„Es ist echt frustrierend, wenn ich zwei oder drei Tage lang nicht auf Toilette gehen kann – oder sogar noch länger.“
DAS Wundermittel zu 90-60-90?
In ihrem Schlafzimmer steht Anna regelmäßig vor dem Ganzkörperspiegel. Nachdenklich betrachtet sie sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln, während sie verschiedene Kleidungsstücke anprobiert. Kleidungsstücke, die sie im Laufe der Jahre angesammelt hat. Dabei fällt ein Detail auf: die ungleichen Konfektionsgrößen. Eine elegante Bluse in Größe 48 hängt neben einem luftigen Sommerkleid in Größe 42. Immer wieder hält sie an alten Kleidungsstücken fest, in der Hoffnung, bald wieder in sie hineinzupassen. Anna hat lange nach einer Lösung gesucht, die nicht nur die Zahlen auf der Waage verringert, sondern auch ihr Selbstbewusstsein stärkt. „Ich möchte mich nicht wegen meines Gewichts ständig verstecken oder schämen“, seufzt sie.
Anna ist nicht allein mit ihrem Kampf. Gerade deshalb erleben Präparate wie Ozempic und Wegovy derzeit einen Hype. Die sogenannten „Abnehmspritzen“ werden regelrecht als Wundermittel für Adipositas-Patienten angepriesen. Angetrieben durch die Macht der sozialen Medien und den Einfluss aus Hollywood, bieten sie Hoffnung für viele, die ähnliche Herausforderungen erleben. Denn nicht nur bei Promis wie Elon Musk oder den Kardashians, sondern auch auf Plattformen wie TikTok oder Instagram lassen sich erstaunliche Erfolgsgeschichten beobachten.
Ein genauer Blick auf die Abnehmspritze
Doch wie bei allem, was gehypt wird, werden die Risiken und Nebenwirkungen gerne außer Acht gelassen. Diese Ansicht teilt Dr. Björn Schittenhelm, Fachapotheker für Allgemeinpharmazie mit Schwerpunkt Diabetes: „Als Apotheker und auch als Apothekerschaft treibt es uns, genauso wie die Ärzteschaft, stark um. […] Die Abnehmspritze ist eigentlich ein Antidiabetikum und wurde ursprünglich für die Behandlung von Diabetes entwickelt, um vor allem Menschen mit Typ-2-Diabetes eine bessere Insulinsensitivität zu geben. Es sorgt dafür, dass das vorhandene Insulin, das bei Diabetikern weniger wirkt, durch die Behandlung positiv beeinflusst werden kann.“ Eine gängige Option sind dabei Injektionen mit dem Wirkstoff Semaglutid, der in den Abnehmspritzen enthalten ist. „Über die Jahre hat man festgestellt, dass das Medikament bei den Patienten das einzige Diabetes-Medikament war, das dazu geführt hat, dass es zu keiner weiteren Gewichtszunahme kam. Das ist bei Diabetes leider immer das Problem“, erklärt Schittenhelm.
Große klinische Studien, wie die STEP-1-Studie, haben gezeigt, dass die Gewichtsabnahme bei der Behandlung mit Semaglutid nach 68 Wochen bei 14,9 Prozent lag. Diese Behandlung umfasste eine wöchentliche Injektion von 2,4 mg Semaglutid in Kombination mit Änderungen im Lebensstil. Zum Vergleich: In der Placebogruppe kam es im gleichen Zeitraum zu einem Rückgang von 2,4 Prozent. Seit 2018 ist Semaglutid in Deutschland unter dem Handelsnamen Ozempic in einer Dosierung von 1,0 mg für Menschen mit Diabetes zugelassen und wird bereits von Tausenden angewendet.
Ozempic wirkt nicht nur als Appetitzügler, sondern sorgt vor allem für ein längeres Sättigungsgefühl, was zu einer geringeren Nahrungsaufnahme und somit zu einem Kaloriendefizit führt. Dieser Wirkmechanismus funktioniert unabhängig davon, ob man an Diabetes erkrankt ist oder nicht. Auch die Hersteller haben diesen Effekt erkannt und ein neues Medikament unter dem Namen Wegovy auf den Markt gebracht. Seit 2022 ist dieses in Deutschland zugelassen und richtet sich an übergewichtige Personen ohne Diabetes. Laut Schittenhelm berichten Patienten bereits nach vier Wochen, dass sie nicht zunehmen. Der Wirkungseintritt ist schnell sichtbar, was auch den Erfolg dieses Medikamentes ausmacht. „Wichtig zu wissen ist, dass der Unterschied zwischen dem Wirkmechanismus der Abnehmspritze und des Diabetes-Medikaments eine andere Dosierung ist. Die der Abnehmspritze ist deutlich höher als die bei den Diabetikern. Dadurch hat man auch diesen starken Effekt auf die Gewichtsabnahme.“, so Schittenhelm.
Anna ist eine der Anwenderinnen, die die Abnehmspritze seit fünf Monaten einmal pro Woche verwendet. Für sie ist es die bequemste Lösung, um schnell Gewicht zu verlieren. Sie sagt, sie habe in der Vergangenheit alles Mögliche ausprobiert. Aber nichts wollte den gewünschten Effekt bringen. Das änderte sich durch die Anwendung von Wegovy: „Ich habe in dieser Zeit 14 Kilo abgenommen. Das ist echt krass, wenn ich so darüber nachdenke.“
Risiken des Hypes
Angesichts dieses Ergebnisses stellt sich dennoch die Frage: Welche Nebenwirkungen hat der Wirkstoff Semaglutid? Zu den allgemeinen Nebenwirkungen zählen klassischerweise Übelkeit, Erbrechen, Durchfall etc. Das bestätigt auch Schittenhelm: „Gerade alles, was auf den Magen-Darm-Trakt wirkt, kann natürlich zu gastrointestinalen Beschwerden führen. […] Das Medikament wirkt sich auf die Peristaltik des Darms aus, also die Darmbewegung. Dementsprechend können Menschen empfindlich reagieren.“ Auch Anna gesteht ihre Nebenwirkungen ein: „Die größte Sache ist wohl Verstopfung. Es ist echt frustrierend, wenn ich zwei oder drei Tage lang nicht auf Toilette gehen kann – oder sogar noch länger. Dann gibt es noch die Schwindelanfälle, die ab und zu auftreten.“
Schittenhelm geht in seiner Warnung weiter und weist darauf hin, dass die betreffenden Medikamente ein krebserregendes Potenzial aufweisen können: „Es ist bekannt, dass durch das Masthormon gewisse Zellen angeregt werden, sich schneller zu teilen. Bei Menschen, die schon einen Krebs haben, fördert das Medikament diesen Krebs. Wichtig an dem Punkt ist, dass das Medikament vermutlich keinen Krebs verursacht, sondern einen vorhandenen Krebs fördert! […] Das ist durchaus eine bedenkliche Nebenwirkung, bei der wir sicher in ein paar Jahren sehen werden, dass Menschen, die dieses Medikament genommen haben, wahrscheinlich eine höhere Sterblichkeit haben werden.“ Darüber hinaus kann es nach dem Absetzen des Medikaments dazu kommen, dass das ursprüngliche Gewicht wieder erreicht wird, sofern keine Änderungen des Lebensstils vorgenommen werden. Um Aussagen über Langzeitfolgen treffen zu können, ist es noch zu früh.
„Eine bedenkliche Nebenwirkung ist […], dass Menschen, die dieses Medikament genommen haben, wahrscheinlich eine höhere Sterblichkeit haben werden.“
Problematisch ist auch die missbräuchliche Anwendung des Medikaments, die dazu führt, dass derzeit bundesweit alle Apotheken mit Lieferengpässen zu kämpfen haben. Aufgrund der geringeren Kosten des antidiabetischen Medikaments im Vergleich zu dem für die Abnehmtherapie zugelassenen Medikament, lassen es sich Betroffene vom Arzt für einen zulassungsüberschreitenden Einsatz verschreiben, dosieren es höher und erzielen dennoch die gleiche Wirkung: „[...] und das ist unser größtes Problem, dass wir unsere Diabetiker-Patienten, die das seit Jahren bekommen, nicht mehr adäquat versorgen können“, bedauert Schittenhelm.
Mit der letzten verbliebenen Verpackung endet das Kapitel Wegovy für Anna. Die Erkenntnisse über die Schattenseiten der Abnehmspritze haben sie zum Umdenken angeregt. Lange hat sie sich von den Versprechungen und Erfolgsgeschichten beeinflussen lassen, ohne sich der potenziellen Risiken und Nebenwirkungen bewusst zu sein. Nach ihren eigenen Erfahrungen mit den Auswirkungen hat Anna entschieden, ihre Gesundheit nicht länger zu riskieren. Statt weiter auf die Abnehmspritze zu setzen, möchte sie sich nun darauf konzentrieren, ihr neues Gewicht durch einen gesünderen Lebensstil zu halten, der von Selbstliebe und Selbstfürsorge geprägt sein soll und verabschiedet sich damit von der Vorstellung eines Wundermittels.