Religion

“Ich bin falsch und die sind richtig” – ein Leben nach dem Ausstieg

23. Aug. 2022
Sarah ist bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen. Nachdem sie als Teenagerin die Gemeinschaft verlässt, bricht ihre Mutter den Kontakt ab. Lange sucht Sarah die Fehler bei sich. Erst mit 30 Jahren schafft sie es, sich von der Indoktrination zu lösen.

Es ist ein heißer Sommertag Ende Juli. Eine junge Frau, Anfang dreißig, wartet vor einem Szene-Café im Stuttgarter Westen. Sie trägt ein schwarzes Crop-Top und einen luftigen Rock mit Animalprint. Ihr linker Arm ist mit kunstvollen Tattoos verziert. In ihrer Nase funkelt ein goldenes Septum-Piercing im Sonnenlicht. Eine filigrane goldene Kette mit dem Buchstaben „S“ ziert ihren Hals. Ihr braunes, welliges Haar trägt sie offen über den Schultern. Als ich auf sie zulaufe, lächelt sie selbstbewusst, nimmt einen Zug ihrer Zigarette. Sie stellt sich als Sarah vor.

Aufwachsen unter Jehovas Blick

Sarahs Eltern sind kurz nach ihrer Geburt bei den Zeugen Jehovas eingetreten. In Deutschland hat die Glaubensgemeinschaft Schätzungen zufolge circa 160.000 Mitglieder. Sie glauben, dass der Weltuntergang, von ihnen wird er Harmagedon genannt, bald bevorsteht. Nachdem der Weltuntergang am bisher prognostizierten Datum nicht eingetreten ist, hat die Organisation kein Datum mehr festgelegt. Fest steht aber, dass alle Menschen sterben werden. Gemäß den Lehren wird Jehova nach dem Harmagedon in die Herzen der Menschen schauen und die Gläubigen auferstehen lassen. Die Erde werde anschließend zum Paradies. Um in Gottes Augen würdig zu sein, muss man sich streng an die Regeln der Bibel halten. Feiertage wie Weihnachten und Geburtstage werden nicht zelebriert. Rauchen, Tattoos und Sex vor der Ehe sind verboten. Freie Zeit soll mit Bibelstudium und Predigtdienst sinnvoll genutzt werden. Kontakt zu weltlichen Menschen, also keinen Zeugen Jehovas, wird nicht gerne gesehen. 

Als Kind hat Sarah Albträume vom Weltuntergang. Sie nässt bis zum zwölften Lebensjahr in ihr Bett. Mit 14 Jahren merkt sie, dass etwas für sie nicht stimmt. Einerseits will Sarah ihre Eltern stolz machen und ist bemüht, eine vorbildliche Zeugin zu sein: Sie geht in die Versammlungen, meldet sich als ungetaufte Verkündigerin und trägt den Wachtturm aus. Andererseits verspürt sie den Drang, ein normaler Teenager zu sein und hat entgegen den Regeln der Gemeinschaft einen Freund. Sarah leidet darunter, dass die Liebe und Wertschätzung der Eltern an ihre Leistungen innerhalb der Gemeinde geknüpft sind. Die Verbindung zu Gott, über die gepredigt wird, spürt sie nicht. „Oft hab ich einfach nur so getan, als würde ich beten“. Sie hat Angst zu sündigen und deshalb nicht zusammen mit ihrer Familie ins Paradies zu gelangen. Erdrückt von der Angst, kommt es vermehrt zu rebellischen Ausbrüchen. Sarah beginnt zu klauen. „Im Nachhinein bin ich mir sicher, dass es Hilferufe waren, ich wollte Liebe und Verständnis“. Stattdessen bekam sie ein halbes Jahr lang Hausarrest und wurde zu Gesprächen mit den Ältesten der Gemeinde eingeladen. Unzufrieden mit der Situation schaltete Sarah eigenständig das Jugendamt ein, sie will nicht mehr zurück nach Hause. Der Versuch auf Klärung bleibt erfolglos, Sarahs Mutter reagierte nicht. „Ich glaube, das war das Schlimmste, was ich ihr antun konnte, ich habe sie ja vor allen bloßgestellt“.

 

„Im Nachhinein bin ich mir sicher, dass es Hilferufe waren. Ich wollte Liebe und Verständnis“

Sarah

Kontaktabbruch als Lektion

Nachdem Sarah sich endgültig entschlossen hatte, die Gemeinschaft zu verlassen, folgen Konsequenzen. Ihre Mutter macht klar, dass sie spätestens mit 18 Jahren ausziehen muss. Obwohl Sarah nicht getauft und somit noch kein vollwertiges Mitglied der Gemeinde ist, bricht ihre Familie den Kontakt mit ihr ab. Sie gilt jetzt als schlechter Umgang und wird gemieden. 

Damit ist Sarah kein Einzelfall. Im Regelwerk der Zeugen Jehovas ist festgeschrieben, dass kein Umgang zu ehemaligen Zeugen gepflegt werden darf. Dies gilt eigentlich nur für getaufte Mitglieder. Zu ungetauften Verkündiger*innen wie Sarah muss der Kontakt nicht völlig abgebrochen werden. Hier entscheiden die Familien selbst. „Wir hören aber in letzter Zeit immer öfter, dass auch die Ungetauften geächtet werden“, erklärt Esther Gebhard vom Verein „JZ Help“. Die Organisation ist eine Anlaufstelle für ehemaligen Zeugen Jehovas. Sie leistet Aufklärungsarbeit, hilft beim Austritt und der Wiedereingliederung in die Gesellschaft und steht bei rechtlichen Problemen zur Seite. 

Der Kontaktabbruch und die Ächtung von der Gemeinde werden von den Zeugen Jehovas selbst als liebevolle Vorkehrung bezeichnet. Sie verfolgt keinen bösartigen Hintergrund, sondern soll eine Lektion für die Betroffenen sein. Dadurch soll die Person erkennen, bereuen und anschließend zu den Zeugen Jehovas zurückkehren, erklärt Frau Gebhard. Der Kontakt wird von der gesamten Gemeinde auf das Nötigste minimiert. Das gesamte soziale Umfeld der Aussteiger*innen bricht dadurch zusammen. „Quasi nett verpackte emotionale Erpressung“, kommentiert Gebhard. Dabei spiele es keine Rolle, in welchem Verhältnis die Menschen vor der Ächtung zueinanderstanden. „Ich kenne auch Fälle, wo Personen die Straßenseite gewechselt haben.“ Zwar ist Gebhard überzeugt, dass Eltern ebenfalls leiden, wenn sie den Kontakt zu ihren Kindern abbrechen, aber die Loyalität Gott gegenüber und die Hoffnung, im Paradies zu leben, sei um ein Vielfaches größer.

 

Die Indoktrination sitzt tief

Sich nach einem Ausstieg von der Weltanschauung und den Lehren zu trennen, fällt vielen ehemaligen Zeugen Jehovas äußerst schwer. Die jahrelange Indoktrination und die Kontrolle durch die Angst vor dem Weltuntergang, verkompliziert den Austritt aus der Glaubensblase, erklärt Gebhard. Zeugen Jehovas haben für alles ein Erklär-Konzept, viele sind nach dem Austritt völlig orientierungslos. Gebhard vergleicht es mit dem Erwachen aus der Truman-Show.

Auch Sarah, die vor über einem Jahrzehnt bei den Zeugen Jehovas ausgetreten ist, steckte selbst noch viele Jahre in der Glaubensblase fest. Sie erinnert sich: „Ich war draußen, aber irgendwie noch drinnen.“ Mit ihrem Körper hat sie in der echten Welt gelebt, aber in ihrem Kopf war diese Welt falsch. Weihnachten und Geburtstage waren purer Stress. Die Angst vor dem bevorstehenden Weltuntergang bleibt ebenfallsbestehen. „Du lebst die ganze Zeit mit dem Gedanken: jetzt kommt es.“ 

Während Sarah erzählt, stehen wir vor dem Königreichssaal der Zeugen Jehovas in Zuffenhausen. Das Gebäude ist modern, aber da keine Versammlung ansteht ist niemand da. Sarah schaut sich kurz um ob sie jemand sieht, lacht dann über sich selbst und zündet sich eine Zigarette an.

Obwohl sie sich ein neues Umfeld aufbaut, Freunde findet und in eine neue Stadt zieht, fehlt ihr ihre Familie. Sarah sucht den Kontakt, besonders zu ihrer Mutter. Sie beginnt erneut, die Bibel zu studieren und geht zurück in die Versammlungen. „Wie ein Bumerang bin ich immer wieder zurückgekommen.“ Dann war sie voll dabei und überzeugt davon, dass die Lehren der Zeugen Jehovas das Richtige seien. „Ich dachte mir, dass ich es dieses Mal schaffe und ich meine Eltern nicht mehr enttäusche.“ Als es nicht funktioniert und bei ihr Zweifel hochkommen, sucht sie den Fehler bei sich. Auf die Idee, dass es an den Zeugen Jehovas liegen könnte, kam Sarah nicht. „Ich dachte, dass die Lehren die Wahrheit sind. Die Wahrheit – das hörst du da ja auch jeden Tag tausendmal“ erzählt Sarah kopfschüttelnd.

Erst im Rahmen einer Therapie, die sie 2019 begonnen hat, erkennt Sarah, wie tief die Indoktrination der Zeugen Jehovas sitzt. „Erst da habe ich gecheckt, wie sehr meine Vergangenheit mich einschränkt.“ Danach stand für Sarah fest, dass sie nie wieder zurückkehrt. Vor zwei Jahren traut sie sich zum ersten Mal, ein Buch von einem anderen Aussteiger zu lesen. „Ich habe mich endlich getraut mich mit Inhalten auseinanderzusetzen, die die religiösen Lehren hinterfragen und auch gegen die Zeugen Jehovas sprechen.“ 

Wir spazieren gemeinsam durch den Stadtpark, die Sonne steht hoch am Himmel und die Hitze ist fast unerträglich. Wir suchen uns einen Platz im Schatten. Sarah packt einen Fächer aus und wedelt uns Luft zu. Sie lacht, „Ich war letztens auf meinem ersten Festival, den habe ich von da mitgenommen.“

Ein klärendes Gespräch mit ihrer Mutter hat Sarah bis heute nicht gehabt. Zwar konnte sie ihr erklären, unter welchem mentalen Druck sie stand, aber das Gefühl, als Gesprächspartnerin auf Augenhöhe wahrgenommen zu werden, hatte sie nicht. „Wenn du nicht über die Bibel und die Wahrheit der Zeugen Jehovas reden kannst, ist es nichtig.“ Für ihre Mutter sei alles, was man sich in der weltlichen Welt aufbaut, ohne Bedeutung. Denn der Weltuntergang stehe ja bald bevor. Momentan haben Mutter und Tochter wiederholt keinen Kontakt. Ihre Mutter brach ihn ab, nachdem sie ein Video von Sarah auf Social Media entdeckt hatte. In dem Video äußert sich Sarah kritisch gegenüber Religionsgemeinschaften. „Es ist nicht schön und ich wünsche es mir auch nicht, aber dieses Mal habe ich auch ihre Nummer gelöscht“ kommentiert Sarah den Kontaktabbruch. 

Mit dem Krieg in der Ukraine kommen alte Ängste zurück

Anfang des Jahres sieht Sarah in den Nachrichten die brutalen Bilder aus dem Krieg in der Ukraine. Obwohl ihr Austritt schon Jahre zurückliegt und sie die Glaubensblase verlassen hat, kommt die Angst aus der Vergangenheit zurück. „Ich dachte, dass jetzt der Weltuntergang losgeht.“ Daraufhin packt Sarah einen Notfallrucksack. „Ich musste mir immer wieder sagen, dass es in der Geschichte schon viele Kriege gab und das jetzt kein Anzeichen für den Weltuntergang ist.“ Mit diesen Gedanken ist Sarah nicht allein. Frau Gebhard von JZ Help berichtet, dass viele Aussteiger*innen durch Kriegsberichterstattung oder extreme Naturkatastrophen von der Indoktrination eingeholt werden und Todesangst bekommen.

„Ich dachte, dass jetzt der Weltuntergang losgeht.“

Sarah

Mittlerweile ist es früher Abend, die Luft ist abgekühlt. Sarah sitzt neben mir auf einer Bank im Park. Ihre Augen leuchten, als sie von den Plänen für ihre nächste Backpack-Reise erzählt. Vor ein paar Jahren hat sie mit dem Thai-Boxen angefangen, das will sie jetzt weiter machen. Die Welt mit eigenen Augen entdecken und herausfinden, worin ihr Lebenssinn besteht. Auf die Frage, ob sie noch an Gott glaubt, überlegt Sarah eine Weile, dann meint sie: „Ich habe noch keine Lösung, woran ich jetzt glaube, aber ich weiß, dass ich das nicht mehr glauben muss.“