Man weiß einfach nicht, wie geht es mir in fünf Jahren? Das hat mir am meisten Angst gemacht.
„Es geht ja nicht um die Optik – Schmerzen sind unsichtbar.“
Etwa 20 Einstichlöcher verteilen sich über ihren Unterkörper. Blaue Farbverläufe – Flecken kann man das nicht mehr nennen – verteilen sich über die angeschwollenen Beine. Das natürliche Make-Up zeigt den Versuch, die Erschöpfung wie ihre dunklen Haare aus dem Gesicht zu streichen. Sie lacht in ihre Handykamera: „Ich habe manche Faktoren echt unterschätzt. Aber es wird von Tag zu Tag langsam besser.“ Acht Tage nach der OP hat Nadines Körper noch sichtlich mit den Anstrengungen zu kämpfen. Zehn Prozent ihres Körpergewichts wurden ihr innerhalb von etwa zwei Stunden in ihrer ersten Liposuktion, einer operativen Fettabsaugung, entfernt. 4,8 Liter Fett, das der jungen Frau schon seit mehreren Jahren Schmerzen bereitete. Nadine leidet unter Lipödem, einer krankhaften Fettverteilungsstörung.
Damit ist sie eine von vielen. Etwa jede zehnte Frau in Deutschland wird mit der Krankheit diagnostiziert. Die Dunkelziffer ist dabei vermutlich viel höher, denn viele wissen lange Zeit nicht, dass sie betroffen sind. Sie zeigt sich durch eine Fettverteilungsstörung in Beinen und Armen, Druckschmerz, Berührungsempfindlichkeit und durch die Neigung zu blauen Flecken. Die Körper der Betroffenen wirken unproportional, als würden die Körperteile nicht zueinander gehören. Lipödem lässt sich in verschiedene Stadien einteilen. Die Krankheit zeigt sich aber bei jeder Betroffenen ganz individuell und unabhängig vom Stadium, sowohl in Lokalisierung als auch in der Intensität, wie Robert Haas, Facharzt für plastische und ästhetische Chirurgie an der Klinik auf der Karlshöhe erklärt. Wie genau ein Lipödem entsteht, sei dabei noch nicht richtig erforscht. Laut Haas kann man in vielen Fällen eine genetische Veranlagung beobachten, aber auch hormonelle Veränderungen, wie Pubertät, Schwangerschaft, Wechseljahre, die Einnahme oder das Absetzen der Anti-Babypille können den Ausbruch oder erneute Schübe auslösen.
Juli 2023. Die Temperaturen in München haben an diesem Samstag die 30 Grad-Grenze überschritten. Die ruhige Loge des Restaurants wird mit einem Schlag mit hellen Stimmen gefüllt. 14 Frauen begutachten den Raum, schieben die Tische und Stühle hin und her. Es wird gewitzelt, gelacht, der Kellner hilft und bringt neue Tische und Stühle – zu wenige waren für die große Gruppe bereitgestellt. Als das Gewirr aus Tischen schließlich über Eck zusammengeschoben ist, setzen sich alle zufrieden hin – es sollen an diesem Tag so viele wie möglich miteinander sprechen können.
Die ersten Getränke sind bereits bestellt, die ersten Lipödem-Erfahrungen ausgetauscht, als auch die letzten zwei Frauen dazustoßen. Nadine ist klein und schlank. Ihr dunkles Haar fällt in leichten Wellen über ihre Schultern. Das beige Top lässt auf die zwei großen Rosen blicken, die ihren rechten Oberarm zieren, die Weite der hellgrünen Hose versteckt die hautenge Kompression darunter. Genau wie sie tragen viele der anderen Frauen unter ihren sommerlichen Outfits dicke Kompressionen, die durch den Druck das Gewebe unterstützen und die Symptome verbessern sollen.
Nadine vermutet die Ursache ihres Ausbruchs im Absetzen der Pille. Seitdem häuften sich die Schmerzen in ihren Beinen, die von ihrem Hausarzt immer wieder auf Bewegungsmangel geschoben wurden. Eine Reihe an Rechtfertigungen beginnt. „Gerade bei mir mit Stadium 1 ist immer dieses Vorurteil da: 'Du bist doch voll schlank, du hast das nicht.' Du wirst einfach nicht ernstgenommen. Du musst dich andauernd nur rechtfertigen. Deshalb spreche ich das im Umgang mit anderen auch nicht wirklich an, ich leide dann still und heimlich.“ Nadine pausiert. Sie rührt mit dem Strohhalm in ihrem Glas. Dann spricht sie bestimmt weiter: „Eigentlich müsste man mehr für sich einstehen, aber ich mach's nicht mehr. Es nervt, dass ich mich immer rechtfertigen muss. Ich muss immer davon überzeugen, dass ich Schmerzen habe. Ich glaube dadurch, dass immer nur diese Extrembilder gezeigt werden glauben die Leute, nur wenn man genau so aussieht, hat man die Krankheit. Die Schmerzen haben nichts mit dem Stadium zu tun.“
Ihre Schmerzen wurden schlimmer. Als sie im Sommer 2022 dann auf ihre Wassereinlagerungen angesprochen wird, unter denen selbst die Kniescheiben zu verschwinden schienen, sucht die junge Frau eine Venenärztin auf. Im Januar dann offiziell die Diagnose: Lipödem. „Auf der einen Seite war ich erleichtert, weil ich endlich wusste, was mit mir los ist. Auf der anderen Seite bekommt man aber etwas Panik, wenn man sich darüber informiert. Aber dann habe ich versucht, mich mit möglichen Lösungsansätzen zu beschäftigen.“
Lipödem ist nicht heilbar. Auch wenn die krankhaften Fettzellen durch eine Liposuktion entfernt werden, bleibt die Veranlagung, die Krankheit kann an anderen Körperstellen ausbrechen oder an den behandelten wiederkehren. Für Betroffene sind Ernährungsumstellung, Bewegung, Lymphdrainagen und das Tragen von Kompressionswäsche wichtige und unterstützende Faktoren. „Ich glaube, die Schwierigkeit beim Lipödem ist, dass es chronisch ist und bei jedem so unterschiedlich. Man weiß einfach nicht, wie geht es mir in fünf Jahren? Das ist bei mir das größte Problem, die Frage nach der Zukunft. Das hat mir am meisten Angst gemacht.“
Über ihren Instagram-Account, auf dem sie über ihre Erkrankung spricht, hat Nadine das Treffen mit ihren „Lipödem-Mädels“ initiiert. Ein Blick in die Runde zeigt, wie viele Gesichter Lipödem hat: Operiert, relativ frisch diagnostiziert, unterschiedliche Stadien und Ausprägungen, ganz individuelle Krankheitsverläufe. Nadine wird in wenigen Wochen zu den operierten Frauen gehören.
Die Entscheidung fiel ihr alles andere als leicht. Kompressionen, Ernährungsumstellung und regelmäßiger Sport halfen gegen die Wassereinlagerungen – aber die Schmerzen bleiben. „Der ausschlaggebende Punkt für meine Entscheidung war mein Kinderwunsch. Ich werde jetzt 28, bin verlobt, wir wollen in den nächsten Jahren Kinder. Durch den Hormonschub einer Schwangerschaft können aber wieder Lipödemschübe kommen, das krankhafte Fett wächst und die Schmerzen werden schlimmer. Ich wollte nicht zu lange mit der konservativen Therapie rumprobieren, weil ich die Zeit nicht mehr habe. Mindestens ein halbes Jahr sollte man die konservative Therapie machen, bevor man sich für eine OP entscheidet. Dann brauchst du erstmal einen Termin, mehrere OPs mit einem Mindestabstand von sechs Wochen, dann fängt erst das Heiljahr an. Deswegen habe ich mich frühzeitig für ein Beratungsgespräch entschieden.“
26.000 Euro gegen die Schmerzen
Nadine sucht sich auf eigene Faust eine Lipödem-Klinik, zunächst nur zur Beratung. „Ich bin da rausgegangen und hab gesagt: 'Nie im Leben mach ich das!' Bei mir im ersten Stadium kosten diese OPs jetzt 26.000 Euro. Du hast dein ganzes Leben gearbeitet und gespart für Hochzeit, Eigenheim, whatever. Und dann musst du es dafür ausgeben und einen Kredit aufnehmen.“ In ihrer Stimme schwingt eine Mischung aus Frustration und Wut, bevor sie wieder ruhiger, klarer wird: „Irgendwann habe ich mir aber gedacht, naja, eigentlich ist es nur Geld. Ich habe Schmerzen. Es wird schlimmer. Ich bin noch jung und durch die OP bekomme ich auch wieder Lebensqualität zurück. Irgendwann habe ich dann dieses Geldthema für mich akzeptiert. Ich hab das bei der Krankenkasse eingereicht – aber das wird sowieso bei allen abgelehnt“, lacht Nadine frustriert und zuckt mit den Schultern. Wie viele andere Betroffene fühlt sie sich von der Politik und den Krankenkassen alleine gelassen. Die Krankheit ist kaum erforscht, und die Liposuktion, die als einzige Methode langfristig die Schmerzen reduziert, wird von den Krankenkassen nur unter bestimmten Bedingungen ab dem dritten Stadium übernommen, obwohl sich Begleiterkrankungen, wie Fehlstellungen und Gelenk-Verschleiß, in fortgeschrittenen Stadien häufen.
Man gewöhnt sich an den Schmerz
„Das ist wirklich erschreckend, aber man gewöhnt sich an den Schmerz.“ Nadine dreht sich auf ihrem Stuhl zur Seite. Sie zeigt auf ihre Beine während sie von dem andauernden Grundschmerz erzählt. Ein Gefühl von Druck oder Brennen, das manchmal von einem stechenden Schmerz in der Kniegegend bis hoch zum Oberschenkel und in den Armen abgelöst wird. Sie erzählt von Schmerzen bei langem Sitzen, in die Hocke gehen, Haare föhnen. Wie sehr man sich an den Schmerz gewöhnen kann, zeigen auch die anderen Frauen. Beinahe beiläufig wird von „leichten Bauchschmerzen“erzählt, die sich als Blinddarm-Durchbruch entpuppten und vom Zähneputzen, das man ohne sich abzustützen kaum durchhält. Die Kompressionen lindern zumindest ein bisschen den Schmerz. „Das ist eine Hassliebe: Kompressionen nerven, weil sie total einschränken, man muss auf die Ernährung achten, soll keinen Alkohol trinken. Aber du kannst auch nicht immer alles weglassen oder auf alles achten. Das Ganze nimmt Lebensqualität. Aber wenn ich mal esse, was ich will, oder die Kompressionen weglasse, dann werde ich das wieder mit Schmerzen büßen.“
Nach den OPs soll Nadine weitgehend schmerzfrei sein. Bei dem Gedanken daran beginnen ihre Augen zu leuchten. „Gleichzeitig habe ich aber auch extrem Angst davor, wie mein Körper dann aussieht. Ich habe so viele Jahre in meinem Körper gelebt und mich an ihn gewöhnt. Ich zweifle deswegen auch täglich, ob das jetzt wirklich das richtige ist. Obwohl ich natürlich weiß, dass es das ist. Es geht ja nicht um die Optik – Schmerzen sind unsichtbar. Trotzdem ist da einfach so viel Ungewissheit.“
Ohne die Unterstützung ihres Partners wäre für Nadine vieles anders. Auch er muss einiges umstellen und einstecken. „Das schweißt zusammen. Ich glaube, vor allem auch die Zeit nach der OP.“ Sie schaut nervös. Dann fügt sie lachend hinzu: „Schauen wir mal was wird. Wir sehen es ja in drei Wochen.“
August 2023. „Als würde man sich auf ein Nadelbrett setzen, so fühlt sich das an.“ Nadines Beine sind angeschwollen, das Gewebe an den operierten Stellen fühlt sich taub und hart an. Acht Tage ist ihre Liposuktion her. Eigentlich hatte Nadine das Gefühl, durch den Austausch mit anderen Betroffenen gut auf ihre OP vorbereitet zu sein. „Aber manche Dinge habe ich echt unterschätzt.“ Die Menge an Körperflüssigkeit, die aus den Einstichslöchern läuft, der Schlaf, der trotz Erschöpfung nicht eintritt. Und der extreme Geruch, eine Mischung aus Blut, Wundflüssigkeit, der OP-Lösung, gepaart mit der Hitze. „Mich selber hat es echt oft gehoben. Für mich war der Gestank ein großer Punkt, auch wenn sich das random anhört.“
In der Klinik beginnt für Nadine der Kampf mit dem Kreislauf. Das erste Mal bricht er ihr am Abend auf dem Weg zur Toilette weg. „Das war dann der Punkt, ab dem es mir nicht mehr gut ging. Ich hatte mit Übelkeit und Erbrechen zu kämpfen. Zwei Pflegerinnen mussten mir die Stirn tupfen, mit mir Atemübungen machen. Das war wirklich ein Kampf – wobei viel mit meiner eigenen Angst gepaart war.“
Nadines Zweifel sind seit der OP verschwunden. Aber die Ängste vor der Zukunft und der Ungewissheit bleiben. Ihre größte Herausforderung: Geduld. Der Heilungsprozess geht ihr an vielen Tagen zu langsam voran. Das Wissen, bei allem auf Hilfe angewiesen zu sein, zu merken, dass der eigene Körper nicht so funktioniert, wie man will und zu realisieren, wie sich der eigene Körper verändert, fordert Nadine. Trotz Schwierigkeiten ist sie sich in ihrer Entscheidung aber sicher. „Ich bin nach wie vor der Meinung, je früher, desto besser. Ich will was von meinem Leben haben. Und ich bin froh, dass ich es gemacht habe.“