Die Big Five – Eine Regel zum Scheitern verurteilt?
Was haben Spanien, Italien, Frankreich, das Vereinigte Königreich und Deutschland gemeinsam? Richtig. Keines dieser Länder muss sich im Halbfinale des Eurovision Song Contests gegen rund 31 Konkurrenten durchsetzen. Stattdessen sind sie jedes Jahr aufs Neue direkt für das Finale qualifiziert. Und das schon seit geraumer Zeit. 1996 führte der norwegische Fernsehsender NRK die sogenannte Big-Five-Regelung ein. Nachdem sich Deutschland nicht für das Finale qualifizieren konnte, waren die Einschaltquoten massiv eingebrochen. Doch nicht nur die Sicherstellung hoher Zuschauerzahlen ist ausschlaggebend für diese Sonderregelung, sondern auch die finanziellen Beiträge der fünf Länder an die European Broadcasting Union (EBU) sind ein wichtiger Faktor.
Die Diskussion um diese Vorgehensweise ist groß. Kritiker, wie die ESC-Managerin Ebba Adielsson, meinen, dass der fehlende Auftritt der Big Five im Halbfinale ungerecht sei. Publikumslieblinge würden sich früh abzeichnen. Zusätzlich würde sich die Benachteiligung klar an den schlechten Platzierungen der Big Five zeigen. Bislang wurden die Songs der Big Five lediglich in kurzen Clips in den Halbfinal-Pausen angeteasert. Dann die Änderung: Seit 2024 dürfen Deutschland und Co. auch im Halbfinale auftreten. Sie sind trotzdem weiterhin für das Grand Final gesetzt.
Waren die Big Five in der Vergangenheit wirklich benachteiligt? Führt die neue Regelung nicht sogar zu weiteren Ungleichheiten?
Fluch und Segen zugleich
Der diesjährige deutsche Teilnehmer ISAAK musste nicht um den Einzug ins Finale bangen. Mit seinem Song „Always on the run“ erreichte er im Grand Final den zwölften Platz – die beste deutsche Platzierung seit 2018. Für ihn galt bereits die neue Halbfinal-Regelung. In der Vergangenheit kamen die deutschen Musiker*innen nicht besonders gut beim internationalen Publikum an. In den letzten 10 Jahren landeten sie siebenmal auf Platz 25 oder schlechter. Bei den Wettbewerben seit 1975 belegt Deutschland durchschnittlich den 13. Platz. Eine ähnliche Platzierung erzielten auch die anderen Big Five Länder, mit Ausnahme von Italien. Hierbei ist zu erwähnen, dass Italien erst seit 2011 zu den Big Five Ländern zählt und sich in den Jahren zwischen 1998 und 2010 dafür entschied, nicht am ESC teilzunehmen.
Seit Einführung des Halbfinales fällt auf, dass alle „Big Four“-Länder durchschnittlich schlechter platziert sind, als in den Jahren vor Einführung der Semifinalen. Großbritannien, ein zuvor erfolgreicher ESC-Kandidat mit fünf Titeln, landete ganze acht Plätze weiter hinten. Insgesamt schneiden die Big Five Länder seit 2004 um 4,2 Plätze schlechter ab.
Seit 1975 hat sich die Teilnehmeranzahl im ESC-Finale kaum erhöht, weshalb sich die Daten gut vergleichen lassen. Zuvor gewannen die Big Five deutlich häufiger den Wettbewerb, was jedoch der niedrigen Teilnehmerquote zu verdanken war.
Ganz besonders auffällig ist auch, dass die Big Five Länder häufig auf dem letzten Platz landen. Seit Einführung der Semifinalen enden sie etwa jedes zweite Mal als Schlusslicht. Verglichen mit der gesamten ESC-Geschichte seit 1957 belegten sie seit 2004 mehr als doppelt so oft den letzten Platz.
Hängt die Platzierung ISAAKs nun mit der neuen Regelung zusammen? Die Daten zeigen, dass sich die Platzierungen der Big Five durchaus seit 2004 verschlechtert haben. Sicher ist jedoch auch: Die Platzierung beim ESC ist von vielen Faktoren abhängig. Musik, Gesang, Künstler und Konkurrenz bestimmen den Erfolg maßgeblich. Sprach- und Kulturwissenschaftler Irving Wolther, auch „Dr. Eurovision“ genannt, geht nicht davon aus, dass die Halbfinal-Regelung ein ausschlaggebender Faktor für die Platzierung des deutschen Künstlers war. „Ich war sehr überrascht als ich die Dramaturgie der Show sehen durfte. Nach Schweden und der Ukraine sind die Leute drangeblieben und haben sich auf ISAAK mit der Startnummer 3 eingelassen“, erklärt er. ISAAK sei mit seiner authentischen und inbrünstigen Art gut und glaubwürdig rübergekommen.
Wie Wolther erwähnt, spielt also auch die Reihenfolge der Auftritte eine wichtige Rolle. Wer beispielsweise direkt nach einer Werbepause auftritt, laufe Gefahr, dass viele potenzielle Voter noch nicht zurück vor dem Fernseher sind. Politische Faktoren würden ebenfalls immer wieder diskutiert werden, ebenso wie freundschaftliche Beziehungen zwischen Ländern, etwa zwischen Zypern und Griechenland, die sich traditionell viele Punkte „zuschieben“. „Große Interessen spielen beim ESC eine Rolle: Die Ukraine möchte natürlich aufgrund der aktuellen Lage immer eine starke Präsenz zeigen. Israel will sich zur westeuropäischen Welt zugehörig zeigen“, so Wolther. Politik lasse sich nie vollständig aus dem Wettbewerb heraushalten.
Die Halbfinal-Hürde
Der Weg ins ESC-Finale ist steinig. In diesem Jahr nahmen 37 Nationen am Wettbewerb teil. In den Rekordjahren 2011 und 2018 waren es sogar 43 Länder. Um die Vielzahl der Auftritte an einem Abend zu bewältigen, gibt es seit 20 Jahren zwei Halbfinalshows. Neben den besten 20 Ländern, die sich qualifizieren, sind auch das Gastgeberland und die Big Five automatisch im Finale vertreten, sodass insgesamt 26 Länder um den Sieg kämpfen. Seit 2023 entscheidet ausschließlich das Televoting, wer ins Finale weiterkommt. Zuvor spielte auch eine Jury eine Rolle bei der Auswahl.
Für Schweden scheint das Halbfinale kein großes Hindernis zu sein. Nur einmal verfehlten sie den Finaleinzug. Siebenmal schafften sie es, auf dem Siegertreppchen ganz oben zu stehen. Diesen Platz teilen sie sich mit Irland. Auch sie stehen auf der Liste der meisten Siege ganz oben. Im Halbfinale hatten sie jedoch viel Pech: Seit 2018 schafften es die Iren in diesem Jahr zum ersten Mal wieder ins Finale. Davor traten sie zuletzt im Jahr 2013 auf. Auch das diesjährige Siegerland, die Schweiz, hat sich in der Vergangenheit an der Qualifikation für das Finale mehrfach die Zähne ausgebissen. Die Niederlande scheiterte bereits neun Mal.
Dennoch schnitten im Finale all diese Länder in Summe besser ab, als Deutschland. Anzunehmen ist also, dass Deutschland ohne diese Sonderregelung vermutlich einige Male im Halbfinale gescheitert wäre, was wiederum für einen unfairen Vorteil für die Big Five sprechen würde.
Der ursprüngliche Zweck der Big-Five-Regelung, die Einschaltquoten hochzuhalten, wäre jedoch mit einem möglichen Ausscheiden der Big Five in Gefahr. „Das Risiko, dass sie dann rausfliegen, ist natürlich immer da,“ so Wolther. Der Finaleinzug hinge dann davon ab, wie qualitativ hochwertig die Beiträge aus den Big-Five-Ländern sind. Die Ukraine hat es beispielsweise bisher immer geschafft sich zu qualifizieren, obwohl sie kein Big Five Land ist. „Vielleicht sollten die Big Five in den Halbfinals offensiver auftreten, damit das Publikum auch merkt, dass es sie gibt, und dass es sich lohnt, ihre Beiträge anzuschauen“, schlägt Wolther vor.
ESC Halbfinale lohnt sich für Spartensender ONE
Wirkt sich die neue Halbfinal-Regelung ökonomisch positiv auf die übertragenden Sender aus? Schließlich stand in diesem Jahr erstmals der deutsche Kandidat, ISAAK, im ersten Halbfinale auf der Bühne. Der Sender ONE, welcher die Halbfinal-Shows überträgt, konnte 2024 durch den ESC auf jeden Fall große Einschalterfolge verzeichnen. Die erste Halbfinal-Show erreichte 680.000 Zuschauer*innen aus Deutschland. Im Vergleich zum ersten Halbfinale 2023 waren es 90.000 mehr Zusehende, verglichen mit 2022 sogar 180.000. Auch im Grand Final blieben die Einschaltquoten ähnlich hoch, sodass der Sender im Mai einen Marktanteil von 1,4 Prozent beim Gesamtpublikum zelebrierte. Dies entspricht dem höchsten jemals für den Sender gemessenen Wert.
Ähnlich positiv fällt die Bilanz für die ARD aus: Mit rund acht Millionen Zuschauer*innen war das ESC-Finale am 11. Mai 2024 die meistgesehene Sendung des Samstagabends. Der Marktanteil des Song Contests aus Malmö lag im "Ersten" bei 36,8 Prozent. Unter jungen Menschen zwischen 14 und 29 Jahren war die Show sogar noch beliebter: Hier betrug der Marktanteil etwa 58 Prozent.
Bye Bye Big Five?
Die Big Five-Regelung abschaffen und alle Länder gleichermaßen durch die Halbfinals schicken? Dies wäre laut Wolther die optimale Lösung: „Ich war von Anfang an nie besonders glücklich mit der Big-Five-Regelung. Der ESC war eine Plattform, die niederschwellig Demokratie vermittelt hat. Ein Land wie Luxemburg konnte genauso viele Punkte wie Spanien vergeben, obwohl die Einwohnerzahlen deutlich geringer sind. Die Länder konkurrierten auf Augenhöhe. Diese Augenhöhe sah ich nach der Regeländerung nicht mehr.“ PR-technisch sei es jedoch nicht verkehrt gewesen, die Songs der Big Five komplett, statt nur in einem kurzen Ausschnitt wie früher zu spielen. Für problematisch halte er aber, dass die Big Five in den Semifinals nicht in derselben Startreihenfolge wie im Finale antreten. „Das kann dazu führen, dass ein Song, der eigentlich nicht hinter einer Werbepause kommen sollte, jetzt hinter einer platziert wird”. Dadurch würden die Qualifikationschancen für die Länder, für die es zählt, verringert werden. Zusätzlich ergänzt der ESC-Experte: „Wenn die Big Five weiterhin direkt im Finale gesetzt sind, sollte man ihre Auftritte wenigstens nach dem eigentlichen Starterfeld platzieren. Dadurch wird der Wettbewerb nicht verzerrt und der Gleichbehandlungsgrundsatz bleibt erhalten“.
Auch der diesjährige deutsche ESC-Kandidat ISAAK zeigt sich nicht überzeugt von der Big Five-Regelung. Lediglich das Ausrichterland sollte seiner Meinung nach immer im Finale vertreten sein:
Wie wird der Wettbewerb nun aber fairer? Die Sonderbehandlung der Big Five führt dazu, dass diese immer im Finale antreten. Das verzerrt momentan den Wettbewerb. Die Datenanalyse deutet darauf hin, dass die Regel eine mögliche Erklärung für das schlechtere Abschneiden der Big Five seit der Einführung der Halbfinale sein könnte. In den folgenden Jahren wird es wichtig, die Effekte der Regeländerung zu beobachten. Ist das der fairste Weg? Wolther und ISAAK sind sich einig: Nein. Die Sonderbehandlung der Big Five sollte laut ihnen ganz abgeschafft werden. Die Chancen in das große ESC-Finale zu kommen, sollten für alle Länder gleich sein. Offen bleibt, welchen Effekt dies auf die Einschaltquote und damit auch den ökonomischen Aspekt hat. Für einen fairen Wettbewerb wäre dies das Risiko, dass die Verantwortlichen eingehen müssen.