„Was mit ihnen ist, wissen wir nicht. Sie sind nicht zurückgekommen.“
Ukraine-Krieg rüttelt alte Sorgen wach
In den 80er-Jahren kamen eine Million Polinnen und Polen langfristig nach Deutschland. So auch 1981 die Großeltern der Autorin. Alicja und Waldemar sprechen gutes Deutsch, das sie sich zum großen Teil selbst beigebracht haben. Doch das rollende „R“ ist bis heute geblieben.
Warum seid ihr damals nach Deutschland gekommen?
Waldemar: Zuerst haben wir gar nicht gedacht, dass wir auswandern. Am Anfang bin ich drei Monate lang allein mit einem Touristenvisum zum Arbeiten gekommen. Februar 1981. Für Zloty (Anmerkung der Autorin: Zloty = polnische Währung) hast du in Polen nichts bekommen, nur Essig. Eine Sorte Essig. Für den Rest brauchte man Lebensmittelkärtchen. Und auch damit musstest du Schlange stehen und Glück haben. Es gab aber separate Supermärkte, in denen du mit Dollar oder Mark bezahlen konntest. Harte Währung, wie man das nannte. Dafür bin ich nach Deutschland gekommen.
Und dann wieder zurück nach Polen?
Waldemar: Ja, aber ich habe direkt geschaut, dass ich nochmal für drei Monate zurück nach Deutschland kann. Im Oktober bin ich wieder gefahren. Oma war schwanger und wollte vor der Geburt zu mir kommen. Wir hatten zwar den Hintergedanken: „Wir bleiben hier“, aber da war kein fester Plan.
Alicja: Es wurde aber immer schlimmer mit der Solidarność. An dem Tag als das Kriegsrecht kam, bin ich hochschwanger zu Opa gefahren.
Die Solidarność-Bewegung
Die Solidarność war die größte nicht-staatliche Gewerkschaft des Ostblocks. Sie ging 1980 aus antikommunistischen Protesten hervor. Die Anhänger strebten nach Demokratie und Freiheit für Polen. Nach ersten Erfolgen wurde die Gewerkschaft radikaler, sodass am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht verhängt wurde. Damit wurde die Solidarność verboten, viele Mitglieder verhaftet und die errungenen Fortschritte, wie beispielsweise das Streikrecht, zurückgenommen. Es ist unklar, ob die politische Führung aus kommunistischer Überzeugung gehandelt hat. Oder um Polen vor einem russischen Einmarsch zu schützen.
Waldemar: Und am 13. Dezember um genau 12 Uhr war Oma schon in Berlin. Wegen der Situation in Polen haben wir dann an Weihnachten entschieden zu bleiben.
Hattet ihr Kontakt zur Solidarność?
Alicja: Nein, wir haben in Legnica gewohnt. Da hast du nicht viel davon mitbekommen. Aber wir hatten Angst davor, dass sowas passiert wie jetzt in der Ukraine! Dass Russland kommt und sich einmischt.
Polen gehörte nach dem zweiten Weltkrieg zum Ostblock und war somit Russland untergeordnet. So ging es allen Staaten, die dem osteuropäischen Militärbündnis des Warschauer Pakts angehörten. Wie hat man die Präsenz der Russinnen und Russen wahrgenommen?
Waldemar: Wir in Legnica haben unsere Stadt zweites Moskau genannt. 40 Tausend Russen haben da in einer großen Kaserne gelebt. Sie hatten ihre eigenen Geschäfte und alles. Wir durften da nicht rein.
Alicja: Als ich jung war – so 15 oder 16 – sind mein Bruder und ich durch Löcher im Zaun rein. Damals konnte ich gut russisch und wir haben in den Läden alles bekommen. Fleisch, Mehl, alles! Bei uns draußen gab es gar nichts. Mit Russen und Polen ist es aber schon immer schwierig gewesen. Die polnische Regierung war zwar kommunistisch, Russland haben wir damals trotzdem immer als Feind gesehen.
Polnisch-Russisches Verhältnis
Bereits im 18. Jahrhundert fiel ein Teil Polens an das Zarenreich. Zarentum war die offizielle Bezeichnung der russischen Staatsform zwischen 1547 und 1721.
Der repressiven Russifizierungspolitik begegneten die Polinnen und Polen mit Aufständen. Erst durch den Versailler Vertrag nach dem ersten Weltkrieg wurde Polen 1918 wieder unabhängig. Im September 1939 überfielen Deutschland und die Sowjetunion das Land. 1940 befahl Stalin die Ermordung von 25 Tausend polnischen Kriegsgefangenen und ging auch sonst hart gegen das Volk vor. Im zweiten Weltkrieg starben insgesamt 5,6 Millionen Polinnen und Polen.
Beim Anblick der ukrainischen Kriegsbilder: Kann man das mit dem Verhalten der russischen Soldaten euch gegenüber vergleichen, als ihr noch in Polen wart?
Waldemar: Nein, absolut nicht. Sie waren immer freundlich. Die Soldaten wurden bei jedem Vergehen – und wenn es nur ein Autounfall war – wieder nach Russland geschickt. Die Zustände dort waren nicht vergleichbar mit Polen. Bei uns hatten sie alles, eine Oase.
Deswegen sind sie euch freundlich begegnet.
Waldemar: Ja, aber ich habe auch auf einer Obstplantage mit Russen zusammengearbeitet. Sie kamen mir schon etwas primitiv vor. Das heißt, sie haben viel gesoffen und wenn sie dann in die Felder gingen, war es ein Chaos. Die Hälfte haben sie kaputtgetreten. Sonst waren sie aber nett.
Und wenn ihr jetzt hört, dass Waffen in die Ukraine geliefert werden – Was sagt ihr dazu?
Alicja: Russland geht meiner Meinung nach heute schlimmer vor als damals im zweiten Weltkrieg. Ermordete Kinder, alles ist kaputt. Ich denke, die Waffenlieferungen sind richtig. Die Ukraine muss sich wehren, es geht nicht anders. Sonst muss man befürchten, dass Putin noch weitergeht.
Habt ihr persönliche Beziehungen in die Ukraine?
Alicja: Ja, mein Stiefvater war Ukrainer und seine Familie lebt in der Nähe von Cherson.
Russische Truppen beschießen seit Tag eins Cherson von der Krim aus und halten die Kontrolle über die Stadt. Ist seine Familie noch dort?
Alicja: Aus der Ukraine raus haben sie es nicht mehr geschafft. Aber sie sind aufs Land geflohen und dort einigermaßen sicher. Russische Soldaten waren zwar dort, aber es ist nichts passiert. Zwei von der Familie wollten zurück in die Stadt, um ihre Rente abzuholen. Was mit ihnen ist, wissen wir nicht. Sie sind nicht zurückgekommen.
Das heißt, ihr habt selbst Verwandte in der Ukraine. Was wünscht ihr euch in diesem Wissen für die Ukraine?
Waldemar: Dasselbe, was wir uns damals für Polen gewünscht haben. Dass Russland die Länder in Ruhe lässt, die es nichts angehen. Krieg ist das Schlimmste, was passieren kann. Es ist egal, was wir hier für den Frieden zahlen müssen. Hohe Benzinpreise, wen interessiert das? Alles ist besser, als diesen Krieg zu führen. Menschenleben sind das Wichtigste. Alles andere…
Alicja: … ist nichts.
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Die Beweggründe polnischer Migrant*innen, ihre Heimat in den 80er-Jahren zu verlassen, waren vielseitig. Jahrzehnte später muss Polen selbst mit einer Flüchtlingsbewegung aus der Ukraine umgehen. Über diese Themen hat die Autorin mit Polen-Experte Matthäus Wehowski gesprochen. Hört gerne rein!