„Fußball ist für mich einfach reine Leidenschaft.“
Zwei Ukrainer bleiben am Ball
Es ist ein milder Frühlingsabend beim SSV Zuffenhausen. Auf dem Kunstrasenplatz trainieren die Mannschaften für den bevorstehenden Spieltag. Während des Abschlussspiels findet ein Spieler mit einem schönen Pass auf die linke Außenbahn seinen Mannschaftskollegen, der den Ball nur noch ins Tor schieben muss. Die beiden freuen sich, grinsen sich an und klatschen ab. Es ist jedoch nicht selbstverständlich, dass Artur und Daniel wieder lachen können.
Anfang März sind die beiden mit ihren Familien aus der Ukraine geflohen, um dem dortigen Krieg zu entkommen. Sofort sind sie bereit, mit mir zu sprechen. Zuerst fachsimpeln wir unter Fußballbegeisterten noch ein wenig. Artur ist Fan von Real Madrid, Daniel von Paris Saint Germain. Schon in seiner Heimat hat Daniel aktiv Fußball gespielt, sogar in einer höheren Jugendliga. Dann wird es jedoch etwas ernster, als wir auf die vergangenen Wochen ihres Lebens zu sprechen kommen.
Artur kam mit seiner Mutter und der kleinen Schwester aus der südlichen Stadt Nikolaev, Daniel stammt aus der Hauptstadt Kiew. Da Daniels Vater ursprünglich aus Nigeria kommt und keinen ukrainischen Pass besitzt, konnte er zusammen mit der Familie fliehen. Alle volljährigen ukrainischen Männer dürfen momentan das Land nicht verlassen, da sie im Krieg kämpfen müssen. Neben seinem Vater kamen auch noch Daniels Mutter, Tante, Oma und der Familienhund mit. „Es war klar, dass wir nur zusammen das Land verlassen wollen“, erzählt seine Mutter Natalia, die beim Training ihres Sohnes zusieht.
Eine lange Odyssee
Das Land zu verlassen, stellte sich anfangs jedoch als große Herausforderung dar. Ein Zug nach Warschau war schon gebucht – ist aber nie abgefahren. So harrte Daniels Familie tagelang im Keller ihres Hauses oder in Bahnhöfen aus, um sich vor russischen Bomben zu schützen. Als dann kurzfristig in einer Nacht ein Zug in das westukrainische Lwiw abfuhr, zögerten sie keine Sekunde. Dort angekommen, musste Daniel die restlichen 70 Kilometer nach Polen zu Fuß gehen, bevor das rettende Ufer erreicht war.
Nach weiteren fünf Tagen in einem polnischen Flüchtlingslager ging es dann über Berlin nach Stuttgart, wo Daniels Familie seit einigen Wochen in einem Hotel untergekommen ist. Von Anfang an trafen sich die Jugendlichen dort nahezu täglich auf einem Bolzplatz. Als aber der Zuffenhausener Jugendtrainer Mustafa Gürbüz zum Hotel kam und die Jungs einlud, in seiner A-Jugend mitzuspielen, waren Artur und Daniel sofort Feuer und Flamme.
Seitdem dürfen die beiden umsonst beim SSV mitspielen. Daniel hat in einem Spiel sogar schon ein Tor erzielt, erzählt seine Mutter stolz. Schon in der Heimat hat sie ihren Sohn zu jedem Training und jedem Spiel begleitet. Seine Fußballschuhe hat sie ihm extra in Deutschland gekauft. „Die sind hier deutlich teurer als in der Ukraine“, stöhnt sie. Beim Trainingsspiel fiebert Natalia mit und lächelt, wenn ihr Sohn einen schönen Pass spielt. Als Daniel dann nach einem Dribbling auch noch trifft, unterbricht sie unser Gespräch kurz und klatscht Beifall.
„Fußball ist für mich einfach reine Leidenschaft“, schwärmt Artur, der in seiner Heimat nie fest in einem Verein gespielt hat, seine Nachmittage aber fast immer auf Bolzplätzen verbrachte. „Wenn man im Team zusammenspielt, baut man Bindungen untereinander auf.“ Das regelmäßige Training helfe ihm körperlich, aber auch psychisch enorm.
Gürbüz übernimmt nun die Fahrdienste vom Hotel zu den Trainings und Spielen. „Von der Mannschaft wurden sie sofort gut aufgenommen“, berichtet er. Als ihn eine Mitarbeiterin der Stuttgarter Integrationsstelle fragte, ob er ukrainische Jungs in sein Team aufnehmen könne, war er sofort bereit. Für den Experten Dominik Hermet vom Sportkreis Stuttgart ist eine solch offene und aktive Herangehensweise beispielhaft für gute Bemühungen bei der Integration von Geflüchteten.
Der Fußball ist fest in den Alltag der beiden Jungs eingebunden. Nach dem Frühstück haben sie momentan über Zoom Online-Unterricht in ihren alten Schulklassen, die sich durch die Flucht weit verstreut haben. In der vielen Freizeit danach besteht auch die Gefahr, dass Erinnerungen von den schlimmen Ereignissen aus der Heimat zu präsent werden. „Hier können sie mal auf andere Gedanken kommen“, sagt Gürbüz.
Für den Abteilungsleiter Fußball Aleksandar Tosic ist es selbstverständlich, dass Spieler*innen mit verschiedensten Hintergründen zusammenspielen: „Wir Fußballer haben eine eigene Sprache. Wenn jemand mit Fußballschuhen auf den Platz kommt, ist er dabei – egal welche Herkunft, Religion oder Hautfarbe.“
Immer wieder prägende Erfahrungen
Wie so viele Amateurteams ist auch die erste Mannschaft des SSV Zuffenhausen ein bunter Haufen. In den vergangenen zwei Jahren sind gut ein Dutzend Geflüchtete dazugestoßen, die auf dem Platz trotz unterschiedlichster Schicksale eine Einheit bilden. Besonders in Erinnerung geblieben ist Tosic das Tor eines Spielers aus Kamerun. „Er war ganz frisch da, hat sein erstes Spiel für uns gemacht. Dass er dann direkt auch trifft, hat uns alle unheimlich gefreut – für ihn war das ein riesiges Erlebnis.“
Dass Fußball dabei helfen kann, Geflüchtete in die Gesellschaft zu integrieren, ist auch Dominik Hermet bewusst. Beim Sportkreis Stuttgart ist er über die Geschehnisse in den Sportvereinen der Region bestens informiert. Er berichtet von der Flüchtlingskrise im Jahr 2015, als unzählige Menschen aus dem Nahen Osten nach Deutschland kamen.
Von diesen Erfahrungen könne man jetzt profitieren. Daher ist Hermet optimistisch, dass die Vereine auch die Flüchtlingswelle aus der Ukraine gut meistern werden. „In den Vereinen herrscht eine große Offenheit. Ich denke, dass wir es dieses Mal sogar einfacher haben“, blickt er voraus.
Für Artur und Daniel ist derweil längst noch nicht alles gut. „Die Sprache ist sehr schwierig hier“, sagt Artur und fügt hinzu: „Dazu sprechen nicht alle Menschen Englisch.“ Daniels Mutter bemüht sich schon seit Wochen um eine eigene Wohnung, findet aber keine. Auch die Suche nach einer deutschen Schule wird dadurch gehindert. „Wenn Daniel jetzt auf eine Schule geht und ich dann woanders eine Wohnung finde, wäre das schade“, sorgt sich Natalia. Das Leben im Hotel ist für die Familie verständlicherweise keine Dauerlösung.
Der Wunsch nach Frieden
Während sich ihre Eltern um derartige „Erwachsenenprobleme“ sorgen, verbringen Artur und Daniel ihre Zeit mit Fußball. Die Übungen im Training muss ihnen niemand erklären. Nach einem Durchgang ist klar, was gemacht werden muss, die Jungs zeigen bei jedem Ball vollen Einsatz. In den Pausen unterhalten sie sich, witzeln auf ukrainisch.
Doch trotz allem haben auch sie nur einen Wunsch: „Der Krieg soll aufhören, wir wollen Frieden“, sind sich die beiden einig. Ob sie in Zukunft wieder in die Ukraine zurückkehren, werden sie erst überdenken, wenn es in ihrer Heimat wieder sicher ist. Bis dahin wird mit dem Fußball wenigstens eine Konstante in ihrem Leben bleiben.