Identität

Fühlst du dich deutsch?

01. Sep 2022
Burschenschaften und Deutschlandflaggen. Keine ungewöhnliche Mischung. In vielen Burschenschaften lautet eine der Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft: deutsch sein. Warum ist das so? Ist das noch zeitgemäß? Und was bedeutet deutsch sein überhaupt? Eine Reportage.

Die Farben Schwarz, Rot, Gold auf einem großen Stück Stoff. Eine Deutschlandflagge. Sie hängt über der Arbeitsfläche in der Küche eines Verbindungshauses. Die Küche – ein merkwürdiger Ort für eine Flagge. Vielleicht hängt sie dort wegen der Europameisterschaft der Frauen. Wahrscheinlich eher nicht. Unter der Flagge drei Gläser Bier, frisch gezapft. „Möchtest du ein Glas?“, fragt mich Tim*, ein aktiver Bursche der Verbindung. Ich lehne dankend ab. Das Verbindungshaus der Burschenschaft steht in einer Gegend der Stadt, in der normalerweise keine Studi-WGs zu finden sind. Imposante Steinbauten säumen die Straßen. Anwaltskanzleien und Architekturbüros, Villen und großzügige Vorgärten. Dazwischen das Verbindungshaus. Es fällt keineswegs aus der Reihe. Ein mehrstöckiges Haus, gestrichen in zartem Sandton, erbaut Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Momentan leben darin 16 junge Männer, die mitten im Studium stecken. Die Burschenschaft soll ein Bund fürs Leben sein. Doch was verbindet sie? Um Teil dieser Verbindung sein zu dürfen, gelten grundsätzlich drei Voraussetzungen: männlich, eingeschriebener Student an einer Hochschule, deutsch.

Die bösen Burschenschaften?

„Wenn ich neue Leute kennenlernen, benutze ich lieber das Wort Studentenverbindung statt Burschenschaft“, erzählt mir Tim. Er hat dunkles Haar und einen Schnurrbart. Bevor Tim auf Fragen antwortet, hält er manchmal kurz inne, um zu überlegen. Er drückt sich gewählt aus, ohne dass es aufgesetzt wirkt. Es passt zu Tim. Da überrascht es auch nicht, dass Tim mit dem Amt als Pressesprecher die wichtigste repräsentative Aufgabe der Burschenschaft übernimmt. „Burschenschaft hat für die Leute immer so eine negative Konnotation, besonders wenn sie erfahren, dass wir eine pflichtschlagende Burschenschaft sind“.

Das Kopfgitter schützt das Gesicht während des Trainings. Während einer Mensur wird kein Kopfschutz getragen.

Pflichtschlagend bedeutet, dass alle Mitglieder eine Pflichtmensur schlagen müssen. Darauf bereiten sie sich während der Fuchsenzeit vor und werden von einem Fechtmeister trainiert. Die Fuchsenzeit beschreibt die Probezeit eines Burschen, bevor er quasi ein vollwertiges Mitglied der Verbindung wird. Der Sinn dahinter ist mir unklar. „Das stärkt den Zusammenhalt. Ich weiß, jeder Bundesbruder würde theoretisch seine körperliche Unversehrtheit für die Verbindung riskieren“, erzählt Tim während er mir einen Degen in die Hand gibt. Wir stehen im Übungsraum, hier bereiten sich die Füchse auf ihre Mensur vor. Der Degen fühlt sich gar nicht so schwer an. „Aber ernsthaft verletzen wird sich in den meisten Fällen natürlich niemand“, wendet Tim ein als er meinen irritierten Blick sieht. Er hängt den Degen zurück in eine Halterung an der Wand. Der Raum erinnert mich an den Kraftraum in der Sporthalle meiner alten Schule. Kahle weiße Wände, Milchglasfenster, die das Tageslicht schlucken und der leichte säuerliche Geruch von kaltem Schweiß, der sich in den Ecken einnistet. Nur die Einrichtung unterscheidet sich. Statt einer Hantelbank stehen zwei Fechtpuppen in der Mitte des Raumes. An den Wänden hängen neben den Waffen auch Kopfgitter und Schutzausrüstung. Und noch etwas ist hier anders. Es sticht sofort ins Auge, wenn man den Raum betritt. Eine Deutschlandflagge an der Wand. Nicht so groß wie die Flagge in der Küche, trotzdem sehr präsent. In diesem Raum scheinen sich zwei der drei Voraussetzungen wieder zu spiegeln. Testosteron geladene Degenkämpfchen unter der Deutschlandflagge – männlich und deutsch.

Frauen und Burschenschaften

Weiblich scheint hier eher fehl am Platz. Frauen dürfen schließlich kein Teil der Verbindung sein. „Willkommen sind sie natürlich trotzdem!“, fügt Tim beschwichtigend hinzu. Wir sind auf dem Weg in den Garten und trinken Cola mit Eiswürfeln. Inzwischen hat sich Benni* dazugesellt. Auch ein aktiver Bursche der Verbindung. „Warum ist das so?“, frage ich. Tim holt aus, erklärt mir, dass die Burschenschaft ihren Ursprung in einer Zeit hat, in der Frauen noch nicht studieren durften. Deshalb wurde die Burschenschaft als ein reiner Männerbund gegründet und an diesen Traditionen soll einfach weiterhin festgehalten werden. Aber warum? Im Jahr 2021 sind rund 49,3 Prozent der Studierenden weiblich. Ist das nicht unfair? Der Bursche verneint. Schließlich gäbe es ja auch eine Menge gemischter Verbindungen und Frauenverbindungen. Die Debatte, ob Frauen aufgenommen werden sollen, gab es in ihrer Burschenschaft noch nie.

Ich wende ein, dass die meisten Frauenverbindungen erst nach 2000 gegründet wurden, dementsprechend gar nicht so ein großes Netzwerk aufbauen konnten, wie es die Männerbünde meist haben. Außerdem existieren deutschlandweit gerade einmal 45 Damenbünde. Allein die Männerverbindungen der Unistädte Tübingen und Stuttgart zusammengenommen schlagen diese Zahl um ein Leichtes. Benni bestärkt Tim, sagt, dass Frauenverbindungen im Vergleich gar nicht so viel schlechter dastehen würden. „Das ist ein bisschen ein Mythos“, meint Benni. „Viele gemischte Verbindungen sind aus reinen Männerbunden entstanden. Die haben ein ähnliches Netzwerk und Größe wie die meisten reinen Männerbünde.“

Inwiefern es sich um einen Mythos handelt ist schwer zu beurteilen. In Deutschland haben sich 140 Männerbünde "geöffnet" und nehmen sowohl Männer als auch Frauen auf. Hier können Frauen von dem bestehenden Netzwerk profitieren. Reine Frauenverbindungen können sich nicht auf solch ein Netzwerk berufen, aufgrund ihrer jungen Geschichte, der geringen Anzahl an reinen Damenverbindungen und auch mangels Organisation der Damenkorporationen in eigenen Dachverbänden.

Die Burschenschaft verlasse ich mit gemischten Gefühlen. Die Jungs waren nett, entsprechen nicht wirklich dem radikalen Bild, welches manch eine YouTube-Doku vermittelt. Ich hatte das Gefühl, mich auf Augenhöhe mit ihnen unterhalten zu können. Die Gespräche waren locker, vom Uni-Alltag bis zum Lieblingsferienort. Teilweise hätte ich eine ähnliche Konversation genauso gut mit einer x-beliebigen Person in meinem Alter führen können. Trotzdem gab es auch einige Dinge, die befremdlich gewirkt haben. Zu behaupten, dass alle Mitglieder ein konservatives Weltbild teilen, wäre falsch. Trotzdem halten sie an Traditionen fest, die heutzutage nicht mehr zeitgemäß scheinen. Werte wie Zusammenhalt und Loyalität werden vermittelt, aber braucht es dafür wirklich ein Fechtduell?

Auch die schwammige Voraussetzung einer deutschen Identität kann ich nicht ganz einordnen. Deutsch sein ist auf jeden Fall ein Thema in der Verbindung. Es drängt sich nicht in den Vordergrund, aber übersehen kann man es durch die Deutschlandflaggen an den Wänden auch nicht. Die Verbindung begründet diese Voraussetzung deutsch zu sein darin, dass dadurch ein gemeinsames Werteverständnis und Identitätsgefühl entsteht. Ist ein deutscher Pass wirklich Grund dafür, ein gemeinsames Werteverständnis zu teilen? Was bedeutet es dann überhaupt, deutsch zu sein? Entscheidet darüber der Besitz eines Passes?

Was bedeutet deutsch sein?

Es ist der Abend nach meinem Besuch in der Burschenschaft und ich sitze in meiner WG-Küche und spreche mit meinem Freund über den Nachmittag. Als Tim erwähnte, dass die Verbindungsmitglieder männliche, deutsche Studenten sein müssen, habe ich an ihn gedacht. Mein Freund heißt Ahmed, studiert an einer Hochschule, ist in der Nähe von Stuttgart geboren und aufgewachsen, aber hat keinen deutschen Pass – männlich, Student, aber nicht deutsch? Mal angenommen, er würde Mitglied in dieser Verbindung werden wollen: Ist er nicht deutsch genug?

Bis 2000 galt in Deutschland ausschließlich das Abstammungsprinzip. Ein Kind wurde mit Geburt deutsch, wenn mindestens ein Elternteil deutsch war. War das nicht der Fall, bekommt das Kind die Staatsbürgerschaft der Eltern. Ergänzend zum Abstammungsprinzip gilt in Deutschland seit dem 1. Januar 2000 auch das Geburtsortsprinzip. Danach bestimmt nicht allein die Nationalität der Eltern eines Kindes seine Staatsangehörigkeit, sondern auch der Geburtsort.

Wir sitzen uns gegenüber. Fühlst du dich deutsch? Diese Frage zu beantworten ist gar nicht so einfach. Ich merke, dass er zögert. „Teilweise schon denke ich. Ich bin in Deutschland aufgewachsen, nicht in Bosnien. Ich habe mein ganzes Leben hier gelebt. Da fühle ich mich schon deutsch irgendwie.“ So richtig zufrieden scheint er mit dieser Antwort aber nicht zu sein. „Aber ich möchte ja auch nicht verstecken, wo meine Wurzeln liegen. Und ich habe ja auch keinen deutschen Pass. Offiziell bin ich also bosnisch.“

Obwohl er vor Einführung des Geburtsortprinzips geboren wurde, hat Ahmed natürlich trotzdem Anspruch auf einen deutschen Pass. Den bosnischen müsste er dann aber abgeben. Bosnien gehört nicht zu der EU und ist daher keine Option für eine doppelte Staatsbürgerschaft.

Mehr als nur der Pass

„Gefühlsmäßig macht es schon einen Unterschied, welche Staatsbürgerschaft ich offiziell besitze. Aber letztendlich ist es egal. Für mich gehört zum Deutschsein mehr dazu als der Pass.“ Für Ahmed hängt Deutschsein damit zusammen, wie man aufwächst. Dass man hier geboren ist, die Sprache beherrscht, hier zur Schule gegangen ist. In der deutschen Gesellschaft aufzuwachsen, färbt ab. Ob man bestimmte Werte teilt, hängt für ihn nicht vom Pass ab, sondern vielmehr, ob man mit ihnen aufwächst.

Ist deutsch sein also mehr ein Gefühl? Wie definieren andere junge Menschen deutsch sein?

Leo hat blondes kurzes Haar, blaue Augen und trägt eine Brille. In seinen Sätzen oder der Betonung hört man manchmal einen leichten ostdeutschen Dialekt durchklingen. Auf den ersten Blick könnte man sagen: Leo ist typisch deutsch. Die Frage, ob er sich auch deutsch fühlt, verneint er mit einem Kopfschütteln. Lieber bezeichnet er sich als Europäer, fühlt sich mit diesem Begriff irgendwie wohler. „Deutsch sein“ löst bei ihm ein komisches Gefühl aus, eine Art Ablehnung.  „Ich denke, ein Grund für dieses mulmige Gefühl ist auf jeden Fall die deutsche Geschichte, die historische Schuld. Aber auch die Region, in der ich aufgewachsen bin, spielt eine Rolle für mich.“ Denn dort war deutsch sein für häufig mit übermäßigem Patriotismus, teilweise schon Nationalismus gleichgesetzt.

Leo ist in Stollberg aufgewachsen. Mit dem Auto fährt man von dort circa 20 Minuten nach Chemnitz. Stollberg hat 11.116 Einwohner. In Stollbergs Stadtrat gibt es 22 Sitze. Drei davon gehen an die AfD. Drei an die Linke. Die restlichen Sitze werden von der Freien Wählerunion und der CDU belegt.

Das Flaggenthema"

Für Leo war der Rechtsdruck in seinem Heimatdorf auch im Alltag schon immer spürbar. Eine Reichsflagge im Vorgarten sei da nichts Ungewöhnliches, erinnert sich Leo mit einem ernsten Blick. „Man läuft durch die Stadt und biegt irgendwo vielleicht einmal zu viel ab und plötzlich hängt dort eine Reichsflagge und wird quasi geduldet und nicht entfernt“, erzählt er. Flaggen sind für ihn ein heikles Thema. Auch die Deutschlandflagge. Schwarz, Rot, Gold. Mit diesen Farben verbindet er ein intensives Nationalbewusstsein. Zu intensiv, für den Geschmack des Stollbergers. Er zieht für zwei Semester nach Stuttgart für sein Studium und das Thema deutsch sein spielt dort kaum noch eine Rolle. „Dort habe ich zum ersten Mal kaum Nationalbewusstsein gespürt. Könnte natürlich auch ein Großstadtding sein, aber wenn ich an Chemnitz denke ist es in meinem Alltag einfach nicht mehr so offensichtlich, weniger sichtbar.“

Leo ist mit seinem Gefühl nicht allein. Eine Studie der Identity Foundation Stiftung zum Thema deutsch sein zeigt, dass junge Deutsche sich weniger deutsch fühlen als ihre Eltern. Das Identifikationsgefühl findet sich vor allem bei den älteren Menschen. Knapp 60 Prozent der über 60-Jährigen fühlen sich sehr stark mit der Nation verbunden.

Die Vorrausetzung der Verbindung erscheint mir inzwischen sehr absurd. Eine wirkliche Richtlinie, was deutsch sein bedeutet, kann ich nicht erkennen. Die Gespräche haben einen kleinen Einblick gegeben: es ist möglich sich deutsch zu fühlen und deutsche Werte teilen, ohne einen deutschen Pass zu besitzen. Andererseits gibt es Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft, die jegliche Assoziationen, die mit dem Deutschsein einhergehen, ablehnen. Erneut wollte ich mit den Jungs aus der Verbindung sprechen, um mir ihre Meinung dazu anzuhören. Doch Tim lehnt ab. Das Thema deutsch sein war ihm zu heikel.

Deutschsein lässt sich nicht einfach zusammenfassen. Es ist ein sehr individuelles Gefühl. Egal wie intensiv das Gefühl ausgeprägt ist, finden sich gemeinsame Bestandteile in den meisten Identitätsvorstellungen. Sei es das historische Schuldbewusstsein, eine Verbundenheit zur Heimatregion, der Stolz auf eine häufig betonte hohe Arbeitsmoral oder ein unwohles Gefühl beim Erblicken einer Deutschlandflagge. Bei den einen mehr, bei den anderen weniger.

 

*Name geändert