„Beide haben irgendwie Recht“
Keyenberg, 14. Januar, kurz vor 10 Uhr. In zwei Stunden soll es losgehen. Doch das „Unser-Aller-Camp“ ist schon komplett voll. Das Lager quillt über die Grenzen des Bolzplatzes. Überall stehen Zelte. Es regnet, stürmt. Manche Planen flattern nur noch lose an ihrem Stangen-Skelett. Trotzdem sind tausende Menschen hier, um für ihre Überzeugung einzustehen. Manche werden heute versuchen, Grenzzäune und gesetzliche Grenzen zu durchbrechen.
Katharina will dagegen mit ihrem achtjährigen Sohn nur friedlich demonstrieren. Mitten im Camp ist sie umgeben von Matsch, der sich an den Schuhen festsaugt, von anderen Demonstrierenden und von vereinzelten Vermummten. Die beschmieren ihre Finger mit schwarzem Kleber und Glitzer. Fingerabdrücke zu nehmen soll unmöglich werden. Reden wollen diese Leute nicht.
Auch Katharina rüstet sich – allerdings nur gegen das Wetter: Stülpt dicke Socken über, bevor sie in kniehohe Gummistiefel steigt. Mütze auf, Regenjacke an, den kleinen Maxi fest an der Hand. Sie ist gestern mit ihm aus Norddeutschland angereist.
Manche sind dagegen schon Wochen hier, andere Jahre. Die Initiative „Lützerath lebt!“ beginnt, als der Energiekonzern RWE im Juli 2020 die Landstraße L277 abreißt, um den Tagebau Garzweiler zu erweitern. Auch das mittlerweile unbewohnte Dorf Lützerath soll aufgebaggert werden, um die Braunkohle darunter zu fördern.
Im Camp haben sich weitere Organisationen angeschlossen, um an diesem Tag zu demonstrieren. Außerdem sind viele privat gekommen. Die Polizei rechnet mit 8 000 bis 10 000 Menschen, die Initiative spricht später von 35 000.
Katharina ist eine von ihnen und will unbedingt an die Abbruchkante des Tagebaus. Sie möchte das Ausmaß dessen sehen, wofür sie heute hier ist. Dass dieser Wunsch wohl nicht wahr wird, ist ihr bewusst. Maxi steht neben ihr und schaut sich die Abdrücke an, die seine Stiefel im Matsch hinterlassen. Die dicke Bommelmütze rutscht Katharinas Sohn fast über die Augen. Wegen der Kälte hat der Junge die Innenärmel seiner Skijacke fest um seine Hände geknüllt.
Offiziell vertritt Katharina heute ihre Firma, ein umweltschonendes Energieunternehmen. Neun nachhaltige Firmen haben sich unter dem Hashtag „UnternehmenKlimaschutz“ zusammengefunden, um für das Einhalten des Pariser Klimaabkommens zu protestieren.
Pariser Klimaabkommen
Bei der Weltklimakonferenz in Paris im Jahr 2015 haben 195 Staaten beschlossen, den Klimawandel einzudämmen und den Temperaturanstieg im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter auf maximal zwei Grad Celsius zu begrenzen.
Um das zu erreichen, soll die Welt ab 2050 treibhaus-neutral sein. Das heißt, dass alle Länder nur noch so viel CO2 ausstoßen dürfen, wie Wälder und ähnliches entziehen können. Obwohl sich alle Staaten der Erde völkerrechtlich verpflichtet haben, ist der Klimaschutz-Fortschritt überschaubar.
Kurz vor 11 Uhr. Die Mitglieder von „#UnternehmenKlimaschutz“ treffen sich und gehen gemeinsam zur Demo. Ein schnelles Medienbriefing vorneweg, schließlich sind heute alle im Namen ihres Arbeitgebers hier.
Zuerst wollten die Verantwortlichen der Demo nicht, dass die Unternehmen kommen. Sie würden mit ihrer Teilnahme nur Greenwashing betreiben wollen. Das weisen die Firmen, die zum Teil nicht nur klimaneutral, sondern klimapositiv sind, deutlich zurück. Für Katharina geht es außerdem um etwas ganz Persönliches: „Ich mache mir um die Zukunft meiner Kinder große Sorgen“, gesteht sie mit schwerer Stimme und wendet sich kurz ab. Als sie im fünften Semester ist, wird sie mit Maxi schwanger. Da beginnt bei ihr das Umdenken. Heute lebt sie mit ihrer Familie vegan, hat ihren Job gewechselt, um etwas „Sinnvolles“ zu machen. Ihre Familie fliegt nicht in den Urlaub, ist dafür mit zwei Kindern und Hund mit dem Auto unterwegs. „Jeder muss schauen, was er leisten kann.“
Und obwohl sie weiß, dass es einzelne gibt, die über die Stränge schlagen wollen, hat sie Maxi mitgebracht. Der Klimawandel gefährde nicht nur das Hier und Jetzt ihrer Söhne. Das sollen sie schon früh verstehen: „Meine Kinder können gerne sehen, dass man sich engagieren muss, wenn man für eine lebenswerte Zukunft kämpfen möchte. Natürlich friedlich."
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Heute geht es Katharina nicht darum, Lützerath zu erhalten. Das Dorf ist bereits zu großen Teilen abgerissen, am Vorabend hat die Polizei die letzten besetzten Baumhäuser geräumt. Jetzt harren nur noch zwei Demonstrierende in einem Tunnel aus. Doch Katharina will Aufmerksamkeit auf das Thema lenken und erreichen, dass die Kohle unter Lützerath bleibt, wo sie ist.
Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung braucht man die Kohle unter Lützerath nicht, wenn man eine am 1,5 Grad-Ziel orientierte Klimapolitik betreibt. Auch ohne die Lützerath-Kohle sei dann sogar eine Reserve vorhanden. Eine von RWE beauftragte Firma hat verschiedene Szenarien durchgespielt und kam dagegen zu dem Schluss: Ohne diese Kohle würden mindestens 17 Millionen Tonnen fehlen.
Es geht los
Katharina war mit ihren Söhnen schon bei Protesten von Fridays for Future in Hamburg. Trotzdem grübelt sie: Hier sind kurz vor Demobeginn nur wenige Kinder da. Von Bekannten wurde sie erstaunt angeschaut, als sie erzählte, dass sie Maxi zu diesem Protest mitnimmt.
12 Uhr. Die Demo holt Katharina und Maxi unvermindert ein. Ein großer Lieferwagen schleicht langsam vorbei. Die Planen sind zurückgezogen und geben den Blick auf eine improvisierte Bühne frei. Dort stehen einige Teilnehmende, tanzen zur Musik, die aus großen Boxen schallt und unterhalten sich mit fröhlicher Miene. Vor der Demo fährt ein Polizeiwagen her, eskortiert von weiteren Einsatzkräften.
Maxi versteht nicht, warum die Polizei vorneweg fährt: „Ich dachte wir wollen der Polizei mit der Demo was sagen und rennen der nicht hinterher!“
Es wird deutlich: Das Feindbild verschwimmt. Protestierende richten sich hier gegen den Ausbau eines Kraftwerks der RWE. Gegen einen mit der Politik ausgeklügelten Deal. Doch an den Grenzzäunen und am Rande der Demo wacht kein Robert Habeck oder Markus Krebber. Hier stehen Polizeiangehörige, Menschen in Uniform, die ihren Auftrag ausführen. Warum sie sich nicht auf die Seite von etwas Gutem wie Klimaschutz stellen, fragen sich einige.
Dabei finden auch viele Polizeiangehörige Klimaschutz wichtig. Ihre Meinung vor ihren Auftrag stellen, können sie als exekutiver Teil einer Demokratie trotzdem nicht.
Der Kohle-Deal im Rheinischen Revier
Der Energiekonzern RWE hatte sich im Oktober 2022 mit den grünen Wirtschaftsministerien Nordrhein-Westfalens und des Bundes geeinigt: Der Konzern zieht den Kohleausstieg im Rheinischen Revier auf 2030 vor. Fünf Dörfer, die abgebaggert werden sollten, bleiben. Dafür muss Lützerath weichen.
Die Grünen sprechen von einem Erfolg für den Klimaschutz und argumentieren mit der Versorgungssicherheit infolge des russischen Angriffskriegs. Viele sehen in der Vereinbarung einen schmutzigen Deal.
Doch die Fronten sind verhärtet. Bilder in den Medien, die nur eine aus dem Zusammenhang gerissene Sekunde zeigen, vergrößern das Misstrauen in Protest- wie in Polizeiangehörige. Zu zivilem Ungehorsam haben mittlerweile viele eine starke Meinung.
Aktivistin Fenja steht klar auf einer Seite. Durch ihre Eltern wurde sie früh Teil von Klimaprotesten. Mit ihrer zierlichen Figur, einer leisen Stimme und der großen Brille wirkt sie unscheinbar. Doch sie gehört zu den Menschen, die es für legitim halten, Gesetze zu brechen. Für Lützerath.
Damit schließt sie sich einer langen Tradition an. Ziviler Ungehorsam versucht, durch gezieltes Brechen von Gesetzen, Ungerechtes zu beenden. Die theoretische Grundlage schuf Henry David Thoreau. Er erklärte 1849 in seinem Essay Civil Disobedience aus moralischen Gründen gegen den Sklavenhandel zu sein und deshalb keine Steuern zu zahlen. Eine verschärfte Form des Protests. Gegen den Staat. Gegen die Staatsgewalt.
Katharina sucht keine Konfrontation mit der Polizei. Außerdem verursacht die starke Präsenz der Einsatzkräfte bei ihr ein mulmiges Gefühl: „Als wir gestern ankamen, als wir bettfertig im Auto lagen und als wir heute Morgen aufwachten, standen die ganze Zeit unterschiedliche Polizeiwägen im Schichtsystem neben uns.“ Zivilen Ungehorsam kann sie zum Teil nachvollziehen, nimmt sich selbst aber raus: „Ich bin als Vorbild für meine Kinder hier. Außerdem glaube ich, wir müssen Menschen begeistern. Ich verstehe aber, dass uns die Zeit davonläuft.“ In ihrer Familie war sie die Erste, die sich engagierte und irgendwann auf die Straße ging. Begleitet wird sie von ihren Kindern. Freiwillig. Auch, wenn sie die Motivation ihrer Mutter noch nicht ganz verstehen.
Einige, die heute hier sind, waren wie Katharina die Ersten. Viele waren schon früher aktiv. Die Allermeisten wollen nur einen friedlichen Protest.
Einige Polizeiangehörige, die heute hier sind, haben ihren ersten Großeinsatz. Viele waren schon im Hambacher Forst dabei. Die Allermeisten wollen nur ihren Job machen.
Kante
Der Protest schiebt sich schleppend voran und lässt an einer Landstraße Keyenberg hinter sich. Links und rechts erstreckt sich weites Feld. Der Wind pfeift und peitscht den beißenden Regen in die Ohren. Neben dem Windsausen hört man die Rotorblätter eines Hubschraubers, der über allen in der Luft schwebt. Kälte kriecht den Nacken hinab und durchdringt alles. Doch die Leute skandieren weiter:„Kohlekonzerne baggern in der Ferne, zerstören unsere Umwelt nur für ’nen Batzen Geld! Worin wir unsere Zukunft sehen? Erneuerbare Energien!“
Die Demo schlägt seitlich an Windrädern vorbei, die sich ungerührt in der Ferne drehen. „Ist da vorne die Kante, Mama?“ Auf mehreren Wegen und quer übers Feld laufen die Menschen. Polizeiwägen, Pferde und Einsatzkräfte flankieren die Ränder der Menschenflüsse, die auf einem Platz aus Schlamm zusammenkommen. Auch Katharina steuert mit Maxi darauf zu. Die beiden waten einen kurzen Hang hinauf, um zu sehen, worauf hier alle starren. Dann stehen sie am Abgrund. Überblicken ein riesiges Dreckloch an dessen Grund sich ein paar Menschen und LKW bewegen. An einem Ende des Lochs thront ein Kohlebagger, der die Menge zu seinen Füßen weit überschattet.
Katharina ist still und kann nicht fassen, was sich ihr darbietet. Als sie anfängt zu sprechen, kommen die Worte stockend: „Dass man sowas einfach hinnimmt … Alternativen werden einfach zur Seite geschoben … Das ist … Ich finde jeder sollte mal vor so einem Loch gestanden haben.“
Katharina und Maxi staunen noch eine Weile an der Kante. Um sie herum Menschen jeden Alters, die sich unterhalten oder ihr Mittagessen auspacken. Auf einer Bühne kündigt ein Redner Greta Thunberg an. Ab und zu sieht man Raketen auf den Kohlebagger zufliegen. Irgendwann schlittert eine Aktivistin die Grube hinunter. Ob freiwillig oder abgerutscht, weiß man nicht. Kleine Gruppen ziehen vorbei. Zielstrebig, schwarz gekleidet, vermummt. Sie brüllen: „Auf nach Lützerath!“
Alles friedlich?
Nach 14:30 Uhr. Maxi ist müde, er und seine Mutter sind durchgefroren und müssen noch fünf Stunden nach Hause fahren. Als sie sich von den anderen ihrer Gruppe verabschiedet haben, gehen sie zurück. Da immer noch viele Menschen zur Abbruchkante strömen, stapfen Mutter und Sohn seitlich des befestigten Wegs. Jetzt sehen sie viele Familien mit teilweise noch jüngeren Kindern.
Dann hören sie Martinshörner. Mehrere Krankenwagen fahren von Keyenberg Richtung Kohlegrube. Katharina überlegt kurz, was passiert sein könnte, doch die Anspannung vom Vormittag ist längst weg. Sie hatte sich vorwurfsvolle Blicke eingehandelt, weil sie ihren kleinen Sohn mit zu dieser Demo nimmt. Doch diese Demo war für die beiden friedlich. „Ich freue mich, dass so viele Leute gekommen sind, dass sogar die Autobahnen überlastet waren. Wir konnten uns zu jedem Zeitpunkt sicher fühlen. Dafür bin ich sehr dankbar.“
Während Katharina den Tag im Camp revuepassieren lässt, kommt es beim Protest zu Ausschreitungen. Laut Polizei seien mehrere tausend Menschen um die Demonstration herum- und direkt auf die Polizeiketten zugelaufen. Die Protestierenden hätten sie mit Steinen und Feuerwerkskörpern attackiert. Eine Sprecherin von „Lützerath lebt!“ spricht dagegen von Polizeigewalt und Schlägen mit dem Knüppel auf den Kopf. Sie sehe es nicht als Aufgabe der Polizei, Klimazerstörung voranzutreiben. Auf beiden Seiten werden Verletzte im Krankenhaus behandelt.
Es gibt keine genauen Zahlen über Gewaltaktionen bei Klimaprotesten. Doch schon die allgemeinen Daten sind beunruhigend. Laut Bundeskriminalamt gab es 2011 27 850 Vergehen gegen Einsatzkräfte. Zehn Jahre später waren es 39 649.
Bei Polizeigewalt ging man bisher von ca. 2 000 Fällen pro Jahr aus. Eine Studie der Ruhruniversität Bochum zeigt, dass die Zahl mindestens fünfmal höher sein könnte.
Erfolg trotz Eskalation
Zwei Wochen nach dem Protest. Katharina ist noch immer überzeugt: Der Protest war ein Erfolg. „So eine Demo gibt mir immer Hoffnung. Hoffnung, dass es doch genug Leute gibt, denen das Thema wichtig ist, dass man nicht allein ist.“
Sie findet aber, dass in den Medien vor allem die Krawalle besprochen wurden. Auch Maxi hat von den Auseinandersetzungen gehört. Als ihn seine Freunde in der Schule danach fragen, erzählt der Achtjährige stolz davon, als sei er mittendrin gewesen. Katharina muss daraufhin erst einmal klarstellen, dass die beiden von dem Aufruhr gar nichts mitbekommen haben. Der Enthusiasmus ihres Sohns untermauert aber ihre Ansicht: Durch die gezielte Berichterstattung werde die Aufmerksamkeit vom größten Problem, dem Klimawandel, abgelenkt.
Die Frage nach denen, die angefangen, die übertrieben haben, ist ungeklärt. Was Katharina denkt? Sind radikale Klimaschützende an der Eskalation schuld? Oder ging die Polizei zu hart vor?
„Ich denke, beide Seiten haben irgendwie recht.“