Die Angst, etwas zu verpassen, lässt dich alles verpassen.
Wenn „bloß nichts verpassen“ zur Angststörung wird
Triggerwarnung: In diesem Beitrag geht es um Angststörungen.
Es ist mein freier Sonntagmorgen. Ich (Sissi Ulmer, Edit-Autorin) wache auf mit einer inneren Unruhe, die ich nicht genau begründen kann. Reflexartig greife ich nach meinem Handy, das die ganze Nacht neben mir lag. Meine Armbewegung wirkt routiniert, weil bei mir genau so jeder Morgen beginnt. Nervös blicke ich auf die Uhrzeit und alle verpassten Nachrichten von letzter Nacht. Eigentlich nichts Neues. Aber das reicht mir nicht. Ich gehe auf Instagram und sehe, wie sich vor exakt elf Stunden meine Freunde mit ihren bunten Cocktails lächelnd zuprosten. Im Hintergrund des Posts erkenne ich dieses neue Restaurant, von dem alle immer reden. Und ich war nicht dabei. Oh Gott. Was, wenn etwas Spannendes passierte, bei dem ich jetzt nicht mitreden kann? Oder noch schlimmer: Was, wenn sie gemerkt haben, dass sie ohne mich eigentlich viel mehr Spaß haben? Ich will es mir gar nicht ausmalen, aber tue es trotzdem. So lange nicht aufs Handy geschaut zu haben, war ein Fehler.
Aber was ist diese FOMO eigentlich? Cambridges Wörterbuch spricht von der Sorge, spannende Events zu verpassen, besonders hervorgehoben durch Social-Media. Früher ließ sich diese Angst noch an wenigen, aber oft spektakulären Ereignissen beobachten. So entwickelten Menschen meist FOMO, wenn sie von einem bedeutenden Ereignis in den damals primär genutzten Medien Zeitung, Radio oder Fernsehen mitbekamen. Durch diese Berichterstattung entstand bei vielen Menschen der nachträgliche Wunsch, Teil dieser großen Ereignisse gewesen zu sein.
In der heutigen, digital vernetzten Welt äußert sich FOMO etwas anders. 44% aller Social-Media-Nutzer*innen im Alter zwischen 12 und 19 kennen die Angst, etwas zu verpassen. Durch die Kultur des ständigen Onlineseins hat sich das FOMO-Phänomen in den privaten Alltag übertragen. Die Menschen sind mit ihren engen und weniger engen Freund*innen über die sozialen Netzwerke verbunden. Liegt man also am Freitagabend im Bett und durchforstet seine Social-Media-Feeds, so wird man permanent mit den Erlebnissen und Eindrücken aus dem Leben anderer konfrontiert. Ein Phänomen, das FOMO in der heutigen Zeit bestärkt, ist das Streben nach der perfekten Social-Media-Präsenz. Wir sehen nur das Spannendste, was andere erleben und finden das eigene Leben im Vergleich zu langweilig. So bestärken sich Social-Media-Nutzung und FOMO gegenseitig. Die Angst äußert sich dadurch, ständig das deprimierende Gefühl zu haben, etwas Spektakuläres verpasst zu haben.
Die Angst, etwas zu verpassen, erzeugt bei Betroffenen oft ein erdrückendes Gefühl der permanenten inneren Unruhe. Zu weiteren FOMO-Symptomen zählen Konzentrationsschwächen, ständige Unruhe und Nervosität sowie ein ständiger Drang nach Vergleichen. Da FOMO als erste Social-Media-Krankheit gilt, geht der Drang, sich und sein Tun mit dem von anderen zu vergleichen, auch mit einer verstärkten Social-Media-Sucht einher.
Die Schriftstellerin Etty Hillesum wusste schon Anfang des 20. Jahrhunderts, dass ,,die Angst, etwas zu verpassen, [dich] alles verpassen [lässt]". Dabei geht sie auf das psychische Krankheitsbild von FOMO ein. Die Angst, Dinge zu verpassen, verfolgt FOMO-Betroffene oft so weit, dass sie ihre eigenen Erlebnisse oft gar nicht wirklich genießen können.
Wie fühlt es sich wirklich an, keinen Anschluss zur Außenwelt zu haben? Wie schnell bemerkt man erste FOMO-Symptome? Die Regeln sind einfach: Heute verzichte ich (Sissi Ulmer, Edit-Autorin) auf Messenger, soziale Medien, Zeitungen, Nachrichtendienste, Briefe und so weiter.
8 Uhr Beim Frühstück fehlen mir Handy und Zeitung erstaunlicherweise überhaupt nicht. Eigentlich ist dieses passive Gefühl entspannend und ich bin mir sicher, dass ich den Tag gut überstehen werde.
12 Uhr Immer wieder wollte ich reflexartig ans Handy gehen, um auf Instagram zu schauen, was meine Freund*innen und Bekannte wohl machen. Ich bin mir fast sicher, dass ich heute den Geburtstag von jemandem vergessen habe. Aber es will mir einfach nicht einfallen, von wem. Nachschauen kann ich auch nicht, denn das wäre ja geschummelt. Hoffentlich wäre die Person nicht beleidigt, aber beeinflussen kann ich es nicht. Während sich die Person wohl durch den Tag feiert, koche ich mir Mittagessen. Dabei lasse ich die Fernsehnachrichten natürlich aus. Falls heute ein historisch wichtiges Ereignis passiert, bekomme ich es nicht mit. „Was, wie kannst du das nicht mitbekommen haben?“, könnten Betroffene dann fragen. Aber wie es der Teufel will, musste ich mir genau diesen Tag aussuchen. Sich bei der aktuellen politischen Lage nicht zu informieren, wäre das nicht fast schon gefährlich? Ich versuche, meine Gedanken beim Pasta Essen ein wenig abzuschalten.
14 Uhr Das mit dem Abschalten hat nicht geklappt. Andauernd muss ich mir ausmalen, was andere gerade wohl tun, weil ich es sonst in den sozialen Medien mitbekommen würde. Freund*innen, Promis, Politiker*innen – im Großen wie im Kleinen entgeht mir heute bestimmt eine ganze Menge.
16 Uhr So langsam denke ich, dass es auch ein Tag wie jeder andere sein könnte, an dem eigentlich nichts Bahnbrechendes passiert. Aber es fühlt sich nicht so an. Es kommt mir vor, als würden heute alle Leute Parties feiern, Abschlüsse machen und Häuser kaufen. Mit FOMO verspürt man ja auch Neid für etwas, das man sich selbst ausgedacht hat. Obwohl ich mir dessen genau bewusst bin, sind diese inneren Gefühle der Langeweile, Unsicherheit und des Neids vorhanden.
21 Uhr Ich habe mehr als genug Erfahrungen gesammelt, um schon ein Fazit ziehen zu können: FOMO ist ein unangenehmes, bedrückendes Gefühl. Ich weiß, dass ich damit nicht allein bin. Macht es das besser? Nein. Es ist schlimm, dass man heutzutage so etwas wie Entzugsgefühle entwickelt, wenn man sich mal einen Tag vom Internet trennt. Dennoch wurde in einer Meta-Analyse aus der Uni Wuppertal bewiesen, dass Tage des Social-Media-Verzichts auf Dauer FOMO verringern können. Können heißt aber nicht müssen, deswegen sind hier noch ein paar weitere hilfreiche Tipps.
Was hilft gegen FOMO?
- Lass zeitweise die sozialen Medien ruhen
- Führe dir vor Augen, dass diese Angst irrational ist
- Sprich mit guten Freund*innen über deine Probleme
- Vergiss nicht, dass Social Media nie die ganze Realität widerspiegelt
- Es ist nicht schlimm, sich psychologische Hilfe zu suchen