen, kreist irgenwann nur noch um ihren Partner und verstrickt sich immer mehr. Ihr ständiger Fokus: „Ich muss ihm helfen. Ich muss es schaffen, die Kontrolle über seine Sucht zu erlangen. Ich muss es schaffen, dass er aufhört zu trinken. Aber solange du versuchst, die Sucht eines anderen Menschen zu kontrollieren, wirst du nichts anderes erreichen, als dass dessen Sucht dich kontrolliert.“
Durch den dauerhaften inneren Konflikt, die untergeordneten Bedürfnisse und fehlende Entlastung besteht bei Co-Abhängigen ein großes Risiko körperlicher Folgestörungen und Begleiterkrankungen. Auch Julias Körper reagiert irgendwann. Ihre Haare fallen büschelweise aus. Obwohl es ihr schlecht geht, versteht sie lange nicht, dass sie selbst Hilfe braucht. Irgendwann erreicht sie den Punkt, an dem sie merkt, dass sie so nicht weitermachen kann. „Ich wusste einfach nur in dem Moment, ich möchte nicht mehr auf diesem Weg weitergehen und meine Hoffnung wieder an den Erfolg seiner nächsten Therapie hängen. Und dann habe ich einfach nur losgelassen.“
Durchs Netz gefallen
Zu wenige Menschen suchen sich früh genug Hilfe, meint Dr. Cabanis. „Das liegt zum einen daran, dass die Menschen ihr eigenes Verhalten zunächst nicht als problematisch erleben. Zum anderen sind sie gewohnt, die Situation zu verheimlichen und vielen ist auch nicht klar, wo sie Hilfe finden.“ Die Hilfsangebote für Angehörige Suchtkranker richten sich nach Schweregrad und Bedürfnissen: Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen, Psychotherapie. Der Psychotherapie komme ein besonderer Stellenwert zu, da dort an tiefsitzenden Verhaltensmustern und ihren Ursachen gearbeitet werden kann.
Julia sucht zunächst den Arzt ihres Partners auf. Sie weiß, dass sie dort sich selbst und ihre Probleme nicht erklären muss. Gesehen fühlt sie sich trotzdem nicht. Eine kleine Finca auf Mallorca bringt dann den Wendepunkt: Eine Woche unter Suchtkranken. Durch die unterschiedlichen Menschen und die Gespräche über Alkoholismus habe sie zum ersten Mal die Krankheit verstanden. „Im Endeffekt geht es immer darum, Verantwortlichkeiten wieder richtig zuzuordnen. Es gibt einen einzigen Menschen, der die Verantwortung für seine Sucht übernehmen kann und das ist der Suchtkranke selbst.“
Auch interessant
Statistiken und Daten zu Co-Abhängigen sind kaum vorhanden. Grund dafür: Co-Abhängigkeit ist keine anerkannte Krankheit, Betroffene fallen im gesamten Suchtsystem durchs Netz. Als Julia das klar wird, will sie etwas dagegen tun und ihre Erfahrungen zu etwas Positiven wandeln. „Ich habe gespürt, ich könnte wirklich andere Menschen begleiten auf diesem Weg, weil ich selbst ja auch wusste, wie schwer das ist. Erstmal musst du die Wahrheit annehmen und die Scham überwinden, nach Hilfe zu fragen. Und dann musst du auch erstmal Hilfe finden, die auch Hilfe ist.“
Die 46-jährige Münchnerin hat ihre sechsjährige Beziehung mit einem Alkoholiker und ihre eigenen Erfahrungen mit Co-Abhängigkeit in ihrem Buch „Mitgefangen in der Sucht“ verarbeitet. Sie leitet mittlerweile zwei Angehörigengruppen beim Blauen Kreuz, einer Organisation zur Selbsthilfe bei Suchtkranken und begleitet als Coachin co-abhängige Menschen auf ihrem Weg aus dem Suchtsystem. „Ich freue mich so für jeden, der den Mut aufbringt loszugehen.“