„Insgesamt ist die psychische Beanspruchung der Studierenden durch die Pandemie definitiv gestiegen.“
Wie die Corona-Pandemie das Studium beeinflusst
Es ist der 12. März 2020 an der Hochschule der Medien in Stuttgart. Knapp 50 Studienanfänger*innen aller Studiengänge nehmen am Mathe-Vorkurs der Hochschule teil. In vier Tagen soll ihr erstes Semester beginnen, im Vorkurs letzte Lücken geschlossen werden. Schon mal die Hochschule auskundschaften, erste Bekanntschaften machen. Kurz nach der Mittagspause blinken die Smartphones: „Eilmeldung – Semesterstart in Baden-Württemberg aufgrund des neuartigen Corona-Virus verschoben.“ Verwunderung und Fassungslosigkeit gehen im Jubel unter. „Dann lass heute doch noch in die Studentenbar!“ Keiner weiß, dass dieser Tag 12. März ihr letzter Tag in der Hochschule gewesen sein sollte.
Das Sommersemester 2020 kam für die Studierenden unverhofft: Das Bewerbungsverfahren lief bereits im Vorjahr 2019, eingeschrieben hatten sie sich, als gerade einmal vereinzelte Corona-Fälle in Europa bekannt wurden. Viele von Ihnen waren bereits umgezogen, um ihr Studium in Präsenz zu verbringen. Deutschlandweit waren 71.658 Erstsemester-Studierende vom Online-Start betroffen.
Die geschlossenen Hochschulen sorgten dafür, dass im Sommersemester 2020 der Studienbetrieb für Vorlesungen komplett auf digitale Lehre umgestellt wurde. Anfangs gingen viele Hochschulen noch von einem lediglich verspäteten Semesterstart aus, doch im Semesterverlauf wurden maximal für Laborpraktika und Prüfungen die Türen zu den Hörsälen geöffnet. In den folgenden Semestern versuchten die Bundesländer, je nach Infektionslage, eine Mischung aus Online-Lehre und Präsenzveranstaltungen unter Auflagen zu ermöglichen. Ob diese Möglichkeiten genutzt wurden, entschieden die Hochschulen selbst. Durch die dynamische Lage der Pandemie fand der Großteil der Veranstaltungen dennoch weiterhin digital statt. Erst mit Beginn der zweiten Jahreshälfte 2021 und der steigenden Impfquote in der Bevölkerung wurde eine Rückkehr in den Präsenzbetrieb möglich. Trotzdem fanden weiterhin viele Vorlesungen online statt, insbesondere an großen Universitäten.
Anders als im Sommersemester 2020 waren zukünftige Abiturient*innen und Studienanwärter*innen bereits mit den Auswirkungen der Pandemie und der Online-Lehre vertraut. Zwar ging man im Sommer 2020 mit niedrigen Inzidenzen zunächst von einem Präsenzstart ins folgende Wintersemester aus, doch spätestens im mit dem Winter einhergehenden und in den Frühling andauernden Lockdown light bedeutete Studieren wieder vor dem Laptop sitzen. War ein Studium anzufangen damit überhaupt noch attraktiv?
Längeres Studium, dafür weniger neue Studierende
Im mittlerweile vierten Corona-Semester werden die Auswirkungen der Pandemie auf die Studienanfänger*innen deutlich: Im direkten Vergleich der Erstsemester im Wintersemester 21/22 zum Vergleichsjahr 19/20 sank die Zahl an neu aufgenommenen Studien in fast allen Bundesländern um bis zu 24 Prozent. Natürlich spielen neben der Pandemie auch Faktoren wie die Anzahl der Abiturient*innen oder das derzeitige Studienangebot eine große Rolle. Ausnahme: In Thüringen war ein Wachstum um 39 Prozent zu beobachten. Dies ist laut Statistischem Bundesamt auf die Umsiedlung einer großen Fernuniversität nach Erfurt zurückzuführen und fällt daher aus der Statistik heraus.
Neben den Erstsemestern wirkt sich die Pandemie auch auf die restlichen Studierenden aus. Die Umstellung auf eine neue Lernumgebung bringt auch für sie viele Herausforderungen mit sich. Dennoch sind die Zahlen der Studierenden in den vergangenen Sommer -und Wintersemestern jeweils leicht gestiegen – trotz sinkender Erstsemester-Zahlen. In der Corona-Pandemie verlängern viele Studierende ihr Studium – denn psychische Probleme, finanzielle Sorgen und fehlende Möglichkeiten, ihre Prüfungen abzulegen, beeinträchtigen den normalen Studienverlauf. Das erkannte auch die Politik: In allen Bundesländern wurde die Regelstudienzeit um alle drei Corona-Semester erhöht, über eine vierte Erhöhung wird inzwischen nachgedacht.
Psychische Beanspruchung der Studierenden steigt
Die Verlängerung der Regelstudienzeit in den meisten Bundesländern kann zwar die Studierenden entlasten, allerdings hinterlässt die Corona-Pandemie trotzdem Spuren in der Psyche. Das beobachtet auch Diplom-Psychologe Stefan Balz von der psychotherapeutischen Beratungsstelle Tübingen: „Insgesamt ist die psychische Beanspruchung der Studierenden durch die Pandemie definitiv gestiegen.“ Was vielen sehr schwergefallen sei, war sich zu strukturieren, sich zum Arbeiten zu motivieren und längerfristige Ziele zu verfolgen.
Nach einem Jahr Pandemie stiegen 2021 auch die Anmeldungen zur psychologischen Beratung beim Studierendenwerk Tübingen stark an. In den Quartalen drei und vier des Jahres 2021 (insgesamt 726 Anmeldungen) überstieg die Zahl der Anmeldungen den Vergleichszeitraum des Vor-Pandemie-Jahres 2019 (insgesamt 467 Anmeldungen) um 55 Prozent.
Doch bereits nach dem ersten Online-Semester 2020 deutete sich die zunehmende Beanspruchung der Studierenden an. Dies geht aus einer Befragung des Forsa-Instituts im Auftrag der Techniker Krankenkasse hervor. Demnach konnten zwar 84 Prozent der 303 befragten Studierenden gut mit den Online-Angeboten umgehen, 54 Prozent der Studierenden strengte digitale Kommunikation jedoch an. Bereits 47 Prozent fiel es im Oktober 2020 schwer, sich zum eigenständigen Arbeiten zu motivieren.
Seitdem hat sich der Umgang mit dem vorwiegend digitalen Studium kaum verbessert. „Es ist vielen sehr schwergefallen, eigenständig zu arbeiten, weil ja auch die ganzen öffentliche Lernorte wie Bibliotheken oder Instituten phasenweise zu oder nur mit eingeschränkten Kapazitäten verfügbar waren. Viele waren dann darauf angewiesen, alles in ihren eigenen vier Wänden hinzubekommen, was viele Studierende sehr überfordert hat und immer noch überfordert“, berichtet Stefan Balz.
Studierende werden in der Pandemie kaum berücksichtigt
Die Datenlagen zu den Auswirkungen der Pandemie auf die mentale Gesundheit von Studierenden bleibt dünn. Gleichzeitig legte die Regierung bei der Corona-Politik eher den Fokus auf Schüler*innen, wo auf Präsenzunterricht bestanden wurde. Stefan Balz findet, es wäre wichtig, die Studierenden einfach ein bisschen mehr auf dem Schirm zu haben: „Man sollte doch auch mehr Priorität darauflegen, dass Hochschulen so lange wie möglich und so früh wie möglich im Normalbetrieb laufen. Normalbetrieb an der Hochschule ist und wird auch in Zukunft Präsenzbetrieb sein.“
Trotz steigender Corona-Zahlen und der hoch ansteckenden Omikron-Variante sieht es im Moment so aus, als wäre an den Hochschulen weiterhin Präsenzbetrieb möglich. Wie sich die Pandemie weiterentwickelt und wann Vorlesungen ohne Einschränkungen stattfinden können, ist abzuwarten. So lange bleiben besonders niederschwellige psychologische Beratungsangebote wichtig, so Balz. Besonders an der Kommunikation könne man noch viel verbessern, sodass man mehr auf solche Angebote hingewiesen wird. „Vielleicht ist es auch wichtig, dass alle sich klarmachen, man sitzt im selben Boot und gibt aufeinander acht.“
Wenn du selbst psychologische Hilfe oder Beratung benötigst, kannst du dich an folgende Stellen wenden: