Desto mehr ich mich auf die Transplantation vorbereite, desto weniger Angst habe ich vor ihr.
Ein Leben auf der Warteliste
Zuerst leuchtet das Licht des kleinen runden Weckers neben dem Bett, anschließend geht der Alarm los. Wiebke lässt den Wecker direkt verstummen, wach ist sie sowieso schon lange. Der Juckreiz war auch diese Nacht kaum auszuhalten und hätte sie fast um den Verstand gebracht. 6:30 Uhr, in einer Stunde müssen die Kinder in der Schule sein. Wiebke steigt aus dem Bett und zieht ihr Handy vom Ladekabel. Das Display verrät: 100 Prozent Akku, voller Empfang, keine verpassten Anrufe. Damit beginnt ein weiterer Tag, den sie mit Warten verbringt. Mit dem Warten auf den wohl wichtigsten Anruf ihres Lebens, der ihr eine neue Leber und damit ein neues Leben verspricht.
Seit 2019 leidet Wiebke unter der seltenen Lebererkrankung, primär sklerosierende Cholangitis, kurz PSC. Eine Krankheit, die die Gallengänge verengt und dadurch im schlimmsten Fall zu einer Leberzirrhose führen kann. Nur eine Lebertransplantation kann vollständige Heilung versprechen. Aus diesem Grund steht die 46-Jährige seit acht Monaten auf der Warteliste von „Eurotransplant“, dem sogenannten Big Dealer, der für die Zuteilung von Spenderorganen in acht europäischen Ländern zuständig ist. Die Vergabe läuft über ein elektronisches Punktesystem, bei dem ein Maximalscore von 40 erreicht werden kann. Die Punkte werden über bestimmte Kriterien vergeben. Ausschlaggebend sind beispielsweise die Dringlichkeit der Transplantation, die medizinische Eignung des Organs, die bisherige Zeit auf der Warteliste sowie die Transportzeit. Doch selbst mit einem hohen Score ist die Wartezeit aufgrund geringer Spendenbereitschaft in Deutschland lang. Neben Wiebke warten rund 8.500 weitere Menschen auf ein Organ, knapp tausend von ihnen auf eine Leber.
Geringe Chancen auf ein Spenderorgan
Doch obwohl die Schmerzen und der durch die Krankheit ausgelöste Juckreiz immer weiter zunehmen, ist Wiebke mit einem Score von 15 weit unten auf der Liste. Dennoch bleibt sie zuversichtlich: „Ich habe ein Grundvertrauen und bin mir sicher, dass der Anruf kommen wird“, betont sie. Bis dahin heißt es warten und auf Abruf sein, denn laut ihrer behandelnden Transplantationsärztin könnte ein Anruf jederzeit kommen: Beim Kochen, beim Spaziergehen, beim Schlafen. Morgen, in zwei Wochen oder in einem Jahr – so genau weiß das keiner. Wenn sich eine Spenderleber finden sollte, möchte Wiebke vorbereitet sein und nichts dem Zufall überlassen.
Aus diesem Grund hat sie bereits einen Koffer mit allen wichtigen Dingen für das Krankenhaus gepackt. Seit acht Monaten steht der schwarze Rolli nun in der Ecke des Schlafzimmers und wartet auf seinen Einsatz. Nur im Frühling und Herbst wird er herausgeholt, um die in ihm verstaute Garderobe auf die jeweilige Jahreszeit anzupassen. Den Koffer braucht sie sowieso sonst nicht mehr, denn an Urlaub ist nicht mehr zu denken. Seitdem Wiebke auf der Liste steht, fährt ihr Mann allein mit den Kindern auf ihre Lieblingsinsel Wangerooge. Zu groß wäre das Risiko, sich so weit von ihrem Transplantationszentrum zu entfernen.
Falls Wiebke tatsächlich den ersehnten Anruf erhalten sollte, bleiben nur wenige Stunden Zeit, in der die Leber transplantiert werden kann. In höchster Eile werden dann die Blutgruppe und Gewebemerkmale des*der Spender*in mit denen von Wiebke verglichen. Wenn diese übereinstimmen sollten, spricht man von einem „Perfect Match“ und die Transplantation kann in die Wege geleitet werden. Sobald die Leber aus dem Körper des*der Spender*in entnommen wird, beginnt die heikelste Phase, da die Durchblutung und Sauerstoffversorgung abgeschnitten ist. Deswegen muss die Zeit zwischen der Entnahme und der Transplantation möglichst gering sein. Aus diesem Grund hat Wiebke nur rund 30 Minuten Zeit, um auf den Anruf zu reagieren, bevor das Spenderorgan an jemanden anderen vergeben wird.
Ein Alltag auf der Warteliste
Für Wiebke wäre es ein Albtraum, den Anruf zu verpassen. Deswegen ziert seit dem Sommer eine schwarze Digitaluhr ihr Handgelenk, die sie über jede eingehende Mitteilung informiert. Auch ihr Handy lässt sie kaum noch aus den Augen: „Meine Transplantation hat jetzt neben meinen Kindern die höchste Priorität in meinem Leben“.
Deswegen richtet Wiebke ihren gesamten Alltag nach diesen zwei Dingen. Nach dem Aufstehen legt sie Kleidung raus, schmiert Brote und packt Schulranzen. Doch sobald die weiße Haustür des Einfamilienhauses ins Schloss fällt, widmet sie sich vollkommen ihrer ersehnten Operation „Desto mehr ich mich auf die Transplantation vorbereite, desto weniger Angst habe ich vor ihr“, gesteht sie.
Ihr erster Gang führt dann meistens in die Küche. Dort bereitet sie sich die erste ihrer zwei Mahlzeiten vor. Oft gibt es milde Haferflocken mit Wasser. Mehr bekommt sie nicht runter, denn durch die verengten Gallengänge dehnt sich die Leber immer weiter aus. Mittlerweile drückt diese alle anderen Organe in ihrem Körper zusammen und wölbt ihren Bauch.
Meine Leber ist mittlerweile so groß, dass ich manchmal das Gefühl habe zu platzen – in solchen Momenten wünsche ich mir nichts sehnlicher als eine baldige Transplantation.
Zusammen mit der Schüssel voller Brei begibt sie sich auf die Couch. Sie weiß, sie muss jetzt essen, damit sie bei Kräften für die Transplantation ist. Doch ihr Hungergefühl ist schon lange verschwunden. „Meine Leber ist mittlerweile so groß, dass ich manchmal das Gefühl habe zu platzen – in solchen Momenten wünsche ich mir nichts sehnlicher als eine baldige Transplantation“ sagt Wiebke und legt sich eine Wärmeflasche auf den Bauch. Dabei fällt ihr Blick auf die Uhr: 11:30 Uhr. Normalerweise wäre sie jetzt in der Schule und würde unterrichten, doch ihre Ärzt*innen haben es ihr untersagt. Der Job sei zu kräftezehrend. Wenn sie weiterarbeiten würde, käme eine Transplantation nicht mehr infrage. Seitdem ist Wiebke Frührentnerin. Ein Begriff, den sie selbst nicht ausstehen kann, weil er so gar nicht zu ihrem aufgeweckten, energetischen Wesen passt. „Seit der Krankheit haben sich viele Dinge verändert, das muss ich einfach akzeptieren“, gesteht sie und bewegt einen weiteren Löffel des grauen Breis Richtung Mund.
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Nach dem Essen studiert sie die Zeitung und schaut, was sich alles Neues getan hat in der Welt der Medizin und Organtransplantation. Für Wiebke ist dieses Wissen Macht. Macht über ihre Krankheit und über ihre anstehende Transplantation. Auf einem weißen Papier notiert sie sich alle Erkenntnisse und Fragen. Diese möchte sie bei ihrem nächsten Kontrolltermin im Transplantationszentrum stellen. Das Zentrum sowie eine behandelnde Ärztin hat Wiebke nach ihrer Diagnose zugewiesen bekommen.
In Deutschland gibt es insgesamt 22 Zentren, die eine Lebertransplantation durchführen dürfen. Eines davon ist das Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg. Leiterin des Fachbereichs Lebertransplantationen ist dort Frau Sterneck. Auf die Frage, wie viel Kontakt sie denn tatsächlich zu betroffenen Personen hat, lacht sie: „Ich habe jeden Tag mit den Patient*innen zu tun und arbeite eng mit ihnen zusammen“. Aus diesem Grund weiß Sterneck, wie es wartenden Patient*innen in dieser Situation geht: „Ich merke, wie bedrückend dieser Zustand für die betroffenen Personen ist. Umso wichtiger ist es, sie immer wieder zu motivieren und ihnen dadurch einen Lichtblick zu geben“, schließlich bekämen rund 90 Prozent der wartenden Patient*innen am Ende auch eine Spenderleber.
Organmangel aufgrund von Entscheidungslösung
Den Grund für die lange Wartezeit sieht Sterneck in der mangelnden Spendenbereitschaft und der in Deutschland geltenden „Entscheidungslösung“. Dabei handelt es sich um die Regel, dass Organspender*innen ihre Entscheidung zu einer Spende bewusst treffen müssen. Laut Sterneck führe dies zu einem erheblichen Mangel an Spenderorgangen: „Eine Widerspruchslösung könnte einen deutlich positiveren Effekt auf die Zahl von Organspender*innen haben“.
Die Widerspruchslösung:
Durch die Widerspruchlösung wird automatisch jede*r zur Organspender*in. Möchte man dies nicht, muss man zu Lebzeiten ausdrücklich widersprechen. Das geht zum Beispiel durch ein Widerspruchsregister. Diese Regel gilt bereits in vielen europäischen Ländern wie Italien, Frankreich und Spanien.
Für Wiebke heißt es also weiter warten – und hoffen.
Die Nachmittage verbringt sie meist mit Arztbesuchen oder dem wöchentlichen Einkauf. Insgesamt sind ihre Termine allerdings weniger geworden. Zum einen, um Kräfte zu sparen, zum anderen, um eine Ansteckung zu vermeiden. Denn schon die harmloseste Erkältung würde bedeuten, dass sich Wiebke auf der Warteliste einfrieren lassen muss. Aus diesem Grund hält sie ihren Freundeskreis klein, meidet Orte mit vielen Menschen und trägt fast immer eine Maske.
Ein Stücken Normalität
Dass es allerdings noch Monate, vielleicht sogar Jahre dauern kann, bis sich eine passende Leber findet, versucht Wiebke auszublenden. Spätestens, wenn sich die Haustür gegen Mittag wieder öffnet und Kinderlachen das Haus füllt, sind diese Gedanken sowieso passé. Dann ist Wiebke wieder Vollblutmama, kocht, bastelt und spielt mit ihren zwei Kindern. „Für mich ist meine Familie heilsam. Sie sorgt dafür, dass ich mich nicht in meinen Gedanken verliere“, resümiert sie und streichelt ihrem 8-jährigen Sohn dabei über den Kopf.
Erst wenn sich die Tür des Kinderzimmers gegen Abend schließt, hat Wiebke wieder Zeit für sich. Doch der Tag war anstrengend und ihre Energiereserven sind leer. Nach dem Zähneputzen fällt sie erschöpft ins Bett. Doch bevor sie die Augen schließt, wirft sie noch einen letzten Blick aufs Handy. Das Blitzsymbol in der oberen rechten Ecke verrät, dass das Gerät lädt, die Lautstärke ist auf maximal, keine Mitteilungen oder verpassten Anrufe. Und so endet der 231te Tag ohne den erlösenden Anruf und eine weitere unruhige Nacht beginnt.
Um ein Ansteckungsrisiko zu vermeiden hat die Autorin dieses Textes, Wiebke digital, über Zoom, durch ihren Tag begleitet.