„Diese Kunst kann ich morgens auf dem Weg zum Bäcker oder auf dem Weg ins Büro einfach entdecken und muss nichts gezielt ansteuern.”
Wenn die Öffentlichkeit zur Leinwand wird
So kann man es sich vorstellen: Die Kinder New Yorks tummeln sich auf dem zwischen hohen Gebäuden eingekeiltem Loreto Playground in der Bronx. Lachend rennen sie umher, bis sie auf eine bunte Blume stoßen. Doch es ist keine gewöhnliche Blume, sondern ein, in das den Spielplatz umgebende Gitter, gehäkeltes Kunstwerk. Dass auch Kinder und andere Passant*innen Zugriff auf das Kunstwerk „Morris Park Flowers” von Ruth Marshall haben, ist dabei nicht unabsichtlich. „Kunst im öffentlichem Raum ist unmittelbar, sie erscheint mir direkt; manchmal auch ohne Ankündigung. Es ist ein Überraschungsmoment und ein freudiger Moment im Alltag”, erklärt Tosin Stifel, die Fachbereichsleiterin der Kunst im öffentlichen Raum im Kulturamt Stuttgart (KiöR). Ob in der Großstadt New York oder im Kessel Stuttgarts - es finden sich immer mehr Kunstwerke an allen möglichen Orten im öffentlichen Raum. Trends, wie das Einhäkeln von öffentlichen Gegenständen, wie Bäume, Zäune oder Parkbänke verbreiten sich beispielsweise von New York ausgehend bis über die ganze Welt. Mit einer offiziellen Anmeldung und Genehmigung dürfen Künstler*innen ihre Kunstwerke ausstellen. Heutzutage kann öffentliche Kunst Vieles umfassen: von Performances über Architektur, Bildhauerei und Malerei bis hin zu Installationen und weitere Arten der zeitgenössischen Kunst.
Große Freiheit, große Verantwortung
Die Kunstwerke sind dabei nicht nur zur Verschönerung gedacht. Vor allem sollen sie auch eine gewisse Botschaft aussenden. Sie sind für jeden direkt sichtbar. Das bringt laut Tosin Stifel Freiheit und gleichzeitig große Verantwortung. Kunstprojekte werden oftmals prozesshaft entwickelt: Künstler*innen setzen sich mit einem gesellschaftlichen oder politischen Thema auseinander. Dazu arbeiten sie häufig mit Menschen zusammen, die an einem bestimmten Ort leben oder von einem bestimmten Thema betroffen sind. Kunst im öffentlichen Raum soll Begegnungs- und Kommunikationsräume schaffen. Betrachtende sollen mit einbezogen und zum Nachdenken gebracht werden. Aktuell werden die verschiedensten politischen und gesellschaftlichen Bewegungen auch in der Kunst im öffentlichen Raum thematisiert. Tosin Stifel erzählt von Kunst, die sich mit der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit von Stuttgart beschäftigt oder mit der Stadtentwicklung oder Nachhaltigkeit. Viele Kunstprojekte würden auch grundsätzlich von Machtsystemen handeln. Dann geht es um das Leben der queeren Community oder um Frauen, die in bestimmten Systemen diskriminiert werden.
Die Künstlerin Ülkü Süngün aus Stuttgart und bezeichnet sich selbst als Bildhauerin, die künstlerisch im Kontext von politischen Zusammenhängen arbeitet. Sie sieht in Kunst im öffentlichen Raum, die beispielsweise Rassismus thematisiert, eine große Wichtigkeit, weil damit Erinnerungsorte oder „Orte der Aufarbeitung” für Betroffene geschaffen werden können. „Das hat eine ganz große Wirkung in die Gesellschaft hinein, da besteht auch fast schon ein geschichtlicher Bildungsauftrag.”
Doch wird Kunst im öffentlichen Raum auch von den Bürger*innen gesehen? Tosin Stifel wünscht sich mehr Resonanz außerhalb der Kunst- und Kulturszene. „Unsere Verantwortung ist es auch, Menschen zu erreichen, die vielleicht nicht so kunst- und kulturaffin sind. Und da ist das Feedback bisher eher auf die klassische Kunst im öffentlichen Raum, also auf die Skulpturen und Plastiken, bezogen.” Der Unterschied zu Kunstausstellungen in Museen und anderen Kunsträumen: „Diese Kunst kann ich morgens auf dem Weg zum Bäcker oder auf dem Weg ins Büro einfach entdecken und muss nichts gezielt ansteuern”, sagt Stifel. Sie betont, man müsse kein Kenner sein, um Kunst im öffentlichen Raum zu erleben.
Der Schauplatz der Szene
Im Gegensatz zu Stuttgart ist die öffentliche Kunst in New York City schon lange in der Gesellschaft etabliert: Die Bewegung hat sich dort seit den 1970er Jahren besonders stark entwickelt. Die Stadt gilt somit als eine Art Vorreiter der Szene der Kunst im öffentlichen Raum und durch die Beobachtung der Entwicklung der Kunst im öffentlichen Raum in New York City lassen sich einige Schlüsse auch auf die Szene in den Großstädten Deutschlands ziehen. Denn Kunstinstallationen und ähnliche Werke sind dort seit Beginn des Jahrhunderts zunehmend zu einem Bestandteil der Stadtgestaltung geworden. Das New York City Department of Parks and Recreation hat seit dem Jahr 2000 alle offiziell bei der Stadt angemeldeten Kunstausstellungen in Parks und auf anderen öffentlichen Plätzen dokumentiert. Die Zahlen zeigen eine klare Entwicklung: In den Jahren 2000 bis 2002 gab es insgesamt nur 16 offiziell angemeldete Kunstwerke, 2023 zählt das Department ganze 151 Exponate. In den letzten zehn Jahren hat sich die Anzahl der jährlich ausgestellten Kunstwerke ziemlich genau verdoppelt.
Laut unserem Datensatz hat sich die Anzahl der Kunstwerke im öffentlichen Raum in New York während Corona verringert. Für den Gemeinderat in Stuttgart war die Pandemie allerdings ein Zeichen. So beauftragen sie Tosin Stifel und stellen seit 2022, erstmals 2018, mehr Gelder zur Verfügung, um die Kunst erhalten und Projekte im öffentlichem Raum fördern zu können. Seitdem ist auch die verfügbare Summe für Kunstrestaurationen gestiegen.
Eine besondere Rolle in der Kunstszene des öffentlichen Raums scheint der Stadtteil Manhattan zu spielen. Dort befinden sich in ausnahmslos jedem Jahr die meisten Kunstwerke. Und das, obwohl Manhattan mit einer Fläche von 59,5 km² und 1,6 Millionen Einwohner*innen der kleinste der fünf New Yorker Stadtteile ist. Der größte Bezirk, Queens, hat mit 282,9 km² eine mehr als fünfmal so große Fläche und beheimatet über 2,2 Millionen Einwohner*innen, kommt in der Regel aber nur auf ein Drittel bis die Hälfte der Kunstwerke in Manhattan. 2023 waren in Manhattan 92 Werke im öffentlichen Raum ausgestellt, in Queens hingegen nur 29. Im Jahr 2019 ist der Unterschied mit 90 zu 19 Exponaten besonders hoch. Im Stadtteil Staten Island sind jährlich nur zwei bis drei temporär ausgestellte Kunstwerke angemeldet, allerdings hat der Bezirk mit 470 Tausend Personen die mit Abstand wenigsten Bewohner*innen.
Kunst im öffentlichen Raum liegt also im Trend – nicht nur in New York, sondern in vielen Städten, auch in Stuttgart. Die Stadt wird dabei zu einem großen Freilichtmuseum mit wechselnden Ausstellungen. Die jeweilige Stadtverwaltung koordiniert diese und fördert bestimmte Kunstwerke. Stuttgart hat dazu ein spezielles Kunstförderprogramm für öffentliche Räume entwickelt, um die Kunst in öffentlichen Räumen zu stärken. Dabei werden Projekte nach bestimmten Richtlinien ausgewählt. „Projekte, die rein künstlerisch sind, haben auch ihre Relevanz. Aber wir wollen, dass sich die Künstler*innen mit der Gesellschaft auseinandersetzen”, so Stifel. Die Kunst soll zudem unter anderem einen Ortsbezug haben und sich mit der Stadt beschäftigen. Das Ziel ist es, möglichst unterschiedliche künstlerische Positionen zu fördern.
„Kunst im öffentlichen Raum wird mehr, weil wir mehr Geld dafür haben“, so Stifel. Sie entscheidet als Jury-Mitglied des Programms darüber, wer Fördermittel erhält. „Vor dem Programm gab es für die Pflege und Restaurierung von Kunstobjekten pro Jahr 13 Tausend Euro. Man konnte damit eines von 100 Kunstwerken pflegen und reinigen. 2018 gab es dann den ersten Fördertopf, mit dem man bewusst Kunstobjekte im öffentlichen Raum unterstützt hat.“ So wurde im Jahr 2023 im Rahmen des neuen Programms über eine halbe Million Euro für Kunstförderung in Stuttgart zur Verfügung gestellt und die 27 Projekte mit durchschnittlich rund 20 Tausend Euro gefördert.
Platzmangel zwingt Kunstschaffende zum Ausweichen
Die treibende Kraft hinter der Entwicklung seien laut Stifel die Kunstschaffenden. Neben der wachsenden Szene für Kunst im öffentlichen Raum sieht sie auch eine andere Entwicklung: „Der Platzmangel, den es in Stuttgart, aber auch in anderen großen Städten gibt, trägt seinen Teil dazu bei, weil es immer weniger Aufführungsorte gibt. Es gibt immer weniger Kunstorte, die günstige Mieten haben, sodass viele auch gezwungenermaßen in den öffentlichen Raum gehen mussten.“ Der öffentliche Raum sei demnach auch Ersatz für Kunst- und Begegnungsräume geworden.
Für die Jury des Förderprogramms sei Kunstfreiheit dabei ein hohes Gebot. Trotzdem befürchtet die Künstlerin Ülkü Süngün, dass die Diversität der Kunst nicht immer gewährleistet wird. Laut ihr gebe es eine Tendenz zur Entpolitisierung. „Bei was Süßem sind alle dabei. Etwas Sperriges, da wird es schwierig. Ein kleiner süßer Delfin oder ein kleines Bärchen, das erregt keine Gemüter und damit kann man beruhigen und Konflikte wegnehmen.”
„Bei was Süßem sind alle dabei. Etwas Sperriges, da wird es schwierig.”
Ob in Stuttgart oder New York – Die Daten zeigen, Kunst im öffentlichen Raum breitet sich aus und gewinnt an Beliebtheit. Es geht um Stadtgestaltung und künstlerische Botschaften an die Gesellschaft. Denn das Besondere an der Kunst im öffentlichen Raum ist, sie kann Bewegungen und Minderheiten eine Stimme geben, vor allem aber ist sie unmittelbar für alle zugänglich.