„Sei froh, dass du jetzt da bist, warum kümmert dich das noch?“
Ein Schicksal schwarz auf weiß
„Fast jede Nacht hatte ich diesen Traum: ich bereite alles vor, sammle die Papiere zurecht – doch es klappt nicht. Ich bleibe zurück.“ Tränen glitzern in Natalijas Augen. Darüber zu sprechen, was ihr vor fast 24 Jahren passiert ist, macht ihr noch heute zu schaffen – zu schwer wiegt die Frage nach dem „Warum“, auf die sie bis heute keine klare Antwort bekommen hat. Wir sitzen in ihrer Wohnung im ländlichen Baden-Württemberg – weit weg vom Ort des Geschehens, gemütlich eingepackt in selbstgestrickten Wollsocken in der angenehmen Wärme des schummrigen Wohnzimmerlichtes.
Mir gegenüber sitzt die Mutter eines Freundes. Er selbst wurde in Deutschland geboren, aber wenn man ihn zuhause besucht, ist allgegenwärtig, dass die Familie ursprünglich aus Kasachstan kommt: Es gibt hier Tschai und knusprige Chebureki-Teigtaschen und sehr viele Erzählungen über Sommerabende mit Kwas und Wodka in Kasachstan. Aus dem Fernseher im Wohnzimmer tönt ein Krimi in russischer Sprache, die Vitrine ist geschmückt mit glänzenden Deko-Stücken aus der Heimat.
Natalijas Lebensgeschichte macht aber viel mehr als die schönen Erinnerungen an die längst verlassene Heimat aus. Mit 30 Jahren ließ sie ihr altes Leben in Kasachstan zurück, um in Deutschland zu leben. Dazu berechtigt war sie, weil ihr damaliger Mann ein Russlanddeutscher ist – so werden die Nachfahren ehemaliger deutscher Siedler*innen auf russischem Staatsgebiet bezeichnet. Ein Schicksal, dass sie mit schätzungsweise 2,4 Millionen sogenannten Spätaussiedler*innen und deren Angehörigen teilt. Seit den 1970er Jahren reisten erstmals verstärkt russlanddeutsche Aussiedler*innen in die Bundesrepublik Deutschland aus. Mit dem Zerfall der Sowjetunion ab 1987 erhöhten sich diese Zahlen jedoch enorm. Heute gehört die Gruppe der Aussiedler*innen und Spätaussiedler*innen aus der ehemaligen Sowjetunion zu den größten Migrationsgruppen in Deutschland und gilt als erfolgreich integriert. Der Weg dahin war für viele von ihnen sehr beschwerlich. So auch bei Natalija.
Wer sind „Russlanddeutsche“?
Als Russlanddeutsche bezeichnet man die Nachfahren deutscher Kolonist*innen, die seit dem 18. Jahrhundert in verschiedene Teile des russischen Reiches einwanderten. Obwohl sich die Siedlungsgebiete der Einwander*innen sowohl geografisch als auch kulturell teils stark unterschieden, wird der Begriff seit dem 20. Jahrhundert als Sammelbegriff verwendet, da die Russlanddeutschen vor allem ihre gemeinsame Diskriminierungserfahrung verbindet. Besonders seit dem 1. Weltkrieg wurden die Russlanddeutschen mit Terror konfrontiert: so wurden sie während des Krieges als „innerer Feind“ angesehen und verfolgt. Zwar erlebten sie in den Folgejahren unter leninistischer Politik wieder Jahre der Mäßigung und konnten zeitweise als „Wolgadeutsche“ in einem autonomen Staat leben, doch unter der Regierung Stalins wurden sie ab 1937 erneut Opfer gezielter Terror-Operationen. Während und nach des Zweiten Weltkriegs wurden die Russlanddeutschen in den Osten des Landes deportiert. Hier entstand die sogenannte „Schicksalsgemeinschaft“ der Russlanddeutschen. Viele von ihnen emigrierten ab 1955 zunächst in die asiatischen Teile der Sowjetunion, unter anderem nach Kasachstan. Deshalb werden auch kasachische Spätaussiedler*innen, als Russlanddeutsche bezeichnet.
Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung, „(Spät-)Aussiedler aus den postsowjetischen Staaten“
Wenn die Heimat zerfällt
Natalija selbst hat keine deutschen Wurzeln. Sie wurde 1967 in einer kleinen Stadt in Kirgisistan geboren, doch zog bereits fünf Monate später mit ihrer Familie in das benachbarte Kasachstan. Die Familie lebte in ärmeren Verhältnissen, der Vater verstarb früh. Trotzdem beschreibt sie ihre Kindheit und Jugend in der Sowjetunion als gut, das Land sei stabil gewesen. Besonders die Zeit ihres Studiums ist ihr positiv im Kopf geblieben. „Das Studium war hart, doch diese Zeit war im Nachhinein eine der besten meines Lebens“. Als wir uns die vielen Schwarz-Weiß Fotos von damals ansehen, fängt Natalija an zu strahlen. Später findet sie eine Anstellung als technische Zeichnerin, heiratet und bekommt zwei Söhne. Warum also wollte sie ihre Heimat Kasachstan überhaupt verlassen?
Für Natalijas Familie und viele weitere Spätaussiedler*innen aus Kasachstan hatte der Weg nach Deutschland vor allem wirtschaftliche Gründe. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und Kasachstans Unabhängigkeit seit dem 16. Dezember 1991 erlebte das Land zunächst eine wirtschaftliche Rezession, da die ehemaligen Wirtschaftsverbindungen zu Sowjetzeiten nicht mehr existierten. Trotz Unabhängigkeit und neuer politischer Freiheiten, waren viele Bürger zunächst mit Armut konfrontiert. „Das war wie im zweiten Weltkrieg“, vertraut mir Natalija an. Leere Supermarktregale, nur ein Paar Stunden Strom am Tag und Leben von ein bisschen Brot, Nudeln und Wasser. Die Währung, für die Natalija arbeiten ging, war Brot. Mit etwas Glück konnte sie das später gegen ein bisschen Zucker tauschen. Die extrem kalten kasachischen Winter verbrachte die Familie vor der Öllampe. Natalija versteht den Zerfall der Sowjetunion bis heute nicht. „Sowjetnostalgie“ heißt das Phänomen, bei dem ehemalige Bürger*innen der Sowjetunion die Veränderungen ab 1991 nicht zwingend als positiv ansehen. Dieses Gefühl kann mehrere Gründe haben, betrifft aber vor allem Menschen, die nach dem Zerfall der Sowjetunion mit Armut konfrontiert waren und sich nach der vermeintlichen sozialen Sicherheit des sowjetischen Sozialismus sehnten.
Neben dem ständigen Hunger und der wachsenden Armut ereilte Natalija ein weiteres schweres Schicksal: im Juni 1996 verliert sie ihr ungeborenes drittes Kind. Ein Ärztefehler, erzählt sie mir mit Tränen in den Augen. „Ich habe mich gefühlt wie tot.“ Seit dem Vorfall wuchs die Angst um ihre zwei weiteren Kinder immer mehr, sagt sie. Entschlossen beantragt die Familie von Kasachstan aus die Ausreise nach Deutschland. Natalijas Mann kann seine deutsche Abstammung nachweisen. Diese berechtigt Natalija und die beiden Kinder laut dem deutschen Bundesvertriebenengesetz als Angehörige ebenfalls zur Ausreise. Die Familie bereitet sich vor: Das Haus ist verkauft, Natalija hat keinen Job mehr.
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Zwischen Schock und Abschied
Bereits im September erhält die Familie die Ausreisebescheide – doch dann der Schock: ein Name fehlt. Völlig unerwartet darf Natalija das Land nicht mit ihrer Familie verlassen. Sie zeigt mir den Bescheid der deutschen Botschaft, auch 24 Jahre später ist er ohne Knicke in einem dicken Ordner eingeheftet. Über diesen Bescheid hat sie sich bis heute unzählige Male den Kopf zerbrochen. Was ist hier schiefgelaufen? Natalija selbst glaubt an Betrug, mit den Dokumenten sei es nicht mit rechten Dingen zugegangen. Anders kann sie das Fehlen ihres Bescheides nicht erklären. Nachweisen kann das heute keiner mehr. Vergessen kann sie es nicht mehr.
Schweren Herzens bringt Natalija am Neujahrstag 1997 ihren Mann, die fünf und neun Jahre alten Söhne und ihre Schwiegereltern zum Bahnhof. Die Familie muss mit dem Zug ausreisen, die Fahrt nach Deutschland dauert fünf Tage. Mitten im kasachischen Winter. Das hysterische Weinen ihrer Kinder klingt ihr noch heute in den Ohren. Einsam und auf sich allein gestellt steht die junge Frau am Bahnhof – mit der Ungewissheit, ob und wann sie ihre Familie wiedersehen würde. Die schweren Monate der Ungewissheit übersteht sie, weil ein fremdes Ehepaar sie aufnimmt, bekocht und pflegt. Glücklicherweise besitzen ihre Helfer*innen ein Telefon, sodass ihre Kinder aus der Telefonzelle in Deutschland anrufen können. Drei Monate vergehen, bis auch Natalija ihren Ausreisebescheid erhält und ein Visum in Deutschland beantragen kann. Ende März 1997 gelingt die Ausreise und die Familie wird in einer bayerischen Kleinstadt wiedervereint.
Neue Heimat in Deutschland - endlich angekommen?
Ein Jahr nach ihrer Ausreise bringt Natalija im bayerischen Norsbach einen Sohn zur Welt. „Das war schon ein verrückter Zufall“, lacht sie. Die ersten neun Monate verbrachte die Familie in einem Heim für Spätaussiedler*innen. Das war vor allem Anfang der 90er Jahre für viele Betroffene Realität, da in diesem Zeitraum die Auswanderungszahlen besonders hoch waren. „Für viele (Spät-)Aussiedler*innen wurde dieses Aussiedlerheim zu einem besonderen Ort, einem Übergangsraum, der eine Zwischenstation zwischen der `alten‘ und der `neuen‘ Heimat darstellte“, erklärt das Museum für Russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold. Die Familie lebte hier in einem Zimmer, fast jeden Tag reisten Busse mit neuen Spätaussiedler*innen an, erinnert sich Natalija. „Aber wir hatten Essen.“ Trotzdem lässt sie das Dilemma um ihre Einreise nicht los. Mehrfach erkundigt sie sich beim ortsansässigen Standesamt nach ihrem Fall und spricht später auch im deutschen Sprachkurs über ihre Geschichte. „Sei froh, dass du jetzt da bist, warum kümmert dich das noch?“, habe ihr ein Sprachlehrer entgegengeschmettert. In diesem Zeitraum beginnen Natalijas Albträume. Fast 16 Jahre träumt sie jede Nacht von der verwehrten Ausreise und erlebt die Gefühle der Zurückweisung immer und immer wieder – obwohl sie schon lange in Deutschland ist. Ihre Psychotherapeutin bestätigt ihr später die stressbedingte Belastungsstörung.
"Wenn ich das überstehe, gehe ich weg."
Natalijas Odyssee endet nicht mit der sicheren Ankunft im bayerischen Norsbach, dort lebt sie inzwischen schon lange nicht mehr. Als die Familie in die erste eigene Wohnung zieht, beginnen die Probleme. Natalijas Mann schlägt sie so brutal, dass sie die Auswirkungen der Prügelattacken noch heute spüren kann. Als sie mir ein Foto zeigt, dass ihr Sohn nach einem Angriff geschossen hatte, um die Peinigung seiner Mutter beweisen zu können, werden wir für einen kurzen Moment ganz still. Noch heute kann sie sich an den blutigen Wohnungsflur erinnern. Als sie nach einer Prügelattacke sogar ins Krankenhaus muss, fasst sie den Entschluss: wenn ich das hier überstehe, gehe ich weg. Kurze Zeit später besorgt ihr eine Freundin einen Platz im Frauenhaus. Weit weg in Niedersachsen, dort wo Natalijas Ex-Mann sie niemals finden sollte. In einer Nacht- und Nebelaktion fahren Natalijas Arbeitskolleg*innen und Freunde die junge Frau und ihre drei Söhne in einem Kleinbus ins 500 Kilometer entfernte Frauenhaus. Nach vier Monaten können sie bereits in die erste eigene Wohnung ziehen. Mutter und Söhne sind hier zwar in Sicherheit, doch die Angst vor dem gewalttätigen Ex-Mann verfliegt nicht. Er kann den Aufenthaltsort von Natalija ausfindig machen, weil die ehemalige Schule seiner Söhne in Norsbach den Vater kontaktiert. Die nächsten Jahre sind gezeichnet von zahlreichen Gerichtsterminen und Anhörungen, in dem der Vater den Kontakt zu seinen Kindern erzwingen will. „Mein jüngster Sohn hat jedes Mal im Gericht geweint. Er hat ihm vor der Schule aufgelauert“, erinnert sich Natalija. Erst Jahre später bricht der Kontakt endgültig ab.
„Wenn Leute meine Geschichte hören, fangen sie an zu weinen. Das ist wie ein Horrorfilm“. Heute lebt Natalija in Baden-Württemberg. Ihre Söhne sind erwachsen und haben studiert. Darauf ist sie ganz besonders stolz. „Ich hatte ein schwere Zeit, sogar mehrere. Aber heute kann ich sagen: Ich habe es geschafft. Bei allem habe ich immer an meine Kinder gedacht“, lächelt sie. Fast drei Stunden haben wir uns unterhalten. Müde und erschöpft lehnen wir uns zurück. Auf dem Wohnzimmertisch liegen Natalijas unzählige Fotos. Trotz aller schlimmen Erlebnisse hat sie mindestens ebenso viele schöne Erinnerungen an ihr Leben. Strahlend erzählt sie von den feinen Schuluniformen ihrer Jugendvon all den Freund*innen, die sie auf ihrem Weg gesammelt hat, von ihren verschmitzt lächelnden Kindern, deren Fotos das halbe Album zieren. Vor mir sitzt keine zerbrochene Frau, sondern eine starke. Von der abgelehnten Ausreise hat sie zuletzt 2013 geträumt.
Der Name der Protagonistin sowie detaillierte Ortsbeschreibungen wurden zum Persönlichkeitsschutz der Protagonistin verändert. Die echten Namen sind der Redaktion bekannt.