„Ich habe mich so entblößt gefühlt, weil ich durch die kahlen Stellen einfach aufgefallen bin.“
Haarlosigkeit von klein auf: Bin ich falsch?
Zwei Körper beugen sich über sie, vier Hände wuscheln hektisch in ihren Haaren herum. Sie sitzt auf dem Sessel im Badezimmer, regungslos, lässt es über sich ergehen. Sie versteht nicht richtig, was passiert – sie ist zu jung. Unmissverständlich ist der Scannerblick der Eltern, die ihre Augen nicht mehr von ihr nehmen. Das Gefühl von Scham breitet sich im Raum aus und liegt immer schwerer in der Luft. Es ist das erste Mal, dass ihr der Gedanke in den Kopf schießt: Irgendetwas stimmt nicht mit mir. Es ist der Beginn einer Odyssee an Arztbesuchen.
Katharina Mühl, gebürtige Wienerin, ist seit ihrem vierten Lebensjahr von Haarlosigkeit betroffen. Anfangs bilden sich münzgroße, kreisförmige, haarlose Stellen auf ihrem Kopf. Die Diagnose: Alopecia Areata – kreisrunder Haarausfall. Es handelt sich um eine Autoimmunkrankheit, bei welcher das Immunsystem durch eine „Fehlinformation“ die eigenen Haarwurzeln angreift und zerstört. Bei 50 Prozent der Betroffenen entwickeln sich nur wenige kahle Stellen, die spontan wieder zuwachsen. Bei schlimmeren Verläufen können jedoch alle Kopfhaare sowie auch die Köperbehaarung ausfallen. Dann wird von einer Alopecia Totalis oder Alopecia Universalis gesprochen. Es dauert etwa 25 Jahre lang, bis Katharina ihr gesamtes Kopfhaar inklusive Augenbrauen verliert. Auch wenn Alopecia keine körperlichen Beschwerden mit sich bringt und überwiegend ein „kosmetisches Problem“ ist, leiden viele Betroffene psychisch unter dem Haarverlust. Vor allem in ihrer Kindheit und Jugend fühlt sich Katharina häufig als Anschauungsobjekt: „Ich habe mich so entblößt gefühlt, weil ich durch die kahlen Stellen einfach aufgefallen bin.“
Optimieren ist keine Kinderliebe
Unser Selbstwertgefühl entwickelt sich bereits im mittleren bis älteren Kindesalter, zwischen acht und 12 Jahren. Psycholog*innen vom Forschungsinstitut für Kindesentwicklung und Bildung an der Universität Amsterdam haben herausgefunden, dass ein Kind sein Selbstwertgefühl von Anfang an am meisten mit seinem Äußeren verknüpft. Die eigenen Fähigkeiten oder sozialen Beziehungen spielen eine untergeordnete Rolle. Das Gemeine an „optischen Makeln“? Sie sind besonders unkontrollierbar und drücken auf die Selbstbewusstseins-Drüse. Auch bei Katharina führt die krankheitsbedingte Haarlosigkeit als Kind zu Schüchternheit und Unsicherheit. Die Angst vor blöden Kommentaren plagt sie ständig. Der Weg zur Volksschule ist alles andere als leichtfüßig. Sie hofft, nicht angesprochen zu werden, unsichtbar zu sein. Doch dann entdecken sie die Jungs aus der Hauptschule von nebenan: „Ist bei dir der Friseur ausgerutscht?“, rufen sie ihr entgegen. Katharina ist zutiefst gekränkt. Von nun an fürchtet sie tagtäglich den Jungs auf dem Schulweg zu begegnen. Einmal öffnet sie dem Postboten die Tür. „Du schaust ja aus wie ein Mönch“, sagt der wildfremde Mann zu ihr. Auch die eigene Familie macht nicht Halt vor unangemessenen Äußerungen. An Weihnachten möchte Katharina ohne Perücke auf das Familienfoto. Ihre Oma erwidert: „Du hast so ein schönes Kleid an, zieh dir doch auch noch die Perücke auf.“ Katharina fühlt sich wie eine wandelnde Zielscheibe: „Diese Kommentare waren wie Pfähle in mein Herz.“
„Für ein Kind ist grundsätzlich nichts komisch oder falsch“, erklärt Jessica Gau, Heilpraktikerin für Psychotherapie. Wenn da nicht das Umfeld wäre, von welchem das Kind durch genaue Beobachtung lernt. „Wenn Bezugspersonen, wie Großeltern, ständig auf den „optischen Makel“ reagieren und ihn besonders hervorheben, speichert das Kind ab: Ich bin falsch, ich muss mich verändern.“ Logischerweise könne sich das Kind jedoch nicht den Kopf abschrauben und ihn neu draufsetzen. „Dann kann es passieren, dass das Kind schüchtern wird, eine soziale Phobie entwickelt und sich am liebsten mit Handtuch über dem Kopf in die Ecke zurückzieht“, ergänzt Gau.
„Solange ein Soll-Zustand zu Hause aufrechterhalten wird, hat das Kind keine Chance, die Souveränität zu entwickeln, auf unangemessene Kommentare reagieren zu können.“
In Deutschland sind ungefähr 1,5 Millionen Menschen von Alopecia Areata betroffen. Bislang ist die Ursache der Krankheit nicht bekannt. Psychischer Stress, Infektionen oder die Genetik können mögliche Auslöser sein. Die Behandlungsmöglichkeiten sind ebenfalls begrenzt. Viele Betroffene schmieren Kortison auf die kahlen Stellen. Bei Katharina schlägt diese Behandlungsmethode als Kind nicht an. Ihre Mutter sucht einmal wöchentlich das Wiener Allgemeine Krankenhaus (AKH) mit ihr auf, um eine „topische Immuntherapie“ durchzuführen. Hierbei wird gezielt eine allergische Reaktion hervorgerufen, um neues Haarwachstum anzuregen – vergebens. Auf medizinischer Ebene unterstützen Katharinas Eltern sie. Sie betonen immer wieder, dass alles nicht so schlimm sei und sie das schon wieder hinbekommen würden. Bei Katharina entsteht dadurch jedoch ein ungutes Gefühl. Sie hätte es gebraucht, dass ihre Eltern ihre Gefühle mehr validieren, im Sinne von „es ist in Ordnung, dass du Angst hast und dich schlecht fühlst“. „Es hat sich angefühlt, als wollten mir meine Eltern diese Gefühle wegnehmen“, beschreibt Katharina. Die Reaktion der Eltern war gut gemeint – laut Gau jedoch trotzdem die falsche. Es handle sich um falsch verstandene elterliche Fürsorge. Aussagen wie „wir kriegen das schon wieder hin“ würden erneut implizieren, dass der Ist-Zustand ungenügend sei und ein anderer Soll-Zustand erreicht werden müsse. Stattdessen müsse man dem Kind das Gefühl geben: „Ich werde angenommen, wie ich bin“, damit es mit der Zeit selbstbewusst agieren kann. „Solange jedoch der Soll-Zustand zu Hause aufrechterhalten wird, hat das Kind keine Chance, die Souveränität zu entwickeln, auf unangemessene Kommentare reagieren zu können“, so Gau.
Als Kind findet Katharina zu Hause eine schwarze Perücke mit langen, geflochtenen Zöpfen, die sie sich manchmal aufsetzt. Verkleidet als Indianerfrau träumt sie davon, wie es wäre, wenn sie Haare zum Stylen hätte. „Lange Haare sind schon auch ein Weiblichkeitssymbol, sexy und erotisch“, sagt Katharina. Mit 13 Jahren trägt sie dann ihre erste richtige Perücke, die sich wie ein Schutzschild für sie anfühlt: „Ich habe aufgehört, mich vor blöden Kommentaren zu fürchten.“ Katharina freut sich, bekommt sogar Komplimente vom anderen Geschlecht. Sie sähe aus wie Julia Roberts, sagt jemand zu ihr. Durch die Perücke fällt Katharinas Haarlosigkeit den meisten Menschen nicht mehr auf: „Dann bin ich einfach wie die Masse“, erklärt sie. Doch nicht alle Kinder und Jugendliche mit einem „optischen Makel“ können diesen auch „verstecken“. In Deutschland erleiden jedes Jahr in rund 6.000 Familien Kinder unter 15 Jahren eine schwere Brandverletzung. Die Narben hinterlassen sichtbare Spuren, denen die Kinder lebenslang ausgesetzt sind. Eine weitere Erkrankung, die gerade im jungen Alter aufgrund der optischen Sichtbarkeit zu psychischen Belastungen führen kann: Akne. Laut einer kanadischen Studie der Universität Calgary von 2018 erhöhen die Pickelmale sogar das Risiko für Depressionen bei jungen Menschen.
Die Macht des „Outings“
Samstagabend: Katharina ist 16 Jahre alt und knutscht mit ihrem ersten Freund mitten auf dem Dancefloor herum. Immer wieder versucht er ihr beim Küssen in die Haare zu greifen, während Katharina damit beschäftigt ist, möglichst unauffällig seine Hand von ihren Haaren fernzuhalten. Ihre Gedanken kreisen schon längst nicht mehr ums Küssen. Vielmehr sind sie bei der Angst, dass er womöglich gleich ihre Perücke in der Hand hält. Dabei weiß er noch nicht einmal, dass sie keine Haare hat. Die Stimmen in ihrem Kopf werden lauter, bis sie abbricht – und Klartext spricht. Sie holt weit aus, erklärt, dass sie eine Krankheit hat. Die Geschichte bauscht sich so weit auf, dass ihr Freund denkt, Katharina sei kurz vor dem Sterben. Als er erfährt, dass sie „nur“ keine Haare hat, ist er erleichtert. Seine Reaktion ist das Allerschönste, was sich Katharina hätte vorstellen können: „Ich liebe dich, und nicht deine Haare“. Den „rosa Elefanten im Raum anzusprechen“ und sich „zu outen“, ist laut Gau genau die richtige Strategie, um Peinlichkeiten zu überwinden und das „Mysteriöse“ aus der Welt zu schaffen. Nicht nur Menschen mit einem anderen optischen Erscheinungsbild leiden unter ihrer Andersartigkeit. Schätzungsweise ein bis zwei Prozent der Bevölkerung fühlen sich in ihrem Geschlecht nicht wohl. Auch Menschen mit einer sexuellen Orientierung jenseits der Heterosexualität haben vor allem in jungen Jahren immer wieder das Gefühl „falsch“ zu sein. Die Zahlen zeigen: Ansprechen kann helfen. Im internationalen Durchschnitt haben sich 44 Prozent im Job geoutet und fühlen sich wohl damit. Hingegen fühlen sich nur acht Prozent unwohl mit dem Outing. Ähnliches gilt für das Verstecken von optischen Makeln. „Verbalisieren nimmt immer Druck raus“, rät Gau.
„Ich habe mein Glück selbst in der Hand, unabhängig von meinem Außen.“
Auch wenn Katharina von der Familienseite wenig Rückenwind bekommt, helfen ihr andere Faktoren, um die Krankheit anzunehmen. Ihre Partner und Freundinnen sind durchweg treue Weggefährt*innen. Eine wichtige Stütze erhält Katharina damals außerdem von ihrer Therapeutin, welche sie wirksam „kräftigt“. Mittlerweile arbeitet Katharina seit acht Jahren als selbstständige Glückscoachin. Ihre Haarlosigkeit war unter anderem ein Auslöser, um sich der positiven Psychologie zuzuwenden. Sie erkennt: „Ich habe mein Glück selbst in der Hand, unabhängig von meinem Außen.“ Im Jahr 2021 wagt Katharina den Schritt in die Öffentlichkeit und postet ein haarloses Bild auf Social Media. Es folgen die ersten Fernsehauftritte, unter anderem beim Österreichischen Rundfunk. „Wünschst du dir deine Haare wieder zurück?“, fragt die Redakteurin Katharina im Interview. Katharina antwortet auf die Frage mit einem klaren „Nein“ und schickt den Beitrag ihren Großeltern. Doch das Feedback fällt wieder einmal unerwünscht aus: „Wir hoffen, dass es irgendwann doch noch eine Therapie für dich gibt“, heißt es in der Antwort. Katharina ist wütend: „Sie haben überhaupt nicht verstanden, was meine Message war. Das kotzt mich dermaßen an.“ Ihr inneres Kind wird getriggert. Wieder einmal kommt bei Katharina der Tenor an: „Ohne Perücke bin ich weniger hübsch, falsch und muss mich rechtfertigen.“
Zwei Hände werkeln an ihrem Kopf herum. Sie spürt die Borsten des Pinsels. Dieses Mal ist es eine professionelle Visagistin, die Katharinas Glatze so schminkt, dass sie nicht glänzt. Katharina schaut in den Spiegel und fühlt sich ohne Perücke hübsch – bereit, für den großen Auftritt im Fernsehen. Katharina hat sich inzwischen mit ihrer Mentaltrainer-Ausbildung selbst die Skills angeeignet, die sie als Kind gebraucht hätte, um schlagfertig reagieren zu können. Sie lebt glücklich mit ihrer Haarlosigkeit, denn sie ist ein Markenzeichen von ihr geworden.